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Im Wartezimmer

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14.05.2008
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Im Wartezimmer

»Wie wäre es denn mit einem Kaffee?«
»Sehr gerne«, antwortete ich und blickte der jungen Dame hinterher.
Im Wartezimmer hatten drei weitere Männer und eine ältere Frau Platz genommen, sie alle hatten das grell beleuchtete Zimmer später als ich betreten und ihre Nasen in Zeitschriften versenkt. Über zwei Stunden saß ich in dem Raum, betrachtete abwechselnd die hässlichen Wandgemälde, die künstlichen Pflanzen und die Lampe, die ein leises Brummen aussendete und damit drohte, mich erblinden zu lassen. Das Angebot der Arzthelferin schien mir in dieser Situation wie eine Rettung; vielleicht rettete mich der heiße Kaffee vor dem Tunnelblick, der sich einzuschleichen drohte; vermutlich würde er mich nur noch nervöser machen. Lange hatte ich mit dem Anruf bei meinem Hausarzt gezögert, war jedes Mal von Angst überwältigt worden und schwitzend vor dem Telefon zusammengebrochen. Hier herzukommen, in diesem Wartezimmer zu sitzen und zu zittern – es war ein notwendiger Schritt gewesen, das wusste ich. Es war der erste Schritt, die halbe Miete. Oder nicht?
Bis zum damaligen Tag hatte ich ein Leben geführt, das wie ein Blitz an mir vorbeigezogen war. Ich hatte kaum Aufgaben, nichts ergab einen Sinn. Mit kleineren Gelegenheitsjobs hielt ich mich über Wasser, die mich von finanziellen und gedanklichen Sorgen niemals befreien konnten. Abends, nach Feierabend, fuhr ich die Gehirnaktivität noch weiter hinunter – in dieses tiefe und dunkle Tal der Lethargie – und bewunderte das Fernsehprogramm, ließ alles hinter mir, nur um zu merken, dass die Sorgen spätestens am Morgen wiederkamen. Damit mein Schlaf besonders lange hielt – und damit die Sorgen fern blieben – gehörten Bier und diverse Kräuterschnäpse zum festen Bestandteil eines Feierabends. Mit einer Schachtel Zigaretten verbrachte ich also jeden Abend trinkend, rauchend, hustend und Pizza verschlingend in meinem mies eingerichteten Zimmer, nur um für wenige Stunden das Leben zu vergessen. An den Wochenenden verstärkte sich der Hang zum Depressiven merklich. Hier ging ich zwar unter Leute, in Kneipen, und ging nicht selten mit einer Frau nach Hause. Selbige aber verschwand nach spätestens zwei Tagen wieder aus meinem trostlosen Dasein und hinterließ noch tiefere Wunden, ja geradezu ein Trümmerfeld in meinem Kopf. Ich hatte also ein recht einseitiges, knappes Leben – und würde sich jemand an einer Biografie versuchen, so könnte man sie mit unzähligen Adjektiven eventuell auf zwei doppelzeilige Seiten strecken. Dieser Arztbesuch aber sollte alles ändern, mir neuen Mut geben, Motivation schenken.
Im Wartezimmer jedoch zweifelte ich an meinem Vorhaben. Mein Magen fühlte sich an, als hätte ich einen Klotz aus Blei verschluckt. Nicht nur musste ich mit diesem Treffen meine Lethargie und all meine anderen Ängste überwinden, nein, ich fürchtete, dass ich in einem neuen Leben erwachen würde, das mir noch weniger gefiel. Ich fürchtete Entscheidungen, ich fürchtete Verantwortung und demzufolge scheute ich Veränderung. Der kalte Schweiß brach mir auf Stirn und Rücken aus und meine Hände begannen zu zittern. Wie ein Häufchen Elend kauerte ich auf meinem Stuhl und betete, dass mir die Dame den versprochenen Kaffee brachte.
Endlich, nach langen Sekunden des Bangens öffnete sich die Tür und die Dame in Weiß betrat wie ein strahlender Engel den Raum, den dampfenden Kaffee in der Hand.
»Milch und Zucker, ich hoffe das ist in Ordnung«, sagte sie und drückte mir lächelnd die heiße Tasse in die Hand. Der Kaffee musste direkt aus dem Himmel kommen.
»Ja, ja natürlich, vielen Dank«, stammelte ich, errettet von dieser himmlischen Dame, die mich anlächelte, als sei ich ein kleiner Säugling. Ich versuchte, mit meinen trockenen Lippen das Lächeln zu erwidern, scheiterte aber, nahm hastig einen großen Schluck Kaffee und verbrannte mir die Zunge. Schmerz und Kaffee schluckte ich herunter.
»Großartigen Kaffee haben Sie hier«, sagte ich lautstark und hob die Tasse.
»Vielen Dank, Herr Widermann. Doktor Mottsteiner empfängt Sie gleich«, antwortete sie und verließ das Wartezimmer; als sie die Tür hinter sich schloss, wirkte der Raum trotz den anderen Patienten wie leergefegt. Ich vermisste meine Retterin schon jetzt.
Eifrig trank ich und je näher der Augenblick kam, in dem ich mich dem Doktor stellen musste, desto nervöser wurde ich. Das Koffein zersprengte meine Synapsen und der unglaubliche Schmerz auf meiner Zunge tat sein Übriges. Die verbleibenden Sekunden zogen sich hin wie zähes Fleisch zwischen den Zähnen, die Zeit selbst schien stillzustehen, während ich zitterte und schwitzte.
Und bevor ich schließlich in weitere Selbstzweifel verfallen konnte, war es soweit: die Tür des Behandlungsraums wurde aufgerissen und der Mann meiner Alpträume stand vor mir: ein Mann in Weiß, mit ebenso weißen, zerzausten Haaren, die in alle Richtungen vom Kopfe standen; er erinnerte mich an einen Kaktus. Das faltige, knochige Gesicht lächelte mich mit gelben Raucherzähnen an, die blutunterlaufenen Augen blinzelten hinter der Lesebrille, während er die gebrechliche Hand ausstreckte. Behäbig erhob ich mich vom Stuhl und wankte langsam auf ihn zu, um ihm die Hand zu schütteln. Es war soweit. Schweißperlen bahnten sich den Weg über meine Stirn und den Rest meines bebenden Körpers.
»Guten Morgen«, sagte er freundlich. Seine kratzige Stimme raunte durch das Wartezimmer. »Kommen Sie bitte mit, hier entlang«, fügte der Mann in bayerischem Akzent an. Wortlos folgte ich ihm ins Behandlungszimmer und mit jedem Schritt schien mich meine Kraft zu verlassen. Meine Beine wollten mich nicht weiter tragen, als verweigerten sie ihren Dienst, als wollten sie diesem teuflischen Mann entfliehen. Ein letztes Mal versuchte ich die Vernunft zu beschwören, letzte Kräfte zu sammeln und die Zweifel abzuschütteln.
»Was kann ich für Sie tun, Herr, Herr Widermann?« fragte er, als ich nach ihm das Zimmer betrat. Ich überlegte: was genau sollte er eigentlich für mich tun? Verwirrt war ich, geblendet von Schweiß und Furcht. Da meine Glieder mit jedem Augenblick schwächer wurden, setzte ich mich auf die weiße Ledercouch und schloss die Augen, um nachzudenken. Als ich die Augen wieder öffnete, blickte ich in die dunklen Augen des Arztes, nicht mehr als einen Meter von mir entfernt, der sich die Lesebrille tief ins Gesicht geschoben hatte. Er hob die Augenbrauen in großer Erwartung und forderte eine Antwort auf seine Frage.
»Sagen Sie schon, Herr Widermann, was kann ich denn für Sie tun?«
Ich zögerte. Irgendwo musste die Antwort sein, Panik trieb sie in immer weitere Ferne. Es fühlte sich nun an, als zog sich ein Strick um meinen Hals zu, also schluckte ich mehrmals und wischte mir mit dem Unterarm den Schweiß von der Stirn. Mottsteiners Augen waren noch immer auf mich gerichtet und ich erkannte das loderndes Feuer in seinem Blick, als starrte er einfach durch mich hindurch; er kannte meine Frage schon, bevor ich sie in Gedanken formulieren konnte. Ich beschloss, nicht unterzugehen. Ein sanftes Lächeln war der erste Schritt. Wovor hatte ich denn Angst? Nur dieser leichenblasse, kauzige alte Mann mit all seinen verirrten Haaren auf dem Schädel – dieser Zimmerkaktus! – konnte mir jetzt noch helfen; also musste ich diese Chance nutzen. Ich ballte die Fäuste, bis die Knöchel herauszubrechen drohten, lehnte mich nach vorn und öffnete den Mund. Ich war bereit – endlich, nach all den Jahren war ich bereit, es zu Ende zu bringen, die vergilbten Wände meines Lebens in neuer Farbe anzustreichen, mir helfen zu lassen. Mottsteiners Augen wurden größer. Es war Zeit, es zu Ende zu bringen, den zweiten Schritt zu machen.
»Mein Chef braucht einen Krankenschein, Herr Mottsteiner. Ich habe seit drei Tagen diese ungeheuren Halsschmerzen und kann kaum schlucken«, erklärte ich ihm.
„Natürlich, da lässt sich was machen«, antwortete er und sein blasses Gesicht erstrahlte in einem sympathischen, engelsgleichen Lächeln. »Eine Woche? Oder doch gleich zwei Wochen, um ihre Krankheit auszukurieren?«
Mottsteiner grinste – und unterschrieb die Krankmeldung, die Freiheit.

 

Hallo nicrok!

Ich weiß nicht so richtig, was ich mit der Geschichte anfangen soll. Sie ist zweifelsfrei gut und sauber geschrieben, dein Stil lässt sich flüssig lesen, die Geschichte ist gerade so kurz, dass sie mich nicht langweilen konnte.
Aber was ist das bitte für eine Pointe? Während des Lesens dachte ich, dass du hier eine Arztphobie (wie auch immer der Fachbegriff dafür lautet) darstellen willst. Aber der ganze Text läuft nur darauf hinaus, dass er sich einen Krankenschein ausstellen lässt, hä? Nee, versteh ich nicht. Ich versteh schon, dass das die Pointe sein soll, aber ich fände das nichtmal als Satire gut, als Humorgeschichte schon gar nicht. Also keine Ahnung, bisschen ratlos bin ich schon.

Stilistisch war das wie gesagt sauber, mir sind nur ein paar Kleinigkeiten aufgefallen:

wirkte der Raum trotz den anderen Patienten wie leergefegt.
trotz der
und der unglaubliche Schmerz auf meiner Zunge tat sein Übriges.
Naja, Zunge verbrennen tut schon weh, aber diese Übertreibung find ich hier unpassend.
war es soweit: die Tür des Behandlungsraums wurde aufgerissen
Nach dem Doppelpunkt gehts groß weiter, weil ein vollständiger Satz folgt. Aber mal davon abgesehen finde ich den ganzen Satz ziemlich unglücklich, zwei Doppelpunkt und noch ein Semikolon, also mich stört das. Vielleicht gehts ja nur mir so, keine Ahnung.
überlegte: was genau sollte er eigentlich für mich tun?
Wieder dasselbe. Vollständiger Satz, deshalb groß weiter.
ich erkannte das loderndes Feuer in seinem Blick,
das lodernde

So oder so noch viel Spaß hier im Forum.

Liebe Grüße,
apfelstrudel

 

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