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Immer weiter (Neue Fassung)
Die Tachonadel verharrte zitternd. Sie wäre gerne weitergestiegen, aber die Zylinder gaben nicht mehr her. Richard jauchzte im Geschwindigkeitsrausch. Die Autobahn verlief schnurgerade und kleine Bodenwellen ließen das Fahrzeug sekundenlag durch die Luft fliegen.
„Absolut geil!“
Er jagte über eine kleine Kuppe und während die Reifen einen Moment die Bodenhaftung verloren, sah er den Lastwagen, der quer über alle Spuren stand.
„Das ist ja nur noch geil!“, schrie Richard seine endlich erfüllte Sehnsucht heraus.
„Sie können aufhören, zu schreien.“
Richard hielt die Augen geschlossen. Hatte er geträumt? Lag er im Bett? Er tastete um sich. Nein, er saß eindeutig in dem Konturensitz des Lamborghini, den er sich besorgt hatte. Langsam öffnete er die Augen und sah vor sich die Autobahn schnurgerade und frei bis zum Horizont. Dann schaute er um sich und sah einige verknäulte Teile, die vielleicht einmal zu dem knallroten Lamborghini gehört hatten. Direkt vor ihm rauchte etwas leise vor sich hin, das vielleicht einmal ein V10-Motor gewesen war.
„Wieso lebe ich noch? Oder bin ich tot?“ Richard stand aus dem Sitz auf und sah an sich herunter: Keine gebrochenen Arme oder Beine, keine blutenden klaffenden Wunden - nein, er war sicher tot.
Heinrichs Taschendiebstahl am Berliner Hauptbahnhof war ein Riesenerfolg. In der Brieftasche des kleinen Japaners, den er angerempelt und dann bestohlen hatte, fand er fünftausend Euro in handlichen Scheinchen. Er eilte umgehend zu seinem Dealer und kaufte alles auf, was der ihm geben konnte. Dann setzte er sich den goldenen Schuss und erlebte unglaubliche Momente, bis er dahindämmerte.
Als er wieder aufwachte, lag er durchnässt und frierend in einem kleinen Gebüsch am Rande des Tierparks. Außerdem hatte er Schwindel und Atemschwierigkeiten. Aber er lebte anscheinend. Zitternd griff er in seine Tasche und musste feststellen, dass ihn mitfühlende Junkies von allem erleichtert hatten. Hätte er wahrscheinlich auch getan. Ein Toter brauchte schließlich keinen Stoff mehr. Schwankend stand er auf und beschloss widerwillig, erst einmal weiter zu leben.
Sabine hatte es geschafft. Alle Sicherungen hatte sie überwunden und nun stand sie auf dem Dach des Bahntowers. Sie holte noch einmal Luft und sprang, Füße voran. In wenigen Sekunden sah sie ihr verpfuschtes Leben im Schnelldurchlauf vorbeiziehen. Sie meinte, zu schweben, aber dann prallte sie auf die Erde und verlor ihr Bewusstsein.
„Da sie jetzt noch lebt und sich nichts gebrochen hat, können wir sie auch mit dem Kran herausziehen.“
Wer sprach da? Und was sollte der Kran. Sabine stellte fest, dass sie zwar ihre Beine nicht bewegen konnte, aber ihren Kopf. Sie öffnete ihre Augen und schaute verwirrt auf die Menschen, die sich um sie versammelt hatten. Einige Polizisten drängten die Menge zurück, während Feuerwehrleute versuchten, sie auszugraben. Sie steckte bis zu den Knien im Bürgersteig, aber anscheinend war ihr ansonsten nichts passiert.
Nach diesen drei Vorfällen gab es zahlreiche weitere Ereignisse und aus allem Geschehen schälte sich deutlich heraus: Der Mensch konnte nicht mehr getötet oder verletzt werden, er war einfach unzerstörbar.
Anfangs war es noch ein Sport, von den höchsten Gebäuden der Welt zu springen. Aber nachdem die Retter nicht mehr eingriffen und die Springer sich selbst aus der Erde befreien mussten, ließ die Begeisterung nach. Und warum sollte jemand noch S-Bahn-surfen, wenn jedes Kleinkind das konnte. Der Adrenalinschub war perdu. Es gab keine Herausforderungen mehr. Das Leben wurde uninteressant und die meisten Menschen vegetierten nur noch vor sich hin.
Sabine schlenderte durch die angesagten Modeläden. Niemand arbeitete mehr, nichts wurde mehr verkauft, auch im Modegeschäft waren keine Menschen. Warum auch? Kaum jemand interessierte sich für sein Aussehen. Viele Menschen trugen ihre alte Kleidung, bis sie von ihnen abfiel. Wenige waren überhaupt unterwegs - meist spärlich bekleidet. Aber Sabine legte Wert auf ihr Outfit. Sie wollte so aussehen wie an dem Tag ihres großen Sprungs. Nachdem sie sich neu eingekleidet hatte, ging sie zu einem kleinen Antiquariat beim Hauptbahnhof. Hier gab es in erster Linie medizinische Literatur, aber auch eine gut bestückte theologische Abteilung. Lesen war für sie ein gutes Mittel gegen die Langeweile, die die Menschen befallen hatte.
„Hey, Sabine, Du bist doch das Girl vom Bahntower?“
Sabine schaute den jungen Mann, der sie am Hauptbahnhof ansprach, erstaunt an. Schon seit langem interessierte sich niemand für sie und ihren großen Sprung. Die Menschen erkannten sie gar nicht mehr. „Und wer bist Du?“, fragte sie den abgemagerten jungen Mann mit seinen zerrissenen und verdreckten Kleidern.
„Ich bin Heinrich. Dem Polizeibericht nach bin ich eine Stunde vor Dir gestorben.“
„Oh, also gehörst Du auch zu den ersten. Und jetzt gammelst Du am Hauptbahnhof herum.“
Heinrich lachte. „Die ersten Tage schwamm ich in allen möglichen Rauschmitteln. Aber es passierte gar nichts. Nur die Langeweile wurde immer unerträglicher. Dann habe ich angefangen zu lesen.“
„O ja, ich auch. Ich lese vor allem theologische Fachliteratur, um herauszufinden, wohin unsere Reise geht.“
„Und hast Du etwas gefunden?“
„Nein, es gibt viele Religionen, die ausführlich vom ewigen Leben erzählen, aber bei keiner werden die Menschen kleiner.“
„Wieso kleiner? Wir werden doch nicht kleiner.“
„In meiner Wohnung habe ich an der Wand ein Metermaß, wie es Ärzte benutzen. In den letzten drei Monaten bin ich um zehn Zentimeter geschrumpft.“
„Das ist interessant. Vielleicht leben wir also doch.“
„Wie meinst Du das denn?“
„Wir essen nicht, wir trinken nicht. Toiletten brauchen wir auch nicht. Wir atmen nicht einmal. Ich hatte bisher gedacht, dass keine Zelle stirbt und keine Zelle neu gebildet wird. Aber wenn der Mensch schrumpft, dann gehen ihm Zellen verloren, sonst würde das nicht funktionieren. Also sterben wir doch, nur sehr langsam.“
„Dann müssten wir doch auch leichter werden!“
„Ja. das ist ein Grundgesetz der Physik.“
„Ich wiege aber genauso viel wie vor meinem großen Sprung.“
Heinrich schüttelte den Kopf und begann zu grübeln.
Sabine versuchte, ihn wieder ins Gespräch zu ziehen: „Am ersten Tag gab es doch noch jemanden.“
„Ja, Richard. Aber Autorennen geht ja nicht mehr. Was er wohl jetzt macht?“
„Was ist denn noch schnell? Wahrscheinlich Rennräder oder Skates.“
„Gute Idee. Lass uns Fahrräder nehmen und zum Teufelsberg radeln. Das sind ungefähr zehn Kilometer. Da werden wir ihn wahrscheinlich finden.“
Sie fuhren eine gute Stunde durch Berlin. Die Stadt schien fast menschenleer, aber vollgestellt mit Autos. Im Grunewald saßen ab und an ältere Menschen. Die Männer spielten Schach oder Backgammon und rauchten Zigarren, obwohl kein Mensch mehr schmecken oder riechen konnte. Die Frauen strickten warme Wollstrümpfe und Mützen, obwohl kein Mensch mehr fror oder schwitzte.
Am Teufelsberg waren tatsächlich einige Radfahrer und Skater in bunten Trikots unterwegs. Ein Rennradfahrer fuhr in ihrer Nähe absichtlich gegen eine kleine Mauer und während das Fahrrad verbogen liegen blieb, flog er mehrere Meter durch die Luft. „Das ist einfach geil“, jauchzte er.
„Hallo Richard!“, sagte Heinrich und wies auf Sabine: „Sabine vom Bahntower und ich bin Heinrich vom Hauptbahnhof.“
„Ich erinnere mich. Wir waren die ersten. Und was macht ihr so?“
„Wir lesen und versuchen herauszubekommen, was hier geschieht.“
„Ist doch klar. Dies ist das Ende der Welt. Die Quittung für unser verkorkstes Leben“, lachte Richard.
„Das kann nicht sein. Denn wir entwickeln uns immer noch weiter. Wir wachsen zwar nicht, aber wir schrumpfen. Also haben wir das Ende noch nicht erreicht.“
„Wir haben einen Philosophen unter uns“, stöhnte Richard.
„Eigentlich bin ich Physiker und Hobby-Anthropologe.“
„Ich bin nach der achten Klasse von der Schule gegangen, da kann ich nicht mithalten. Und was bist Du, Sabine? Designerin?“
„Ich stand kurz vorm Abitur. Ich denke, für unser Projekt bist Du sehr wichtig. denn Du kannst uns bremsen, wenn wir zu sehr abheben.“
„Sabine interessiert sich für Theologie und Philosophie“, ergänzte Heinrich.
„Und was ist euer Projekt?“
„Wir wollen herausfinden, wohin unsere Reise geht und über unser Leben diskutieren. Die meisten Menschen interessieren sich doch für gar nichts mehr. Sie leben nur noch vor sich dahin.“
„Aber das ist doch kein Leben mehr, wenn man keine Alternative hat“, warf Sabine ein.
Und Richard meinte: „Eben. Wie können wir denn dieses angebliche Leben beenden? Ich habe alles mögliche erfolglos probiert. Andere auch. In Marzahn haben sich einige Jugendliche angespitzte Holzpflöcke ins Herz schlagen lassen.“
„Und?“
„Offensichtlich sind wir keine Vampire. Naja, ist jetzt cooler Schmuck wie früher die Piercings. Wer die meisten Pflöcke trägt, ist obergeil.“
„Du hast vorhin erzählt, wir schrumpfen. Dann werden wir ja irgendwann am Ende ankommen.“
„Wir sollten zu Sabine gehen und unsere Größe und das Gewicht messen. Dann haben wir mehr Fakten.“
„Also wir sind alle drei um rund zehn Zentimeter geschrumpft, haben aber kein Gewicht verloren.“
„Und was sagt die Physik dazu?“
„Wenn das Gewicht gleich bleibt und das Volumen abnimmt, dann nimmt die Dichte zu.“
„Und das heißt?“
„Die Abstände zwischen den Atomen verringern sich.“
„Irgendwann ist dann kein Platz mehr im Körper.“
„Naja, zwischen dem Kern eines Atoms und den Elektronen scheint viel leerer Raum zu sein. Der ist aber angefüllt mit Feldern und Teilchen und anderem Zeugs.“
„Das ist mir jetzt viel zu hoch.“
„Wenn ich ein Gas zusammendrücke, wird es flüssig und nimmt erheblich weniger Raum ein.“
„Wie in der Gasflasche. Das ist auch Flüssiggas.“
„Aber wenn Du einen festen Körper zusammendrückst, bleibt er fest. Wohin könnte dann der Mensch schrumpfen?“, warf Sabine ein.
„Wir bestehen überwiegend aus Wasser. Würden wir nur aus festen Stoffen bestehen, könnten wir uns auch nicht mehr bewegen. Oder hast Du schon mal einen laufenden Goldbarren gesehen?“
„Nein, aber wieso?“
„Gold ist knapp zwanzigmal dichter als ein Mensch. Wenn wir zu der Dichte von Gold zusammenschrumpften, wären wir nur noch ein vierzig Zentimeter hoher unbeweglicher Klumpen.“
„Jedenfalls immer noch größer als eine Zikade“, ergänze Sabine.
„Ihr bringt mich ganz durcheinander. Eben waren wir beim Gold und jetzt sind wir bei einer Zikade.“
„Ich erinnere mich an die griechische Sage von Tithonos, für den Eos Unsterblichkeit erbeten hatte. Aber sie hatte die ewige Jugend vergessen und so schrumpfte Tithonos schließlich zu einer Zikade.“
„Stattdessen werden wir zu Goldklumpen? Oder können wir noch weiter schrumpfen.“
„Nach den physikalischen Gesetzen der Erde nicht. Aber da es ja so aussieht, als ob andere physikalische Gesetze auch nicht mehr gelten ...“
„Welche denn?“
„Wir essen nicht, wir atmen nicht und trotzdem leben und denken wir und bewegen uns. Und wir scheinen keine Energie zu benötigen. Das ist physikalisch unmöglich.“
„Na gut, wenn wir immer weiter schrumpfen, was steht dann am Ende?“
„Wenn wir immer weiter zusammenfallen, wären wir schließlich ein winzig kleines schwarzes Loch. Aber ich halte diese Entwicklung für sehr unwahrscheinlich, denn wir sind dafür viel zu leicht.“
„Also bleiben wir kleine unbewegliche Klumpen?“
„Ja, aber wir werden weiter aus Haut, Muskeln, Organen, Knochen und so bestehen - nur mit einer viel höheren Dichte, als ob wir unter einer Riesenpresse zusammengestampft wurden.“
„Fühlen können wir ja jetzt schon nicht mehr. Wahrscheinlich wird das Denken auch aufhören und wir stehen einfach nur herum wie diese Terrakotta-Armee in China.“
Richard fing an zu lachen. „Stellt euch mal vor, Archäologen aus dem Weltraum landen auf der Erde und finden überall kleine schwere Puppen, die wie Menschen aussehen. Ob wir ein Exportschlager werden?“
Sabine schüttelte den Kopf: „Das ist mir zu simpel. Ich glaube nicht an den blinden Zufall.“
„Also doch das Ende der Menschheit?“
„Was würde denn geschehen, wenn alle diese Statuen herumstehen und sich die Lebensbedingungen ändern?“
„In der Entwicklung sind wir ja mittendrin. Unsere Zivilisation wird wohl untergehen.“
„Aber was wird aus dem Plastik und den Farben und den Medikamenten und allen anderen Errungenschaften des Menschen? Ich stelle mir vor, dass sie jahrhundertelang zerfallen, bis viele kleinste organische Teilchen übrig bleiben, die sich mit dem Regenwasser mischen. Dann fällt nicht einfach mehr saurer Regen, sondern ein organischer Regen, der ein neues Wachstum in Gang setzt.“
„Und dann fangen auch die kleinen Menschen wieder an zu wachsen und werden wieder lebendig?“
„Und dann leben wir auf einer neuen unverdorbenen Erde. Und die Menschen müssen lernen, mit der Natur zu leben und nicht gegen sie.“
„Eine schöne Utopie.“