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Immer nur leben...
Es war ein trüber Tag, als sie ihn zu ersten Mal sah.
Milchiger Nebel schob sich schwerfällig durch die beinah menschenleeren Straßen ihres kleinen Dorfes. Die Feuchtigkeit, die er mitbrachte hüllte Häuser, Bäume, jeden Strauch wie in eine nasse Decke ein. Von den Zweigen und Blättern tropfte es ab und an, wie Tränen, als weinte die Welt um einen lichtleeren Tag.
Margitta stand am Stubenfenster und blickte hinaus. So wie die Stadt sich gegen den Nebel nicht wehren konnte, gelang es ihr nicht die Melancholie, die wie ein Kaugummi an ihr klebte, abzuschütteln.
Nach einer Weile wand sie den Blick, drehte sich um und erschrak.
Sie konnte durch die geöffnete Stubentür auf den Flur sehen und mitten in ihrem Flur, direkt an der Treppe, die nach oben führte, stand er, der fremde Mann.
Ein älterer Herr, bekleidet mit einer grauen Stoffhose, die von Hosenträgern gehalten wurde, darunter trug er nur ein verwaschenes Unterhemd, war barfuss in Filzpantoffeln.
„Was machen Sie hier?“, wollte sie gerade fragen, als er verschwand, einfach so, als hätte sie ihn sich nur eingebildet.
Margitta kniff die Augen zu und schüttelte den Kopf, als wollte sie eine lästige Erinnerung abwehren, ihr Herz schlug heftig, mit leicht zittrigen Schritten begab sie sich in Richtung Flur. Tastete das Geländer der Treppe ab, hier hatte er sich abgestützt, doch wies nichts darauf hin, dass er je hier gewesen war. Jetzt wirst du verrückt, dachte sie, ging zurück in die Stube, und kuschelte sich in ihren Lieblingssessel. Da saß sie auch noch als Erwin, ihr Mann von der Arbeit heimkam.
„He, was ist los mit dir, träumst du?“ Seine Frage sollte fröhlich klingen aber er sah an ihrem Gesichtsausdruck, dass es ihm nicht gelungen war der gleichen zu verbreiten.
„Ich werde verrückt“
Fast teilnahmslos sprach sie dies aus. Erwin ging zu ihr, kniete nieder, berührte sanft ihre Arme, die sie um die hochgezogenen Beine geschlungen hatte.
„War’s schlimm heute?“
Seine Stimme klang zärtlich, fast wie ein Streicheln, in ihren Ohren, sie sah ihn mit unendlich traurigen Augen an, nickte bevor sie ihren Kopf an seine Schulter sinken ließ. Er wusste von der Traurigkeit, die sie, seit sie in dem neuen Haus wohnten, überfallen hatte, die sie weder erklären noch bewältigen konnte. Es war ihr Wunsch gewesen hierher zu ziehen.
„Was war denn los?“, wollte er wissen ohne die Hoffnung sie könnte es ihm erklären, denn meistens zuckte sie nur die Schultern.
„Da war ein Mann“, begann sie schüchtern.
„Wo war ein Mann und...?“
„Hier bei uns im Haus“, unterbrach sie ihn, „er stand ganz einfach da“, sie kletterte aus dem Sessel und ging in Richtung Flur, „hier stand er, an der Treppe.“ Ihre Stimme zitterte, sie sah sich nach Erwin um, es schien als hätte sie Angst in den Flur zu gehen, doch noch bevor Erwin etwas sagen konnte, fuhr sie fort „Und dann war er einfach weg, so als wäre er nie da gewesen.“ Nun zuckte sie hilflos die Achseln.
Ein unbehagliches Gefühl machte sich in Erwins Magengegend breit, in seinem Kopf hallten ihre Worte, „ich werde verrückt“, nach.
„Kanntest du ihn?“ Noch während er die Worte aussprach wusste er wie sinnlos dies war, wie sollte ein fremder Mann hier rein kommen und sich dann quasi in Luft auflösen. Margitta schüttelt den Kopf und eine Weile standen sie sich stumm gegenüber.
„Du glaubst mir doch, oder?“ fast hysterisch brachte sie die Worte über die Lippen.
„Ja“, antwortet er, strich sich nachdenklich mit der Hand über Kinn und Wange, „und es macht mir Angst“, fügte er hinzu.
In den nächsten Tagen ertappte Margitta sich dabei, dass sie nach dem unbekannten Mann Ausschau hielt, immer wieder blickte sie zur Treppe, starrte gebannt minutenlang auf den Fleck, auf dem er damals stand. Irgendwie konnte sie sich gegen das Gefühl, beobachtet zu werden, nicht wehren, ständig wanderte ihr Blick nach links und rechts, sah sie hinter sich.
Nichts drang wirklich zu ihr durch, weder das Telefon, noch Erwin, der sie mit wachsender Sorge beobachtete. Heimlich sprach er mit ihrer Mutter, die ihm versicherte, dass es keine Geisteskrankheit in ihrer Familie gab. Ich werde verrückt, wie oft sagt man so etwas.
Nichts geschah.
Margitta konnte nicht schlafen, es waren keine Alpträume, die sie quälten, es war das Gefühl etwas verloren zu haben, in einem unsichtbaren Nebel gefangen zu sein. Traurigkeit griff wie ein dunkler Schatten, in dem alles verstarb, nach ihrer Seele. Nacht für Nacht wanderte sie durchs Haus, als könnte sie so den Schatten aufhalten. Völlig erschöpft saß sie eines Nachts im Wohnzimmer.
„Ich kann nicht mehr, ich kann nicht mehr.“
Wie eine Beschwörungsformel sprach sie die Worte vor sich hin, während sie den Kopf auf ihre Knie, die von ihren Armen umschlungen wurden, gelegt hatte.
Plötzlich spürte sie die Wärme einer Hand auf ihrem Arm, sie hob den Kopf.
Da war er wieder, der alte Mann, dessen Augen von einem Kranz Falten umgeben wurden, die sich jetzt, da er lächelte, vertieften. Er sagte nichts deutete nur mit dem Finger, Margittas Augen folgten der Richtung. Durch einen Spalt im Vorhang fiel das erste Sonnenlicht, in dem kleine Staubkörnchen wie goldene Punkte tanzten, ins Zimmer. Vorsichtig schob sie die Gardine beiseite, draußen dämmerte der Morgen, blassrosa Wolken zogen über einen hell werdenden Himmel. Margitta atmete auf, die Nacht war vorbei. Sie dreht sich um, doch er war nicht mehr da.
Am nächsten Tag stand sie in der Küche und schälte Kartoffeln. Nie benutzte sie den Sparschäler, es war ihr zu umständlich, erst zu schälen, dann mit einem Messer die eventuell vorhandenen schlechten Stellen zu entfernen und erst dann in Stück schneiden.
Doch mitten in der Bewegung hielt sie inne, in der von Kartoffelstärke und Erde verschmierten Klinge des Messer spiegelt sich ein Teil ihres Gesichtes. Schmutzig, dachte sie, ich bin wie Schmutz, nichts wert. Schnell spülte sie das Messer unter klarem Wasser ab, als sie die Klinge trocken rieb, bemerkte sie deren Schärfe. Nur ein Schnitt und es wäre alles vorbei. Wie ein Hauch von Versuchung schlich dieser Gedanke durch ihren Kopf. Beinah verliebt lächelnd führte sie die Klinge an ihr Handgelenk.
„Margitta!“
Erschrocken warf sie das Messer in den Ausguss. Sah sich um, wer hatte sie gerufen? Niemand war zu sehen, ihr Herz schlug wie verrückt, sie zitterte, hatte das Gefühl, als schnüre ihr jemand die Kehle zu, hastig rannte sie aus der Küche, um dann wie erstarrt im Flur stehen zu bleiben.
Er war wieder da, doch nicht so wie sonst, er wirkte blass, ja beinah grau, wie erschöpft saß er auf einer Stufe der Treppe, ließ den Kopf hängen, schien sich wieder auf zu lösen.
„Bitte geh nicht“, flehte sie. Er hob seinen Kopf und sah sie an. „Bitte... bleib, mein Leben ist so voller Dunkelheit.“
Er winkte sie zu sich heran, zögerlich ging sie auf ihn zu, vertrauensvoll schob sie ihre Hand in seine, eine wohlige Wärme floss durch ihren Körper, ein Gefühl von Geborgenheit, ja Liebe umfing sie.
Und dann begann er zu erzählen, wie kleine Lichtperlen tropften die Worte von seinen Lippen, er sprach von einem Himmel, der so klar ist, als hätte ihn die Nacht rein gewaschen. Von Sonnenstrahlen, die sich in den vereisten Grashalmen, deren einstiges Grün man nur noch ahnen konnte, brachen und einen Glitzerteppich hinterließen, dessen Blitzen sich wie kleine Regenbögen über die ganze Wiese spannte.
Margitta sah dieses Licht vor sich, es war als streichelte seine Wärme ihre Seele.
„Was muss ich tun, um dieses Land zu erreichen?“
Voller Hoffnung, die Antwort würde ihr den lang ersehnten Weg offenbaren, sah sie in seine Augen. Die jedoch verdunkelten sich ein wenig, als ob die Worte nicht die waren, die er erwartet hätte, doch dann glitten sie mit einer Sanftheit, nach der sie sich so sehnte, die sie schon lange nicht mehr gespürt hatte, über ihr Gesicht. Zärtlich schob er seine Hand unter ihr Kinn, leise aber doch bestimmt, sagte er „Leben“
Und so, als wollte er die Gewichtigkeit seiner Antwort unterstreichen, sich vergewissern, dass sie ihn verstanden hatte, nickte er, bevor er hinzusetzte „Immer nur leben.“
Dann erst löste er sich auf.