- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 10
Immergrün
Es war als würden die Erinnerungen aus dem Dunkel einem Licht entgegenstreben. Ein Strom aus Bildern und Gefühlen schoss durch seinen erwachenden Verstand. Es war wie eine Geburt, wie ein Neuanfang. Alles, was schon längst vergangen schien, war so präsent, als würde es in diesem Augenblick passieren. Die erste bewusste Erinnerung an einen Fahrradunfall, der erste Kuss, die bestandene Führerscheinprüfung und die erste Liebe. Erinnerungen, so kraftvoll, dass sich alle Muskeln im Körper krampfhaft zusammenzogen. Ian schlug seine Augen auf. Ein Sturm aus Licht und Schatten zog an ihm vorüber und beraubte ihm aller Sinne. Schmerzhaft drückte er seinen Rücken durch, Wirbel knackten, Muskeln brannten. Wo war er? Diese eine Frage war der erste gesteuerte Gedanke, der sich in seinem stechenden Kopf manifestierte. Die Worte verstummten, entglitten ihm, als ein neuerlicher Anfall seinen Körper überfiel. Was war passiert? Eine zweite Frage, oder war es die erste? Licht und Schatten tanzten nun eng umschlungen und vergruben die Welt unter ihren Pirouetten und Drehungen. Er stöhnte lauf auf, griff sich an den Kopf und versuchte sich zu sammeln. Sein Hals kratzte, als der langgezogene Stöhnlaut ihn durchfuhr. Ian spürte, wie sein Körper gegen jede Regung rebellierte und wie sein Kopf sich vor jedem Akt des Denkens mit brennenden Schmerzen schützte. Es war eine Krankheit, die sich in ihm regte. Weh und Leid, die durch seine Adern flossen, aber als Ian glaubte unter den Schmerzen ohnmächtig zu werden, waren sie verschwunden. Überrascht blinzelte er, bewegte erst einen Arm, dann den anderen, um wirklich zu spüren, dass alles wieder so funktionierte, wie es sein sollte. Nur seine Ohren rauschten.
Ian Reed lag auf einem braunen Sofa und starrte gegen eine hölzerne Decke, als seine Gedanken zu ihrer alten Ordnung zurückfanden. Die vergangenen Stunden lagen dennoch im Dunkeln. Er konnte sich nicht erinnern eingeschlafen zu sein und auch nicht daran, wie er auf dieses Sofa gelangt war. Das letzte Bild, das er vor Augen hatte, war sein Computermonitor im Büro, der eine lange Reihe von Zahlen zeigte, die sich mit der gegenwärtigen Einwohnerzahl von Dublin beschäftigten. Mühsam setzte er sich auf, darauf wartend, dass sein Körper noch Zeichen der vergangenen, schmerzhaften Sekunden zeigen würde, doch kein Muskel brannte oder zog sich erneut krampfhaft zusammen. Ihm ging es gut; die Krankheit schien besiegt.
An der gegenüberliegenden Wand stand ein großes Bücherregal und ein Blick auf die Titel verriet Ian, dass es sich zumeist um klassische Unterhaltungsliteratur wie Moby Dick oder Oliver Twist handelte. Es war jedoch ein großer, offener Kamin, der den Raum beherrschte. Die verrußten, rötlichen Steine, die ihn einfassten, standen im direkten Kontrast zu den hellen Holzbalken, aus denen die Wände gezimmert waren. Ian befand sich in einer Blockhütte und ein Blick aus dem Fenster, durch das spätes Tageslicht hineinfiel, verriet ihm, dass diese Hütte direkt im Wald stand. Draußen wiegten sich kahle Laubbäume und ein paar immergrüne Tannen im Wind.
Ian drückte sich die Nase zu und blies. Aber das rauschende, dumpfe Gefühl, das er spürte seitdem er erwacht war, verschwand nicht. Es schien sogar noch anzuschwellen und wandelte sich zu einem leisen Summen.
„Wo bin ich hier“, fragte er sich stumm und blickte sich weiter um, bis ein leises Stöhnen seine Aufmerksamkeit erregte. Rechts neben dem Bücherregal lag eine junge Frau, deren Körper kurz zitterte. Ians Augen wurden groß, hätte er doch schwören können, dass er bis zu diesem Augenblick noch alleine in dem Raum gewesen war. Er schob den Gedanken jedoch schnell beiseite und erklärte sich das plötzliche Auftauchen der Frau, deren hohe Stiefel und ihr kurzer Rock sofort Ians gesamte Aufmerksamkeit beanspruchten, mit der Tatsache, dass die vergangenen Schmerzen, die nun nur noch wie eine verblasste Erinnerung erschienen, ihm die Sinne vernebelt hatten. Die schrie plötzlich auf und zog sich auf dem Boden wie ein Fötus zusammen, nur um sich danach sofort wieder in voller Länge auszustrecken. Ihr rotes Top verrutschte dabei und Ian sah, dass sie keinen BH trug. Aber Dinge dieser Art spielten in diesem Augenblick keine Rolle für den Iren mittleren Alters, denn er wusste instinktiv, dass die ihm völlig fremde Frau auf die selbe Weise erwachte, wie er es getan hatte. Ian sprang auf und rannte zu ihr hinüber, um ihren Kopf zu halten, damit sie sich ihn nicht auf dem harten Dielenfußboden anschlug. Sie verkrampfte sich mit solcher Kraft, dass Ian Mühe hatte ihren unkontrollierten Bewegungen entgegenzuwirken. Immer wieder gab sie stoßweise krächzende Laute von sich. Unter ihren geschlossenen Lidern bewegten sich die Augen wie im Wahn und an ihrem Hals, den eine kleine, unscheinbare Kette schmückte, traten zwei dicke Adern hervor.
„Es ist gleich vorbei“, flüsterte Ian ihr mit schweißnasser Stirn zu und versuchte nun auch mit einem festen Druck seiner linken Hand ihren Oberkörper auf den Boden zu drücken.
Sie bäumte sich ein letztes Mal auf und blieb dann unvermittelt still liegen.
„Was, was“, stotterte sie, schlug die Augen auf, sah Ian und verstummte schließlich.
Er hielt immer noch ihren Kopf und drückte auf ihre Brust, was die junge Frau erst jetzt zu registrieren schien. Sie riss sich los, kroch zitternd nach hinten und stieß mit ihrem Rücken dumpf gegen das Bücherregal.
„Wer, verdammt sind Sie?“, keifte sie und fixierte Ian mit einem feindseligen Blick.
„Ruhig“, versuchte er sie zu besänftigen. „Ich bin Ian Reed und will Ihnen nichts tun!“
„Das sagen sie alle“, zischte die junge Frau und drückte sich vom Boden hoch, so dass ihr Körper vor dem Fenster nun wie eine schillernde Silhouette wirkte.
„Ich bin hier gerade aufgewacht. Genau wie Sie!“ Er hielt die Hände hoch, so dass sie seine Handflächen sehen konnte.
„Aufgewacht nennen Sie das? Sehr komisch. Ich bin grad fast gestorben!“
„Und jetzt? Tut Ihnen noch etwas weh?“
Die Frau blickte ihn zuerst fragend an und sah dann an sich herab, wobei sie überrascht und verwirrt zugleich wirkte.
„Nein“, stammelte sie mit heller Stimme, „mir tut überhaupt nichts weh.“
Ian nickte bestätigend und streckte ihr jetzt seine Hand vollends entgegen. Nach kurzem Zögern ergriff sie sie und kam einen Schritt auf ihn zu.
„Ich heiße Jessika.“
„Hallo Jessika“, antwortete ihr Ian lächelnd. „Haben Sie vielleicht eine Ahnung, wo wir hier sind?“
Jessika sah sich um und musterte den Raum, aber ihre Gestik verriet kein Zeichen des Erkennens.
„Ich schätze mal, das hier ist ne Art Blockhütte. Aber wie um alles in der Welt bin ich hierhin gekommen?“
„Genau das ist die Frage, die ich mir auch stelle.“
Beide sahen sich einen Augenblick an und Ian sah deutlich, wie sich neben der Verwirrung eine weitere Empfindung in ihre Augen schlich. Es war Angst.
Er versuchte sich zu konzentrieren und suchte stumm nach Erklärungen, doch jede Idee, die sich in ihm regte, ging sofort wieder in ihrer eigenen Absurdität unter.
„An was können Sie sich als letztes erinnern?“
„Hm. Ich war arbeiten.“
Ian warf einen Blick auf ihre Kleidung. Stiefel, Minirock und ein enges Top. Das war nicht gerade die klassische Arbeitskleidung.
„Ich weiß schon was Sie denken“, unterbrach sie seine Gedanken, als sie seinen verwunderten Blick bemerkt hatte, „und sie haben recht. Ich bin eine. Na und?“
Ihre Stimme war herausfordernd, aber es lag auch etwas in ihr, dass Ian als Scham erkannte.
„Ich bin der letzte, der Ihnen in dieser Hinsicht etwas vorwerfen wird. Ist doch auch ein Beruf, oder?“, sagte er und versuchte dabei sein gewinnbringendstes Lächeln aufzusetzen, obwohl er in Wirklichkeit lieber mit einer gerümpften Nase und etwas härteren Worten reagiert hätte. Ian hielt nicht viel von Prostitution. Er fand, dass es ein Verrat am eigenen Körper und an der eigenen Persönlichkeit war, sich selbst zu verkaufen. Egal auf welche Art.
„Ja. Toller Beruf“, gab sie kurz zurück und ging an ihm vorbei, wobei sie darauf achtete ihn nicht zu berühren.
„Eine Nutte mit Berührungsängsten“, dachte Ian, schmunzelte und sah am Fenster hinaus. Um die Hütte herum schien nichts anderes als Wald zu existieren. Die Bäume standen dicht beieinander, so dass sich dadurch eine gewisse Distanz zur nächsten Stadt, oder zum nächsten Ort vermuten ließ, denn dort standen die Bäume auf Grund der Forstwirtschaft meist weiter voneinander entfernt. Nur die Wälder, in welche die Zivilisation, aus welchen Gründen auch immer, noch nicht richtig vorgedrungen war, zeigten eine natürliche Dichte. Er schüttelte seinen Kopf und versuchte dadurch das Summen in seinen Ohren zu vertreiben, aber das Geräusch blieb hartnäckig und machte keine Anstalten zu verschwinden.
„Vielleicht sehen wir uns einfach mal ein wenig um“, schlug er vor, auch um sich selbst abzulenken, denn sein Denken lenkte in eine Richtung, die ihm nicht gefiel. Was war, wenn sie hierher verschleppt worden waren? Wenn jemand sich einen Spaß daraus machte, ein paar hilflose Personen in der Wildnis auszusetzen um zu beobachten, wie sie langsam an ihrer eigenen, durch die moderne Welt verursachte Unfähigkeit zu Grunde gehen? Bei einem auf Fakten gepolten Situationsanalytiker und einer Prostituierten, lag diese Unfähigkeit, was den Umgang mit der Natur betraf, offen auf der Hand. Ian hatte schon viele Filme gesehen, in denen dieses Thema im Mittelpunkt stand und es waren stets Filme, in denen immer nur einer, und das war jemand, dessen Handeln sich im Verlauf der Handlung zu etwas Heldenhaften wandelte, überlebte. Und Ian traute sich diese Heldenhaftigkeit nicht zu, weder im realen Leben, noch in einem Film.
Noch einmal schüttelte er seinen Kopf. Doch diesmal nicht um gegen das Summen anzukämpfen, sondern gegen die dunklen Gedanken, die seine objektive Art zu denken, einschränkte. Sie mussten sich umsehen und dann würden sie schon einmal mehr wissen, aber bevor er seine Idee ansprechen konnte, öffnete Jessika schon eine an den Kamin angrenzende Tür und trat hindurch.
Zwei tiefliegende, rot geränderte Augen sahen sie an.
„Gerade aufgewacht, was?“, fragte die tonlose Stimme eines langhaarigen Mannes, der alleine an einem Küchentisch saß. Er wiegte den Kopf hin und her und musterte Jessika eingehend.
„Bin ich auch gerade“, fuhr er fort, ohne auf eine Antwort zu warten, „war ein tolles Erlebnis.“ Er lachte heiser und wandte seinen Blick ab.
„Ja. Wir sind eben erst wach geworden. Und wer sind Sie?“
„Wir?“, fragte er interessiert.
Ian drückte sich in diesem Augenblick an Jessika vorbei und sah sich in der Küche um. Der Kamin aus dem Wohnzimmer von nebenan, war so gebaut, dass seine Rückwand bis in die Küche hineinreichte und sie so gleichzeitig mitheizte.
„Ja, wir,“ begrüßte er ihn und ließ seinen Blick währenddessen durch den Raum gleiten. Ein kleiner Ofen diente zum Kochen und ein paar einfache, offene Schränke beherbergten Gläser und Teller. Sonst war die Küche leer und Ian dachte sich, dass dort wahrscheinlich nicht oft gekocht wurde. Neben der Tür stand ein großer Schrank mit geschlossenen Türen und er vermutete, dass er dahinter zahlreiche Konserven finden würde. Wer immer hier auch zu Hause war, hatte keine Lust sich mit Pfannen und Rezepten zu beschäftigen, was aber zugleich einen weiteren düsteren Gedanken in ihm aufkeimen ließ. Vielleicht hatte jemand auch nur so viele Konserven hier hinterlassen, damit die Gefangenen, also er, Jessika und der ihm noch fremde Mann, eine Zeit lang überleben konnten.
„Hallo Ian.“ Als der Mann Ians Namen aussprach, schien seine Stimme zu brechen und sie verkam zu einem heiseren Krächzen. „Schön Sie und...?“, er machte eine Pause und wartete auf eine Antwort der jungen Frau.
„Jessika.“
„...und Jessika kennen zu lernen. Nette Hütte hier nicht wahr? Ich war noch nie in einer Blockhütte. Wollte ich schon immer mal.“ Seine Augen flackerten. „Wisst ihr, ich frage mich die ganze Zeit, warum ich früher noch nie einen Urlaub solcher Art gemacht habe? Ist doch viel besser, als mein Appartement mitten in der Stadt, wo es nur Autos und tausend fremde Gesichter gibt. Obwohl das Summen der Motoren auch nicht viel leiser ist, als das Brummen hier.“
Ian stellte sich halb vor Jessika. Dieser Mann, der dort mit zittrigen Fingern und fiebrigen Augen am Tisch saß, machte auf ihn keinen besonders gutmütigen Eindruck.
„Sind Sie hier denn in Urlaub?“, fragte Jessika vorsichtig, weil auch sie das Gefühl hatte, dass es sich bei dem Verstand des vor ihr sitzenden Mannes um einen instabilen Faktor handelte.
„Oh nein. Das wäre schön. Ich weiß ja noch nicht einmal, wie ich hier hingekommen bin. Gerade noch saß ich am Straßenrand und bettelte um ein paar Euro und im nächsten Augenblick krümme ich mich vor Schmerzen und wache in einer Hütte mitten im Nichts auf. Wisst ihr? Ich bin schon ein paar Minuten länger wach als ihr. Na ja. Das glaub ich jedenfalls. Und zu Anfang war es hier absolut still, bis auf das Summen und Rauschen, das von irgendwo da draußen kommt. Aber nun sind ein paar Menschen mehr hier. Hab euch schreien gehört beim Aufwachen. Hätte ganz zu Beginn schwören können, dass ich alleine bin.“
Ian horchte auf. Das Summen und Rauschen war also gar keine Einbildung und es war auch keine Fehlfunktion seiner Ohren, die noch auf das Erwachen zurückzuführen war.
„Hörst du auch dieses Summen, Jessika?“
„Ja. Klingt wie ein Bienenschwarm, oder so was in der Art.“
Ian nickte und blickte hinaus durch das Küchenfenster. Auf dem Ast eines Laubbaumes, an dem nur noch vereinzelt ein paar braune Blätter hingen, saß ein Vogel, dessen Kopf sich ruckartig vor und zurück bewegte. Wahrscheinlich eine Krähe, dachte Ian und wendete seine Aufmerksamkeit wieder dem Mann am Küchentisch zu, dessen abgehackte Bewegungen ihn mit dem Vogel vergleichbar machten. Er trug alte, zerlumpte Kleidung, aber seine Haut und Haare machten einen gepflegten Eindruck. Ian glaubte, dass er in der Öffentlichkeit nur den Bettler spielte. Er hatte mal gehört, dass man an guten Tagen auf diese Weise ein paar hundert Euro machen konnte.
„Bienen? Müssen aber große Bienen sein.“
„Wer sind Sie?“, schaltete sich Ian wieder ein.
„Ich bin Enzo.“
„Ok, Enzo. Wissen Sie vielleicht, warum wir hier sind?“
Ian hatte das unbestimmte Gefühl, dass der Mann etwas verbarg.
„Ich weiß doch noch nicht einmal, wie ich hierher gekommen bin. Aber vielleicht“, er stand auf und baute sich vor Ian auf, der einen guten Kopf kleiner war, „weißt du ja etwas?“
Jetzt war es Jessika, dich sich vor Ian schob und sich damit zwischen die beiden Männer stellte.
„Nein. Er ist genauso aufgewacht wie ich. Er war nämlich da, als ich in diesen Alptraum hier hineingerutscht bin.“
„Ach so. Er war also schon da, schon wach, was Ian?“
Jessika blickte unsicher zwischen den beiden hin und her, aber Ian ließ sich nicht einschüchtern.
„Wenn Sie damit glauben, ich sei der Grund für diesen kleinen Ausflug hier, dann muss ich Sie leider enttäuschen. Ich weiß genauso wenig wie Sie. Denke ich.“
„Vielleicht sollten Sie nicht denken“, sagte er angriffslustig, aber Ian erhielt nicht die Chance darauf etwas zu entgegnen, denn über ihnen hörten sie Schritte. Schritte von mehreren Personen.
„Hier sind noch mehr.“ Jessika blickte hart atmend zur Decke und verfolgte die unsichtbaren Füße über ihr.
„Ja. Sind kurz vor euch aufgewacht.“
„Wer?“ Ian klang gereizt.
„Weiß nicht.“ Enzo zuckte nur mit den Schultern und setzte sich wieder an den Tisch. Wenn er sich nicht in dieser völlig absurden Situation befunden hätte, wäre Ian diesem Mann schon lange an die Gurgel gegangen, aber er zwang sich zur Ruhe und versuchte keine Regung zu zeigen.
„Vielleicht sind das die, die uns hierher gebracht haben“, stammelte Jessika schüchtern.
„Glaub ich nicht. Hab doch gesagt, dass sie kurz vor euch aufgewacht sind. Hab sie auch schreien gehört.“
„Ihr bleibt hier. Ich geh mal da rauf und schau mich um.“ Ian legte eine Hand auf Jessikas Schulter und warf ihr einen Blick zu, der ihr sagte, sie solle auf sich aufpassen. Ein zweiter Blick gebührte Enzo und war die Erklärung, auf was genau Jessika aufpassen sollte.
„Geh ruhig, mein Guter. Wir bleiben hier und warten auf die Rückkehr des strahlenden Prinzen.“ Enzo grinste breit und faltete seine Hände unter dem Tisch, aber Ian reagierte ein weiteres Mal nicht auf die Herausforderung. Der Mann hatte sichtlich ein Problem, aber es war nicht seine Aufgabe sich mit diesem zu beschäftigen.
Er ging wieder zurück ins Wohnzimmer und hoffte, dass Enzo die Ruhe bewahren würde. Dieser Mann stand am Rande des Wahnsinns und Ian hatte keine Ahnung, ob das schon immer so gewesen war, oder ob ihm die Ereignisse, die ihn hierhin geführt hatten, so beeinflussten. Die zweite Tür des Wohnzimmers führte in einen kleinen Flur, wo eine grob gezimmerte Wendeltreppe nach oben führte. Dies war keine normale Blockhütte. Soviel stand schon einmal fest. Der Eigentümer hatte bestimmt einen ganzen Batzen für ein zweistöckiges Haus mitten im menschenleeren Wald bezahlt, wenn es denn wirklich so einsam im Wald stand, wie Ian annahm. Er bemerkte, dass er immer noch so gut wie nichts über das Geschehen herausgefunden hatte und er glaubte, dass ihm die Auflösung des Rätsels nicht gefallen würde. Die hölzernen Stufen knarrten unter seinen schweren Schritten. Oben wurde es schlagartig still. Niemand bewegte sich mehr, aber Ian ging trotzdem weiter.
„Hallo“, rief er, „ist da jemand.“ Keine Antwort.
„Wenn da jemand ist, dann kommen Sie doch bitte herunter. Wir wissen nicht, wo wir sind und warum wir hier sind.“ Wieder war nichts zu hören, aber bevor Ian das Ende der Treppe erreicht hatte und es hatte fast eine ganze Minute gedauert, da er jeden Schritt mit Bedacht setzte, so als fürchtete er, die Stufen könnten unter seinem Gewicht nachgeben, erschien ein hagerer, rothaariger Mann auf dem Flur im erste Stock.
„Yeah. Hier is jemand“, gab er knarzig zur Antwort. „Und wer zum Teufel bist du?“
„Mein Name ist Ian. Gehört Ihnen diese Hütte hier?“ Ian machte auf der letzten Stufe halt und hielt respektvollen Abstand zu dem Mann, auch wenn seine schmächtige Erscheinung keinen gefährlichen Eindruck hinterließ. Er wusste, dass man in solchen Situationen immer vorsichtig sein musste, egal mit wem man es zu tun hatte. Das hatte ihn sein Job mehr als einmal gelehrt. Er hatte zwar immer nur das für ihn zweifelhafte Vergnügen die Dinge aus der sicheren Entfernung hinter seinem Computermonitor zu verfolgen, aber dennoch kannte er sie.
„Nee, glaub ich nich.“ Aus einer offenen Tür, die zu einem für Ian nicht einsehbaren Raum führte, strahlte Licht und ließ das Gesicht des Mannes, merkwürdig der Realität entrückt, leuchten.
„Verstehe. Wissen Sie dann vielleicht, wem sie gehört, oder wie wir hierhin gekommen sein könnten?“
„Nee, weiß ich auch nich. Warum soll ich das wissen. Glaubste ich hab euch geholt? Glaubste ich bin der schwarze Mann, oder son Ding. Der schwarze Mann is hier bei mir“, lachte er und trat ein Stück zur Seite.
„Komm schon schwarzer Mann. Zeig dich.“ Er lachte erneut sein hämisches Gelächter.
„Du kannst mich mal, Arschloch!“, dröhnte eine zweite Stimme zu Ian herüber. Ein großer, in einen weißen Anzug gekleideter Schwarzer stellte sich neben den Mann mit der dreckigen Lache und sah Ian an. Er hob seine linke Hand zum Gruß und gab dem Anderen mit der Rechten einen Stoß, so dass er gegen die gegenüberliegende Wand prallte.
„Was solln das?“, schrie er.
„Ganz einfach. Wenn du mich von der Seite anmachst, dann zeig ich dir, was du davon hast.“
Der Schmalere rieb sich die Schulter und grinste süffisant.
„Oh, hab Angst, schwarzer Mann.“
„Ich bin Josh. Und das da ist William. Wir sind eben hier unter großen Schmerzen aufgewacht und haben keine Ahnung, wo wir sind. Alles was ich weiß ist, dass dieses Exemplar hier“, er zeigte auf William, „ein Arschloch der aller ersten Güte ist.“
Ian machte nun den letzten Schritt und ließ die Treppe hinter sich.
„Gut. Unten sind noch zwei. Habt ihr noch weitere Personen hier gesehen?“
Josh nickte.
„Ja. Nebenan liegt noch einer. Aber der wacht nicht auf. Er wälzt sich die ganze Zeit von einer Seite auf die andere.“
„Jaa. Hab ihn angestupst, aber er rührt sich nicht“, krähte William, woraufhin Josh nur verständnislos den Kopf schüttelte. Josh war ein Riese. Unter dem strahlend weißen Anzug schätzte Ian so gut an die einhundert Kilogramm Muskelmasse. Den Kopf hatte er sorgfältig rasiert, so dass sich das Licht schimmernd darauf spiegelte.
„Wo ist er?“
William deutete mit seinem Kinn auf die offene Tür. „Da drin. Kannst ihn dir ja mal anschaun wenn du magst. Istn Süßer. Könnt dir gefallen.“ Er prustete los und sein Lachen klang künstlich und abstoßend zugleich.
„Unten sind noch zwei?“
„Ja.“
Josh und Ian gingen aneinander vorbei und ließen William, immer noch an die Wand gelehnt, an die er zuvor so unsanft gestoßen worden war, allein.
Während die anderen Räume, welche Ian bisher zu Gesicht bekommen hatte, eher leer und aufgeräumt wirkten, herrschte in diesem das blanke Chaos. Papierstapel türmten sich zu riesigen Burgen und Kartons mit allerlei Büchern bildeten undurchdringliche Mauern. An der östlichen Wand stand ein großer Schreibtisch mit einer altmodischen Schreibmaschine darauf, die unter unzähligen, zusammengeknüllten Blättern kaum auszumachen war. Gegenüber stand eine blaue Schlafcouch, auf der ein Mann lag, dessen Träume anscheinend einem unbekannten und grausamen Dunkel entsprangen, denn er wälzte sich wie im Fieber unter einer schweißgetränkten Decke. Seine Augen beschrieben unter den geschlossenen Lidern wilde Kreise und seine Finger verkrampften sich immer wieder zu grotesk verformten Fäusten.
Langsam näherte sich Ian dem Mann, wobei er versuchte flach und langsam zu atmen. Irgendwo in seinem Unterbewusstsein hatte sich das Bild eines kranken Mannes geformt.
Das schmerzhafte Erwachen war vielleicht ein erstes Zeichen einer Ansteckung und die Quelle der Krankheit ging von diesem Fremden aus.
Ein heller Schrei ließ Ian zusammenfahren. Der Mann auf der Couch krümmte sich und griff sich an die Stirn. Dann begann er mit seinen entstellten Fäusten auf sich selbst einzuschlagen. Wieder und wieder konnte man hören, wie Knochen auf Knochen stieß. Ian vergaß seine naive Vorsicht und riss die Hände des Mannes herunter, ähnlich wie er es zuvor bei Jessika getan hatte. Unter seinem Griff zuckten die Gliedmaßen des Fremden, brachten aber nicht genügend Kraft auf, um sich daraus zu befreien. Seine Haut war nass vor Schweiß und Ian hatte das Gefühl ein Stück warme Butter in den Händen zu halten.
Als die Zuckungen nachließen, lockerte Ian seinen Griff und entließ die Arme des Mannes dann vollends. Mit sorgenvoller Miene betrachtete er das zusammengefallene, fahle Gesicht. Die Lippen des Mannes waren nicht mehr als zwei blutleere, dünne Linien und sämtliche Farbe war aus seinen Wangen gewichen. Man hätte ihn für tot halten können, wären da nicht die immer wiederkehrenden Erschütterungen seines Körpers gewesen. Was war, wenn es sich wirklich um eine Krankheit handelte? Wenn Ian und die anderen so eine Art Versuchskaninchen waren? Mit diesen Gedanken rutschte das Bild der Gefangenen, die der Natur ausgeliefert waren, in ein hoffnungsvolles Licht, denn da gab es etwas, gegen das man kämpfen konnte. Hier war es die Auslieferung an etwas Unsichtbares. Hilflos. Eine steile Sorgenfalte grub sich wie eine Furche in Ians Stirn, als sein Blick auf seine Hände fiel, die durch den Schweiß des Mannes im einfallenden Tageslicht glänzten. Wenn sich in diesem Mann auf der blauen Couch ein Erreger befand, dann gab es für Ian keine Rettung mehr.
Jede Person in dieser Hütte reagierte auf die Situation mit den Eigenheiten seines Charakters. Ian selbst versuchte sich nicht von der Unwissenheit und der dahinter lauernden Angst einschüchtern zu lassen, um möglichst schnell die Hintergründe der Ereignisse zu ergründen. William antworte mit Aggressionen, Jessika mit Unsicherheit, Enzo, der anscheinend die dünnsten Nerven von allen besaß, mit Paranoia und Josh eher mit störrischer Gelassenheit. All diese unterschiedlichen Personen saßen jetzt im Wohnzimmer des Holzhauses zusammen und sahen sich gegenseitig an. Jessika, die neben Ian auf dem Sofa saß, rutschte dicht an den Iren heran, weil sie glaubte in seiner Nähe einen Teil ihrer verlorenen Sicherheit wiedererlangen zu können. Er jedoch, empfand diese Berührung eher als unangenehm. Auch wenn Jessika einen netten Eindruck machte, so war sie dennoch eine Prostituierte und damit ein Teil der Gesellschaft, den Ian konsequent ablehnte. Wenn er sie auch nur ansah, hatte er das Gefühl unzählige Krankheiten in ihr und auf ihr sehen zu können. Dennoch ließ er die Nähe zu, weil er befürchtete auch Jessika könnte den Verstand verlieren. Enzo hatte die Grenze schon lange überschritten. Seine Augen funkelten jeden an, musterten ihn und funkelten erneut. Aber die wirkliche Gefahr sah Ian in den bissigen Kommentaren Williams, welche die angespannte Stimmung zusätzlich aufladen konnten. Ein analytisches Vorgehen, zur Erkennung der Situation war dann nicht mehr möglich und Ian glaubte, dass das Geheimnis in einer Verbindung zwischen jedem einzelnen von ihnen lag. Selbst wenn die Vermutung des Versuchskaninchenexperiments griff, hatten sie wahrscheinlich alle körperliche Merkmale, die im Bezug zum Verlauf der möglichen Krankheiten standen. Aber diese Möglichkeit wollte Ian unter allen Umständen ausschließen, da es für ihn die grauenvollste darstellte. Und wenn sie der Wahrheit entsprach, würden sie es schon alle früh genug erfahren. Somit begann er mit seinen Überlegungen an einer anderen Stelle. Ian betrachtete Enzo, den Bettler, der keiner war. Dann warf er einen Seitenblick auf Jessika, deren Beruf mit ihren kurzen Rock und dem überschminkten Gesicht völlig außer Frage stand. Zudem hatte sie mit ihren Kommentaren Ians Vermutung bestätigt. Josh hingegen war schwerer einzuordnen. Der große Schwarze mit dem kahlen Schädel trug einen weißen, feinen Anzug, der seinem Auftreten einen noch stärkeren Eindruck verlieh.
„Was machen Sie eigentlich, Josh? Ich mein, wenn Sie nicht gerade auf Waldurlaub in einer Hütte sind?“ Ian versuchte die Spannung zu lockern und gleichzeitig etwas mehr zu erfahren.
„Das Sie können wir uns vielleicht sparen. Vor allem, wenn du mich sowieso mit Josh ansprichst. Also, wenn ich mal nicht meine Zeit mit wilden Ausflügen in die freie Natur verbringe, dann bin ich Musiker.“
„Ehrlich?“, fragte Jessika und beugte sich interessiert nach vorn. „Kennt man Sie, ähm dich, vielleicht?“
„Glaub ich nicht. Ich halte mich eher im Hintergrund. Ich bin der, der singt, wenn die Sänger nicht singen können.“
Jessika guckte skeptisch.
„Nur weil jemand in Musikvideos und auf Plattencovern zu sehen ist, heißt das noch lange nicht, dass er auch singen kann, beziehungsweise es auch tut.“
Jetzt verstand sie. „Hab ich mir gedacht. Geht man nach den Bildern, scheinen nur Menschen mit einem Traumkörper singen zu können.“
„Ja. So in der Art.“
Eine Stille folgte, in der man nur das Rascheln der Bäume und das ununterbrochene Summen hören können. Ian hätte schwören können, dass das Geräusch in den vergangenen Minuten immer lauter geworden war.
„Und du? Häh? Was machtn son Typ wie du?“ William starrte Ian mit aufgerissenen Augen an. „Kann ja sein, dass du was Interessantes machst?“
„Ja. Vielleicht bist du ja derjenige, dem wir das alles hier zu verdanken haben?“, mischte sich auch Enzo ein, wobei ihm seine langen Haare vor die Augen fielen.
Ian spürte die Blicke aller Anwesenden auf sich ruhen.
„Ich bin eine Art Analytiker. Ich arbeite für den Staat und treffe quasi schnelle und wichtige Entscheidungen.“
„Yeah. Ein hohes Tier. Hab ichs nicht gesagt?“
„Kann man so nicht sagen“, begann er zu beschwichtigen. „Es geht da mehr um Schadensbegrenzung, als um Entscheidungen, die sich mit dem eigentlich Staat beschäftigen.“
Jessika legte ihm eine Hand auf das Knie und sofort überkam Ian ein Ekel auf Grund der ungewollten Berührung. Er nahm die Hand der Frau mit spitzen Fingern und legte sie zurück. Jessika betrachtete seine Berührung. Er sah so aus, als fiele es ihm sichtlich schwer sie anzufassen.
„Verstehe“, murmelte sie nur und sah den Iren abschätzend an.
„Also, stellen wir uns mal vor, mitten in einer großen Stadt liegt eine Bombe, die alle Bereiche dieser Stadt mit einbeziehen würde. Für eine Entschärfung ist nicht genug Zeit. Es bleibt nur die Möglichkeit die Bombe wegzuschaffen. Aber nur soweit, dass auf jeden Fall ein Teil der Stadt zerstört werden würde.“
„Und wo genau liegt da deine Aufgabe“, unterbrach ihn Josh.
„Da komme ich jetzt zu. Man weiß, dass im Süden der Stadt die meisten Menschen leben. Im Norden ist die Industrie. Im Osten ist gibt es nicht so viele Menschen und auch nicht so viele Fabriken, dafür sind aber genau dort die Vertreter einiger Staaten zu Besuch. Und im Westen schließlich liegen Einrichtungen, wie die Wasserversorgung. Es muss also entschieden werden, wo die Bombe explodieren soll.“
Zuerst blieb alles ruhig, bis Jessika ihre Hand erneut, diesmal betonend, auf Ians Knie legte.
„Wo liegt denn da die Frage? Die Industrie natürlich. Lässt sich doch alles ersetzen!“
Ian nahm ihre Hand, diesmal mit festem Griff, und drückte sie zur Seite.
„Wirklich? Vielleicht haben wir ja da den größten Produzenten von Insulin. Oder den Hauptzulieferer eines Betriebes, dessen Bestehen Millionen Arbeitskräfte auf der ganzen Welt sichert. Ich muss also innerhalb kürzester Zeit alles an Informationen zusammenkriegen, was mir möglich ist und dann entscheiden.“
„Kalt“, sagte Jessika und blickte ihn finster an, „solche Entscheidungen können nur Menschen mit einem kalten Herz fällen.“
Ian nahm ihr diesen Kommentar nicht übel, auch wenn sie mit einer gewissen Doppelmoral zu beurteilen schien. Konnte denn eine Prostituierte ein warmes Herz haben? Das bezweifelte Ian aufs Entschiedenste.
„Hä hä.“ Williams dreckiges Gelächter nahm die Spannung, die sich gegen Ian im Raum aufzubauen begonnen hatte.
„Ich fälle auch Entscheidungen. Hab ne Datenbank voller Leute, die nen Mensch fürs Leben suchen.“
„Eine Partnervermittlung?“, fragte Josh amüsiert.
„Yeah. Genau das. Ich entscheide, wer mit wem in Kontakt tritt. Glaubst gar nicht, wie verzweifelt so manche Frau ist. Ich mein, verzweifelte Männer können ja immer noch zu Jessika gehen, aber Frauen wenden sich an Kerle wie mich.“
Er lachte wieder und schenkte der Frau in dem kurzen Rock, die ihm gegenübersaß und zum Sprung bereit schien, keine Aufmerksamkeit.
Ian war auf der falschen Spur. Im beruflichen Leben würde er wohl keine Gemeinsamkeiten erkennen können. Und der Unbekannte oben war wahrscheinlich Autor, oder so etwas, und passte damit genauso wenig in ein Schema wie alle anderen.
„Dieses verdammte Summen. Ich dreh bald durch, wenn das nicht aufhört!“, schrie Enzo und hielt sich krampfhaft die Ohren zu. Dann sprang er auf und Jessika keuchte erschrocken auf.
„Ich will jetzt wissen, wo wir sind und wo dieses Geräusch herkommt. Verdammtes Summen!“
Enzo rannte durch das Zimmer, hinaus in den Flur und öffnete dort die schwere, messingbeschlagene Tür nach draußen. Ein frischer Herbstwind wehte in das Innere der Hütte und brachte die würzigen Gerüche des Waldes mit hinein. Gleichzeitig schwoll das Summen zu einem bedrückenden Brummen heran und Ian fragte sich, ob es wirklich nur die geschlossene Tür war, die das Geräusch verschluckt hatte, oder ob es mit einem Mal an Intensität gewonnen hatte. Vor allem war es sehr merkwürdig, dass erst jetzt jemand dem Impuls gefolgt war nach draußen zu gehen. Sollte es nicht eine der ersten Ideen gewesen sein, nachzuschauen, ob man eingeschlossen war und wo man sich genau befand? Ian dachte aber nicht weiter darüber nach, sondern rannte Enzo hinterher, der nun die ersten ruckartigen Schritte vor die Tür machte. Das Haus wurde von einem kleinen Hügel, einer Art Wall, umrundet, auf dem der Wald seinen Anfang nahm. Ein Eichhörnchen, das auf Futtersuche war, wurde von Enzo aufgeschreckt und flüchtete in einen Tannenbaum, dessen grüne Nadeln aus dem vorherrschenden Braun des Herbstes herausstachen. Aber man konnte das Tier nicht hören. Kein Laut, weder ein Rascheln, noch ein erschrockener Schrei durchdrangen das Brummen, welches von jenseits des Hügels zu kommen schien. Von allen Seiten dröhnte das Geräusch auf sie ein.
„Irgendwo dahinter. Irgendwo dahinter.“ Enzo verfiel in einen melodischen Singsang, aber seine Stimme war nur schwer zu hören. Auch die Anderen kamen jetzt nach draußen und beobachteten den Langhaarigen, wie er sich auf den Weg in den Wald machte.
„Hinter diesem verdammten Hügel ist das verdammte Summen! Vielleicht gibt es da einen Schalter, mit dem man es einfach abstellen kann.“
„Warte!“, schrie Ian ihm mit den Bild eines Jägers im Gebüsch vor Augen hinterher. War das die Lösung? Wollte man sie mit dem Brummen aus dem Haus herauslocken, damit man sie dort wie wilde Tiere jagen konnte? Aber Enzo schien sich solche Fragen nicht zu stellen. Unbeirrt lief er weiter und stolperte dabei fast über eine Wurzel.
Ian haderte. Dachte nach. Ging dem Mann, den er bis vor kurzem noch nie in seinem Leben gesehen hatte, aber schließlich dennoch hinterher. Er umrundete die ersten Bäume und machte einen weiten Ausfallschritt über die wurzlige Stolperfalle hinweg. Enzo stand auf dem höchsten Punkt des Hügels und bewegte sich nicht mehr. Ian blieb stehen und sah den Mann abwartend und mit einem schlechten Gefühl in der Magengegend an.
„Was ist los?“, schrie Jessika hinter ihnen, doch sie konnten ihre Worte nicht hören. Das Brummen vergrub jeden Laut wie eine Lawine unter sich.
Beobachtend und zaghaft ging Ian weiter. Schritt für Schritt schlich er den Rest des Hügels hinauf, die Augen auf Enzo gehaftet. Ian konnte sehen, dass Enzo auf etwas starrte, aber sein Blick war nicht fest. Er schweifte entlang einer Linie und als Ian auf gleicher Höhe war und dem Blick des Mannes folgte, wagte auch er nicht sich zu rühren. So etwas hatte er noch nie gesehen.
Grün. Was er dort vor sich sah, war tiefgrün und erinnerte entfernt an Algenwälder, die er schon einmal im Fernsehen gesehen hatte. Der Unterschied lag jedoch darin, dass hier kein Wasser existierte und das es zwischen den Bäumen keinen Wind gab, der den dichten Wald bewegen konnte und doch schaukelten die dicken, dicht stehenden Halmen ähnlichen Gebilde leicht hin und her. Sie bildeten eine undurchdringliche, grüne Wand. Die Halme wuchsen senkrecht in die Höhe und dort, wo sie an Bäume stießen, wickelten sie sich wie Ranken arabesk um die Stämme und Äste und verschluckten sie. Bis in die höchsten Spitzen reichte das Grün und ab und zu glaubte Ian, dass sich dahinter etwas bewegte. Es dauerte auch einige Sekunden, bis er begriff, dass das stetige und lauter werdende Summen in diesem Grün seinen Ursprung hatte. Seine Ohren machten die Quelle hinter dieser Wand ausfindig und jedes Mal, wenn wieder ein schneller Schatten, wie vor einer von hinten beschienenen Papierwand, vorbeihuschte, schwoll das Geräusch genau an dieser Stelle an und folgte der Bewegung. Wie das Brummen eines Autos, das schnell an einem vorbeifuhr.
„Gott, verdammt“, entfuhr es ihm. Das Merkwürdigste bestand jedoch in der Tatsache, dass diese grüne, pflanzliche Wand etwas Bekanntes an sich hatte. Ian hatte das Gefühl schon irgendwann einmal mit diesem Phänomen in Berührung gekommen zu sein. Nicht in einer Weise, dass er sie gesehen, gehört, oder ertastet hätte, sondern sie war einfach als etwas Gespeichertes in seinem Bewusstsein vorhanden. Systematisch ging der Analytiker seine Erinnerungen durch und traf immer wieder auf Lücken, welche ihm zuvor nie wirklich aufgefallen waren. Er erinnerte sich an alle wichtigen Ereignisse in seinem Leben. Ereignisse die seinem Leben grundsätzlich eine Wendung gegeben hatten. Aber Bilder von kleinen Erlebnissen, oder Geschichten, an die man sich trotz ihrer Irrelevanz erinnerte, waren kaum vorhanden. Auf seiner Stirn bildete sich wieder die bekannte Sorgenfalte, die immer dann auftauchte, wenn Ian sich mit Dingen konfrontiert sah, welche er nicht deuten konnte; jene die er nicht erklären konnte.
„Enzo? Hast du so was schon mal gesehen?“
„Ich weiß nicht. Ich weiß es wirklich nicht“, stotterte er und Ian sah ihm an, dass er sich mit den gleichen Gedanken wie er selbst beschäftigte. War diese grüne Wand der Zusammenhang? Aber bevor er weitere Fragen formulieren konnte, ging Enzo weiter vorwärts und zog damit Ians gesamte Aufmerksamkeit auf sich.
„Was hast du vor?“
„Ich will wissen, was dahinter ist. Will das Summen abstellen!“ Er sprach monoton, so dass es Ian an einen Hypnotisierten erinnerte.
Enzo stolperte bergab der grünen Wand entgegen und blieb kurz davor stehen, die Hände immer noch auf die Ohren gepresst. Ian hatte Millionen Insekten vor Augen, die unerlässlich im Dickicht des Grüns hin- und herflogen. Ihre Flügel peitschten durch die Luft. Wieder und wieder. Das Bild verschwand, als Enzo sich bückte und Ian zu ihm herüberwinkte. Aber Ian folgte nicht. Alles in ihm wehrte sich dagegen, sich diesem unaussprechlichem Grün zu nähern. Mittlerweile waren auch die Anderen auf der Hügelspitze aufgetaucht und betrachteten voller Unglauben das Fantastische, welches sich unter ihnen wie ein undurchdringlicher Wall ausbreitete.
„Einer sollte da runter gehen“, schrie Jessika dem Summen entgegen.
„Was?“
„Geh doch mal da runter!“ Ian konzentrierte sich auf ihre rot geschminkten Lippen und verstand, aber das Grün wirkte wie ein umgedrehter Magnet. Ian war ein Pluspol und die Wand war es auch. Aber er ging. Sirenengleich schwirrte der riesige Insektenschwarm durch seinen Kopf und machte ihn gefügig. Für Gedanken, die einen eigenen Willen ausdrückten war dort kein Platz mehr. Vorsichtig bewegte er sich über den losen Waldboden auf dem das Laub meterdick zu liegen schien und kniete sich dann neben Enzo.
„Sieh dir das an!“, brüllte er und deutete auf eine kleine Erhebung auf dem Boden. Der winzige Berg wuchs in Zeitraffer heran, Risse bildeten sich auf seiner Oberfläche und platzten schließlich ganz auf. Ein schwaches Grün schimmerte aus seinem Inneren. Ein Grün, das sich aus dem Boden schlängelte und in die Höhe wuchs. Man konnte der Zunahme an Dicke und Größe mit den Augen folgen. So schnell, dass binnen dreißig Sekunden die Spitze des neuen Halms auf Augenhöhe war. Enzo griff nach ihm und riss ihn ab. Nachdenklich rieb er das Gewächs zwischen seinen Fingern, wendete es immer wieder und roch daran.
„Es fühlt sich fast an wie Gummi, riecht aber nach Gras!“
Ian nahm den Halm entgegen, als Enzo ihm diesen reichte. Er hatte recht. Es fasste sich in der Tat fast wie Gummi an, nur das es sich bei diesem Stück in seinen Händen um ein Gras handelte und nicht um das umgangssprachliche Blut eines Kautschukbaumes.
Das abgerissene Stück störte das weitere Wachstum jedoch in keiner Weise. Das algenähnliche Gras schoss weiter zu den Wipfeln der Bäume hinauf und immer mehr Hügel erschienen auf dem Boden, die aufplatzten und neue Halme hervorbrachten.
„Wir sollten hier weg“, schrie nun Ian. „Ich hab so das Gefühl, das Ding wächst uns entgegen!“
Aber Enzo schien ihn nicht zu hören oder wollte es nicht. Sein Gesicht hatte auf einmal den Ausdruck ungläubigen Verstehens angenommen.
„Ich kann sie hören“, stammelte er lautstark.
„Ich kann sie hören. Es sind Stimmen.“
„Was?“ Ian holte tief Luft.
„Komm mit. Sie sind dahinter!“
Enzo streckte seine Arme aus und schob die Halme vor ihm zur Seite. Die Schatten stoben auseinander und brüllten in ihrem sonoren, summenden Singsang laut auf, als ein Loch in der grünen Wand klaffte.
„Siehst du. Sie sind dahinter und sprechen mit uns.“
„Enzo! Nein!“ Ian versuchte nach ihm zu greifen, doch Enzo schüttelte seine Hand einfach ab. Das Summen rauschte und stürmte nicht mehr nur länger in Ians Ohren. Es war mitten in seinem Kopf und entfachte dort ein Feuer des Wahnsinns, das alles zu vernichten drohte. Die Welt brach über ihm zusammen. Er schlug die Hände über den Kopf und schrie vor Schmerzen auf. Das Summen schwoll an, senkte sich dann wieder und wurde erneut stärker. Ein brummendes Gelächter, dass höhnisch von allen Seiten auf ihn eindrang.
Mit diesem Konzert unmenschlicher Laute begann sich das Grün zu bewegen. Die Gräser schlangen sich um Enzos Arme, der nicht mehr wusste wie ihm geschah. Alles passierte im Bruchteil einer Sekunde und stellte sich vor Ians Augen wie einzelne Bilder dar, die nach und nach präsentiert wurden. Die Diashow zeigte das Gras, wie es seine tausend gummiartigen Arme nach dem langhaarigen Mann ausstreckte und ihn zu sich hineinzog. Ian erkannte deutlich, dass es sich nicht nur um eine dünne Wand handelte, sondern das dort, wo Enzo verschwand, in der Tiefe, nur noch mehr Grün war. Dann endete die Diashow so schnell, wie sie begonnen hatte. Das Loch in der Wand schloss sich und das Summen wurde leiser und verschwand damit aus dem Inneren von Ians Kopf. Immer noch dröhnten die Laute wie Bassgehämmer auf ihn ein, kamen aber eindeutig aus Richtung der Wand. Panisch rannte Ian den Hügel wieder hinauf, nur darauf bedacht so schnell wie möglich eine größtmögliche Distanz zwischen sich und das Grün zu bringen.
Ungläubigkeit stand in den Gesichtern der Anderen geschrieben und sie alle hatten noch eine weitere Gemeinsamkeit. Sie wollten so schnell wie möglich wieder zurück in die Hütte, unterdessen die Schatten hinter dem grünen Wall wild nach ihnen zu rufen schienen.
„Was zur Hölle ist das?“ Es war William, der als erster das Wort ergriff und die Frage stellte, die allen auf der Zunge lag. „Ich will wissen was das war!“
Aber keiner antwortete, weil keiner eine Antwort hatte.
Sie saßen erneut zusammen im Wohnzimmer und versuchten aus dem Traum aufzuwachen, den sie alle zu haben glaubten. Jessika zitterte wie ein Kind, William wippte wie ein Verurteilter, der auf seinen letzten Augenblick wartete auf seinem Stuhl vor und zurück und Josh begann die neben dem Kamin aufgestapelten Holzscheite im Kamin zu arrangieren.
„Stellt es ab! Stellt es ab!“ Jessika hätte sich am liebsten ihre Ohren vom Kopf gerissen. Blutende Wunden und brennende Schmerzen waren ihr willkommener als dieses stetige Summen, das aus dem todbringendem Grün kam.
„Was war das? Was war das Ian?“ Die Stimme der Frau riss Löcher in den monotonen Insektengesang.
Ian betrachtete den Halm, den Enzo ihm kurz vor seinem Verschwinden gegeben hatte.
„Ich weiß es nicht“, sagte er ehrlich und wünschte sich eine bessere Antwort zu besitzen. Aber der grüne Wall, der dort draußen im Wald in ihre Richtung wuchs, ließ sich von seinem Verstand nicht analysieren. Diese Tatsache machte ihn nervöser und ängstlicher, als der Umstand, dass so etwas wie ein summendes, menschenverschluckendes Grün überhaupt existierte. Im Hintergrund fischte Josh in seinem weißen Sakko nach einem Feuerzeug und begann das Feuer im Kamin zu entzünden.
„Wie um Gottes Willen kannst du jetzt an Feuer denken?“ Jessika wusste selbst nicht, ob diese Frage ernst gemeint war, aber das Richten ihrer Angst auf etwas anderes als auf das Grün und auf sich selbst, half ihr bei klarem Verstand zu bleiben.
„Ich glaube einfach, dass es hier in den Wäldern sehr kalt werden kann und wenn du mal rausschaust, Kind, dann erkennst du, dass es dunkel wird. Wahrscheinlich dauert es hier noch ungefähr eine viertel Stunde und es ist dunkel. Ich dachte mir, dass auch in dieser Hinsicht ein Feuer enorm nützlich wäre.“
„Arroganter Klugscheißer!“ Sie spie das Wort wie saure Galle aus. „Nenn mich nicht Kind!“
„Yeah, wie soll er dich denn nennen? Schätzchen, Baby, oder doch einfach Schlampe?“, kicherte William, wobei sich sein Lachen immer mehr zu einer Alptraumversion von Bonzo dem Clown wurde. Bonzo der Clown, der mit seinen großen Schuhen und seiner roten Nase alle Kinder in der Nachbarschaft Jessikas glücklich gemacht hatte. Dessen Lachen ansteckte und vor dessen farbigen Luftballons man sich nicht verstecken konnte. Jessika wünschte sich wieder ein Kind zu sein. Erst ängstlich, dann euphorisch. So war sie als Kind gewesen. Als sie den Clown das erste Mal gesehen hatte, da hatte sie sich hinter der Couch ihrer Eltern versteckt. Das bunte, lachende Ding war ihr unheimlich und fremd gewesen. Aber zwei Stunden später hatte sie an seiner weiten Trägerhose gehangen und hatte ihn angefleht zu bleiben.
Bonzo der Clown hätte ihr auch in dieser Situation ein Lächeln auf die verzerrten Lippen malen können, aber der einzige Clown, der anwesend war, war William, dessen Lachen einen merkwürdigen Gleichklang mit dem verhängnisvollen Summen annahm, das sich immer tiefer in den Verstand der jungen Frau bohrte. Das Schicksal hatte sie schon oft bestraft. Es hatte sie von einem guten Elternhaus auf die Straße verbannt und hatte sie dort gezwungen ihren Körper zu verkaufen. Der Ekel, den die ersten Männer bei ihr hinterließen war mit nichts vergleichbar, dass sie je im Leben gefühlt hatte. Und jetzt, wenn sie an die schrecklichen Stunden in stinkenden Betten und unter stinkenden Körpern zurückdachte, da gingen diese Bilder einher mit einem Geräusch, das sie vor ungefähr einer Stunde zum ersten Mal gehört hatte. Aber Bild und Ton gingen in ihrer Erinnerung so unbekümmert Hand in Hand, dass es ihr gar nicht in den Sinn kam, dieses Geräusch bei den vergangenen Hurendiensten einmal nicht gehört zu haben.
„Du bist ein mieses Arschloch, du dreckiger Wichser!“
„Oh, ein Wichser bin ich. Kannst ja Abhilfe schaffen. Magst mal meinen Schwanz lutschen? Bist bestimmt toll. Übung macht ja den Meister.“ Er krächzte und gackerte, wie er es schon immer getan hatte. Hätte Ian von seiner Geschichte gewusst, dass er einmal ein begnadetes Klaviertalent gewesen war, aber dass Drogen ihn auf die falsche Bahn gebracht hatten, hätte er nur verwundert den Kopf geschüttelt. Die Geschichten der Anwesenden glichen der klischeebeladenen Arbeit eines Autors, der seine Ideen nicht gerade aus einem Fundus überschäumender Kreativität gewann. Auch Ians bewegte Vergangenheit war ein Beispiel unerklärlicher Zufälle, die wie die Räder eines gut geschmierten Zahnrades ineinander griffen. Aber hätte Ian sich wirklich solche Gedanken gemacht, dann wäre er später sicherlich überrascht gewesen, wie nahe er mit diesen Überlegungen der Wahrheit gekommen war.
„Klar. Wir können es ja mal versuchen, aber ich glaub kaum, dass sich meine Lippen zu deiner Zufriedenheit um deinen winzigen Pimmel schließen können!“
Jetzt lachte William nicht. Sein Clowngesicht verkam zu einer grimmigen Maske.
„Bei diesem riesigen Drecksmaul glaub ich das auch. Hast wohl auch viele Ärsche geleckt. Glaub, die Scheiße klebt dir noch auf der Zunge!“
Jessika sprang auf. Die Spannungen entluden sich und es würde nicht mehr lange dauern, bis die ersten sich an die Gurgel gehen würden. Ian hatte auch Angst davor, dass er selbst dazugehören könnte. Er fühlte, wie ihm die Beherrschung immer weiter entglitt. Nichts hätte er lieber getan, als die Anderen zu beschimpfen, sie zu denunzieren und vielleicht sogar mit Gewalt schweigsam zu machen. Er empfand bei dieser Vorstellung sogar eine tief gehende Befriedigung, deren Wärme jener glich, welche nun vom Feuer ausging, das im Kamin zuckend brannte. Die noch kleinen Zungen leckten gierig am trockenen Holz und umschlangen es wie eine Geliebte. Ian ging zu Josh, der die tanzenden Zungen nachdenklich betrachtete, kniete sich vor den Kamin und warf den abgerissenen Halm auf das noch schwelende, obere Holz. Die Flammen wuchsen heran, nahmen den Rest der Scheite gefangen und verschluckten die braune Farbe der ehemaligen Eiche. Braun wurde zu Schwarz und Rot, aber das Grün des Halmes blieb. Das Feuer vermochte es nicht zu greifen. Unbewegt leuchtete es grün im heißen Widerschein wider und hätte Ian es den Flammen mit einem Mal entrissen, so wäre ihm aufgefallen, dass der Halm eine eisige Kälte verströmte, so als kühle er mit jedem steigenden Grad seiner Umgebung um die gleiche Temperatur ab.
Aber auch die Feuerfestigkeit des immergrünen Mysteriums überraschte ihn nicht. Nichts hätte ihn an diesem Grün noch überrascht. Schweigsam zog er sich wieder auf das Sofa zurück und versank in den Gesichtern der Anderen, welche alle die Emotionen widerspiegelten, die sich dahinter abspielten. Angst, Unwissenheit und nun auch Wahnsinn, denn das Summen raubte ihren Verstand. Es war wie ein gieriger Vampir, der das Blut bis auf den letzten Tropfen aussaugte.
Ein Vampir der sprach.
„Es sind Stimmen“, fielen ihm Enzos Worte wieder ein. Ian konzentrierte sich auf die grässliche Symphonie. Der Flügelschlag tausender und abertausender Insekten war erneut der erste Vergleich, der sich in seinem malträtierten Verstand auftat. „Stimmen, Stimmen, Stimmen...“. Das immer gleiche Wort sprudelte wie ein Gebet aus ihm heraus.
Jessika und Josh konzentrierten sich nicht länger aufeinander, sondern starrten den Iren ungläubig an.
„Stimmen. Es sind Stimmen. Gottverdammte Stimmen.“
„Was für Stimmen?“ Josh hatte den Kamin hinter sich gelassen und stand mit dem Rücken zum Bücherregal. Die Sonne warf nur noch ihr Restlicht in die Hütte und das würde bald vollkommen erlöschen.
„Na Stimmen“, sagte er nur und versuchte weiter den beherrschenden Eindruck des Flügelschlags zu zerschlagen.
Je mehr er in das Summen wie in einen großen See hineintauchte, desto sicherer war sich Ian eine Art Rhythmus herauszuhören.
„ssss sss ssssssss, ssss sss ssssssss, ssss sss ssssssss“, summte es von draußen herein.
„Sie sagen etwas.“
„Was? Wer sagt was?“ Das Lachen war William ein für allemal vergangen, als er in das Gesicht des Iren schaute, das verkrampft in einer anderen Welt zu existieren schien.
„ssis iss sisssiss.“
“Hört ihr das?”, fragte Ian mit einem wahnsinnigen Funkeln in den Augen. Es war dasselbe Funkeln, dass er selbst bei Enzo gesehen hatte, als dieser am Küchentisch gesessen hatte und von den Schreien erzählte.
„seis iss sisssiss?“
“Sie fragen etwas.”
Ian stand auf und lief in den Flur, riss die Tür auf und stürmte hinaus. Jessika schrie panisch auf. Sie glaubte, Ian würde wie ein Zombie auf den Wall zulaufen und von ihm verschluckt werden. So wie es bei Enzo gewesen war, aber Ian blieb vor dem Hügel stehen, auf dessen Kuppe die grüne Wand mittlerweile angekommen war. Williams Augen weiteten sich vor Entsetzen, als er begriff, dass das Grün tatsächlich immer näher kam und dass es in einer Geschwindigkeit wuchs, wie er es nur aus in Zeitraffer aufgenommenen Naturfilmen kannte.
Ian stand dort in der schwindenden Abenddämmerung. Der Wind spielte mit seinem Haar und zerzauste es auf eine Weise, dass es nach allen Seiten hin abstand. Der Ire veranschaulichte das Bild eines Irrenhausinsassen der zwanziger Jahre.
„seis ihr sirssish?“
„Sie fragen uns etwas“, schrie er dem Lärm und den Anderen hinter sich entgegen.
„Wer zum Teufel sind sie?“ Jessika war wirklich nur noch das Kind, das nichts so sehr liebte wie Bonzo den Clown. Sie war in sich selbst zusammengesackt, weil die Angst ihr die Kraft für einen aufrechten Gang entsagte.
„seis ihr wirksish?“
Ian drehte sich um. Die Augen geweitet, den Mund zu einem stummen Oh aufgerissen.
„Ich weiß, was sie sagen“, flüsterte er. Und auch wenn niemand der anderen seine Worte verstehen konnte, wussten sie dennoch, was er herausgefunden hatte. Hinter Ian sprang der Boden an unzähligen Stellen weiter auf und ließ die grüne Saat gedeihen. Und hinter dieser bewegten sich die Schatten, summten ihr Lied und riefen ihre unablässige Frage.
„Seid ihr wirklich?“
„Und warum sollte man uns das fragen?“
Stille.
„Du scheinst hier ja anscheinend mehr mitzubekommen als wir, also verrat uns doch bitte was hier los ist.“
Jessika trommelte mit ihren Fingern auf dem Küchentisch und wartete darauf, dass Ian ihr irgendeine Antwort gab.
„Das ist doch total daneben“, brummte William, während er in den Schränken nach etwas Essbarem suchte.
„Wie kannst du jetzt nur ans Essen denken?“
„Wie kannst du jetzt nur ans Essen denken?“, äffte William die junge Frau in dem kurzen Rock nach, die jetzt auch mit ihrer anderen Hand auf dem Tisch trommelte.
„Boah, du kannst mich mal!“
„Hättest du wohl gern!“ Ein heiseres Lachen mischte sich unter das Klirren von Konservendosen. Aber es klag herausgepresst und falsch.
Josh blieb still. Seine Augen waren geringschätzend, seine Mimik unbewegt.
„Ganz und gar nicht. Ich würde jeden anderen Mann in ganz Frankreich dir vorziehen!“
„Ha! Gut, dass wir hier nicht in Frankreich sind, was?“
William nahm eine Kerze vom Tisch und leuchtete damit die hintere Ecke des großen Schrankes aus. Die kleine Flamme warf zittrige Schatten auf sein Gesicht, das im Dunkeln verloren und einsam wirkte.
„Was? Was soll das heißen? Wir sind nicht in Frankreich?“
Ian hob seinen Kopf und für einen Augenblick wurden die Frage nach ihrer Wirklichkeit, die unaufhörlich von draußen auf ihn einstürmte, wieder zu jenem monotonem Summen, dass es einmal gewesen war und für die Anderen immer noch war.
„Das hier is Russland, Süße. Guck mal raus. Sieht der Wald wie Frankreich aus? Hä?“
„Ich glaube auch nicht, dass das hier Russland ist.“ Ian hatte nichts mehr gesagt, seitdem er das Summen als Frage erkannt hatte. Umso fremder klang nun seine Stimme.
„Wie meinst du das?“, fragte Jessika ungläubig.
„Ich bin Ire.“ Er machte eine Pause. „William, du bist also Russe und du Jessika bist Französin?“
Beide nickten.
„Und du Josh? Wo kommst du her?“
Der große Schwarze in dem weißen Anzug blickte Ian mit hartem Blick an, dem ein paar Sekunden lang nichts weiter folgte. Die Stille, die eigentlich keine war, war greifbar und es war deutlich zu spüren, dass diese Frage von Josh nicht willkommen geheißen wurde.
„Ich bin Amerikaner“, flüsterte er fast unhörbar in das Summen hinein.
„Ich nehme mal einfach an, dass Enzo dann vielleicht Italiener war, wenn wir mal von seinem Namen ausgehen.“
„Sehr gut Watson, aber wie hilft uns das weiter?“, wühlte sich Jessikas Stimme in Ians überstrapazierten Verstand, der sichtlich Mühe hatte sich zu konzentrieren.
„Das sagt uns, dass diese Hütte hier überall stehen könnte. Niemand von uns ist im Urlaub. Das hatten wir schon geklärt. Also hat man uns alle über unzählige Kilometer hin verschleppt.“
„Mein Gott“, entfuhr es Jessika. „Das heißt...“.
„Das heißt eigentlich gar nichts. Etwas viel Beunruhigenderes steht dahinter.“
„Und zwar?“ Josh betonte jedes einzelne Wort.
„Wie kommt es, dass wir uns alle ohne Probleme verstehen?“
Die Frage stand offen im Raum und ihre Bedeutung wurde Jessika und William nur langsam bewusst. Josh war es, dessen Miene sich sofort aufhellte und in dessen Augen Ian Argwohn und Überraschung ausmachen konnte.
„Versteht ihr? Dass Josh und ich uns verstehen ist nicht wirklich spektakulär. Ich bin Ire und er Amerikaner. Wir müssten zwar so was wie einen Dialekt heraushören können, aber ansonsten dürften wir uns einwandfrei verständigen können. Aber du Jessika. Sprichst du denn nicht eigentlich Französisch? Und William? Sprichst du immer Englisch?“
„Ich, ich kann gar kein Englisch“, stotterte er verlegen.
„Ich schon.“
„Aber ich spreche die ganze Zeit Französisch. Warum sollte ich etwas anderes sprechen?“
„Willst du jetzt damit sagen, dass wir alle einer Art Gehirnwäsche unterzogen worden sind und jetzt alle die gleiche Sprache sprechen. Von jetzt auf gleich?“
Josh stellte sich direkt in den Schein einer kleinen Öllampe, die sie auf der Fensterbank entzündet hatten und deren flackernde Flamme sich im blinden Glas widerspiegelte. Sein Blick hatte etwas von einem angriffslustigen Tier, aber Ian hielt ihm stand.
„Nein. Das will ich nicht. Aber ich will damit sagen, dass hier Dinge vorgehen, die sich nicht so einfach erklären lassen.“
Josh kam nicht dazu, seine verbale Herausforderung gegen Ian fortzusetzen, denn William ließ eine Konservendose fallen, deren dumpfer, metallischer Aufprall Jessika einen spitzen und überraschten Schrei entlockte.
„Wasn das hier fürn Scheiß?“, schrie er mit sich überschlagender Stimme. Eine Stimme, die er zum letzten Mal bei sich selbst gehört hatte, als sein eigener Vater seine Mutter umgebracht hatte. William hatte als junger Mann alles mit ansehen müssen und in einem Affekt hatte er seinen Vater von seiner blutüberströmten Mutter weggestoßen. Er strauchelte, mehr vor Überraschung, als durch die Wucht es Stoßes und fiel mit dem Hinterkopf direkt auf eine Stuhllehne, die ihm das Genick brach. William stand über seiner Mutter, die langsam durch eine tiefe Messerwunde verblutete und blickte auf seinen Vater, dessen Kopf merkwürdig verdreht war. Ein paar Sekunden hatten Williams Leben verändert. So sehr verändert, dass er für sich nur noch die Chance in der Flucht sah. Er lief aus dem Haus, ertränkte seine Verzweiflung in Alkohol und klappte schließlich mitten auf einer vielbefahrenen Straße mitten in Moskau zusammen. Dort wurde er gefunden, angeklagt und eingesperrt. Und allem ging eine Frage an seinen Vater voraus, als er diesen mit erhobenem Messer in der Küche des eigenen Hauses stehen gesehen hatte. William hatte seine vor Angst zitternde Mutter angesehen und dann seinen Vater.
„Wasn das hier fürn Scheiß?“ Eine Frage mit überschlagender Stimme, auf die er nie eine Antwort erhalten hatte und er glaubte auch nicht, dass sich die Situation in der Hütte aufklären würde. Er stürmte aus der Küche hinaus. Wut und Angst hatten sich seiner bemächtigt und kontrollierten sein Handeln. Das Summen des Waldes zog wie ein Sturm über ihn hinweg und drückte ihn mit einer Gewalt nieder, dass William wieder der Junge war, der auf seine sterbenden Eltern herabblickte. Unfähig zu denken, unfähig seine Emotionen zu kontrollieren, stieß er einen rauen, kraftvollen Schrei aus, den Jessika physisch so sehr spürte, dass ihre Muskeln unter seiner Wucht nachzugeben drohten. Ian griff ihr unter die Arme und vermied damit, dass sie von dem Küchenstuhl rutschte und vielleicht so unglücklich fiel, wie es vor vielen Jahren Williams Vater passiert war.
Als Ian von der Küche ins Wohnzimmer trat, sah er William am Boden kauern. Wie ein niederes, verängstigtes Tier hockte der Mann, der zuvor ein dreckiges Arschloch gewesen war, wie es Jessika ausgedrückt hätte, in der Mitte des Zimmers und ließ seinen Tränen freien Lauf. Das prasselnde Feuer, dessen Geräusch mit den Lauten des grünen Walls vor ihren Fenstern einherging, tauchte William in ein warmes Orange.
„Hey, William“, sprach Ian so leise und ruhig den gebrochenen Mann, der die Situation nicht länger verkraftete, an.
„Alles in Ordnung?“ Die Frage hörte sich so farcenhaft an, so wie er sie stellte. Für Ian war die Ordnung bereits mit seinem Erwachen verloren gegangen. Wie sollte es da einem Mann gehen, dessen Verstand im Angesicht der Unfassbarkeit der Vorkommnisse bereits aufgegeben hatte.
„Nichts ist in Ordnung“, schluchzte der Russe. „Mal angenommen, ich spreche grad Englisch, dann kann ich mich an Russisch nicht erinnern. Verstehst du? Ist weg. Ist einfach weg. Als hätte ich’s nie geredet.“
Ian ging zu ihm und legte ihm eine Hand auf den Rücken. Aber die Berührung hatte den gegenteiligen Effekt. Anstatt Ruhe zu vermitteln, traf sie William wie ein Blitzschlag. Er bäumte sich auf, sprang auf seine Füße und baute sich bedrohlich neben Ian auf. Jessika, die in diesem Augenblick an ihnen vorbeilief, schien sich nicht für die Veränderung zu interessieren. Sie beschleunigte ihren Schritt, ging hinaus in den Flur und rannte die Treppe hinauf. „Ich will jetzt wissen, wer das da oben ist“, rief sie, als ihre Schritte bereits über ihnen erhallten. Ian kroch auf allen Vieren zurück. Der Mann, der nun vor ihm stand, glich in seiner Haltung mit nichts mehr dem Mann, der er vorher gewesen war. Williams Augen funkelten nicht nur, sie brannten. Wenn Ian jemand gefragt hätte, ob es nicht nur das Feuer des Kamins gewesen wäre, das sich in ihnen gespiegelt hätte, so hätte er diese Frage mit absoluter Sicherheit verneint.
„Einer von euch muss das doch hier sein!“, schrie er. „Es muss so sein. Wer hat mir das angetan? Häh? Wer? Ich will jetzt wissen wer!“
Ian hatte Angst. Angst vor einem anderen Mann.
„Du?“ William streckte seinen Finger aus und richtete dessen Spitze auf Ians Brust. Der Finger war wie ein spitzer, tödlicher Speer und ließ Ians Herz zu einem harten Klumpen werden.
„Bist du wirklich?“ Die Frage, tonnenschwer, presste Ian die Luft aus den Lungen.
„Wie meinst du das?“, keuchte er nur und sah hilfesuchend zu Josh, der im Türrahmen zur Küche hin lehnte, sich aber nicht regte.
„Scheinst doch alles zu durchschaun hier. Bist bestimmt ne Art Spion. Sollst uns erforschen, wie son Psychiater. Wie wir auf Stress reagieren oder so. Du bist nicht das, was du sagst. Wie war das? Situationsanalytiker? Son Scheiß. Klingt doch schon so, als hätt das irgend son Schreiber sich ausgedacht. Bist nichts weiter als ne Figur, die uns was darstellen soll!“
Plötzlich machte William einen einzigen, großen Schritt auf Ian zu und packte ihn an der Gurgel. Seine Fingernägel gruben sich in das weiche Fleisch und Ian spürte, wie er instinktiv nach Luft schnappte. Aber vergeblich. Der feste Griff ließ keine hinein, noch hinaus. Der Ire packte die Hände des Russen und versuchte sich durch ruckartiges Reißen an den Gelenken zu befreien, doch jeder Versuch rief neue Schmerzen in seinem Hals hervor.
„Hör auf!“, krächzte er mühsam und versuchte seine Beine einzusetzen. Der erste Tritt traf William am Schienbein, irritierte ihn aber nicht. Der Zweite jedoch traf ihn höher. Ians Fußspitze bohrte sich direkt in den Magen seines derzeitigen Feindes und der Griff um seine Kehle lockerte sich unverzüglich. Ian nutzte die Chance für einen weiteren Angriff. Er sprang auf und schlug dem Russen mit halb geöffneter Faust auf das rechte Ohr. Schreiend zog William seine Hände zu der schmerzenden Stelle und presste sie darauf. Er wich bis zum Fenster zurück und blickte Ian wütend an.
„Du Wichser!“ Seine Stimme erinnerte an eine Krähe. „Ich werd dich...“. Der Satz blieb unvollendet. Williams Mund wollte schneller arbeiten, als es sein Verstand noch in der Lage war.
Resigniert drehte er sich um und starrte in die dunkle Nacht.
Er sprang zurück. Sein Gesicht wechselte die Farbe von wutentbranntem Rot zu einem geisterhaften Weiß.
„Was ist?“ Ian war hellwach. Adrenalin wurde von dem Kampf und der plötzlichen Veränderung durch seinen Körper gepumpt.
„Das Grün. Das Grün ist da!“
„Was?“ Ian stürzte zu William ans Fenster, unter dessen Hand ein kleines Rinnsal Blut zum Vorschein kam. Der Schlag hatte das Ohr des Mannes wohl mehr verletzt, als Ian es vermutet hatte.
„Das Grün!“, wiederholte William noch mal, während Ian seine Hand abschirmend auf das Fenster legte und hinausschaute. Der Schock traf ihn hart. Der grüne Wall erstreckte sich direkt vor dem Fenster und das Summen schien mit einem Mal um ein vielfaches lauter. Die Aufregung und der Kampf mussten seine Sinne vorübergehen beeinträchtigt haben. Anders konnte sich Ian das fast plötzliche Auftauchen des Grüns und seines verstärkten Klanges nicht erklären. Angst, Wut und Verwirrung hatten ihn taub und blind gemacht.
William rannte aus dem Wohnzimmer. „Wir müssen hier raus!“ Der Kampf und der Hass auf Ian, zu dem der Zorn mittlerweile herangewachsen war, war vergessen. Alles in ihm schrie danach aus dieser Hütte zu verschwinden, aber als er die Tür am Ende des Flures aufriss, drang das Grün wie rasender Efeu herein. Ein erstickter Schrei hallte von allen anderen ungehört in seinen Ohren. Das pflanzenartige Gewächs war überall und es wuchs so schnell, dass die Halme am Holz der Wände emporkletterten und bereits nach wenigen Sekunden die gesamte Tür unter sich begraben hatten.
„Ian!“, schrie William und wenige Augenblicke später stand der Ire mit großen Augen neben ihm. Sein Haar stand ihm immer noch wild vom Kopf ab, den er nun ungläubig hin und her schüttelte.
„Hilf mir!“ William griff in das Grün hinein und versuchte die darrunterliegende Tür zu packen. Als er die hölzerne Tür unter seinen Fingerspitzen spürte, riss er mit aller Kraft daran, aber sie bewegte sich nicht.
„Ian!“, schrie er noch einmal, aber der Ire reagierte nicht. Er wusste nun was es bedeutete, wenn gesagt wurde, dass Angst den Körper lähmte. Er sah die Halme, welche wuchernd und sich wie Schlangen windend über den Boden, die Wände und die Decke krochen. Und er sah auch die Schatten, die sich hinter dem Wall bewegten und darauf warteten wie normale Menschen durch die offene Tür treten zu können. Ihre Stimmen tobten ungebrochen durch die frühe Nacht und erstickten jeden Gedanken; machten sie unhörbar.
„Ian!“ Williams Augen traten vor Anstrengung aus ihren Höhlen und sein Herz jagte so laut durch seine Brust, dass sein Schlag zur Qual wurde. Adern drohten dem Druck des Blutes nicht standzuhalten und pochten wie dicke Schläuche an seinen Schläfen und an seinem Hals. Ian sah den aussichtslosen Kampf mit Augen, die nicht glaubten, was sie sahen. Alles schien weit weg; betrachtet durch ein Fernglas oder das matte Fenster eines Fernsehers. Real war die Welt um Ian herum nicht mehr, als die Gräser ausschlugen und sich um Williams Handgelenke legten, glaubte er nichts weiter, als einen schlecht gemachten Kinofilm vor sich zu sehen.
William stöhnte, winselte im Angesicht des bevorstehenden Unbekannten, das er mit dem Tod in Verbindung brachte. Sein bitteres, dreckiges Lachen war nur noch eine Erinnerung und sollte nie mehr über seine Lippen kommen. Er tobte wie ein Verurteilter am Strick. Sein Kopf wand sich und seine Beine schlugen aus, als die Halme ihn vom Boden hoben und in die Wand zu schieben drohten. Zum zweiten Mal öffnete sich der grüne Wall und breitete eine Art Weg vor William aus, auf den er gegen seinen Willen hineingeführt wurde, aber noch konnte ihn das Grün nicht gefangen nehmen. Die Schatten schrieen mit der Lautstärke eines startenden Flugzeuges auf, als Jessika ihre Arme um den rothaarigen Mann schlang und sich mit ihm zusammen nach hinten fallen ließ. Die Schlingen der Gräser lockerten sich und William entkam dem endgültig geglaubten Griff. Ian dachte in diesem Augenblick, dass die Halme nicht mit der plötzlichen Hilfe gerechnet hatten. Deshalb hatten sie ihn fallen lassen. Sie waren überrascht. Aber der Gedanke ging wie jeder andere auch im ohrensprengenden Summen unter. Die Konsequenz eines Bewusstseins, welches sich aus dieser Überlegung ergab, wurde nicht gedacht.
„Du Drecksack!“, keuchte William mit letzter Kraft. Seine Lungen zogen sich schmerzhaft zusammen, als er die Luft, wonach sie so bettelten, für diese Worte herauspresste.
„Warum hast du nichts gemacht?“, keifte Jessika, aber die Frage hörte sich an, als würde sie nach seiner Wirklichkeit fragen. „Seid ihr wirklich?“ Das waren die Worte, die aus ihrem Mund kamen. „Seid ihr wirklich?“
„Ja!“, rief Ian der Frau zu. „Ja!“, schrie er der Wand und den zitternden Schatten entgegen.
„Er ist verrückt geworden. Ich habs gewusst! Habs gewusst! Er war bestimmt der Grund hierfür. Ja. Das glaub ich!“ William stemmte sich vom Boden hoch und bohrte dabei seine linke Hand in Jessikas Hüfte. Er packte Ian an der Schulter und warf ihn nach hinten, so dass die Halme in diesem Moment ins Leere griffen. Ungewollt hatte William Ian gerettet, während die Schatten ihren summenden Singsang kreischten. Der Ire fiel hart auf die Seite und sein Arm gab ein bedrohliches, knackendes Geräusch von sich, gefolgt von einem brennendem Schmerz. Wie ein Wurm robbte er auf dem Rücken von William fort, der ihn mit wahnsinnigen Augen fixierte.
„Nein! Nicht!“ Jessika hielt den Russen fest und Ian ergriff die Gelegenheit und stand auf. Der drückte sich mit dem linken Arm von Boden ab und fiel sofort wieder hin. Die Muskeln hatten unter dem durch den gebrochenen Knochen verursachten Schmerz nachgegeben.
„Verdammt!“, bellte er unvernehmbar und versuchte ein zweites Mal aufzustehen. Diesmal jedoch benutzte er den anderen Arm um sich aufzuhelfen. Er rannte durch den Flur und durch das Wohnzimmer an Josh, den das alles nicht zu kümmern schien, vorbei in die Küche. Dicht von William gefolgt, der sich von Jessika befreit hatte. Seine polternden Schritte blieben stumm, ebenso wie sein zischender Atem.
Ian drehte sich um, sah in das Gesicht des aufgebrachten Mannes und tastete blindlings hinter sich, bis seine Finger etwas Kaltes ertasteten. Es war ein Messer, das sich William zuvor dorthin gelegt hatte, um eine Dose zu öffnen, nachdem er keinen passenden Öffner gefunden hatte. Ian riss das Messer nach vorne, erhob es hoch in die Luft und ließ es auf William niederschnellen, der im vollen Lauf keine Chance hatte dem Angriff auszuweichen. Die stählerne Spitze bohrte sich von oben in den Hals des Mannes. Ein Blutstrahl spritzte empor. Stark und schnell schoss der Lebenssaft aus der getroffenen Halsschlagader hoch. Das rasende Herz in seiner Brust tat sein Übriges. Er taumelte zurück, hielt den Griff des Messers umklammert und fiel dann um. Das Bewusstsein hatte aufgegeben und der Körper hörte auf zu kämpfen. Der treibende Rhythmus des Herzens leerte den Mann in kürzester Zeit.
Jessika stand im Wohnzimmer. Erschrocken, unfähig das Geschehen noch länger zu begreifen. Josh stand neben ihr und das erste Mal konnte man auch in seinem Gesicht so etwas wie Erregung lesen.
Jessika griff nach etwas, was für Ian wie ein Bündel Papier aussah und sich auch als solches offenbarte. Es steckte im Bund ihres Rockes.
„Lies“, formten ihre Lippen. Sie warf das Bündel auf den Boden und ging zurück ins Wohnzimmer, wo sie sich erschöpft auf das Sofa fallen ließ. Sie hatte aufgegeben.
Ian hob das Papier auf und betrachtete es von allen Seiten. Der graue, gewebte Einband, in welchem die Seiten gebettet lagen, wies Kaffeeränder und andere Flecken auf. Das Innere war zerfranst und vergilbt. Als er den buchähnlichen Packen aufschlug, sprangen ihm die Buchstaben in ihrer Wildheit förmlich entgegen. Jemand hatte mit einem schwarzen Kugelschreiber ohne System die Seiten beschrieben. Einige Wörter waren mehrfach überschrieben worden, so als wollte der Autor ihnen dadurch mehr Bedeutung verleihen. Ian begann zu blättern und alle Seiten machten auf ihn den gleichen Eindruck. Er wusste noch nicht was dort stand, aber die gezackte, abgehackte Schrift ließ darauf schließen, dass der Schreiber die Worte mit aller Kraft auf die Seiten gedrückt hatte. Er wollte etwas loswerden und als Ian immer wieder über den einzelnen Abschnitten Daten las, begriff er, dass es sich um eine Art Tagebuch handelte. Er schlug willkürlich eine Seite auf und begann zu lesen.
Ich kann mich nicht mehr konzentrieren. Wenn ich versuche eine meiner Ideen zu verfolgen, kommt mir wieder ein anderer Gedanke dazwischen. Ich will diese Bilder, diese Geschichten in meinem Kopf loswerden. Sie stören mich. Ich könnte sie einfach niederschreiben, nur dass ich es selbst nicht einmal lesen will. Es sind Geschichten, wo die Klischeekeule ihr Werk verrichtet hat, aber dennoch liege ich nachts wach und denke über die Personen nach. Ihr Leben baut sich immer deutlicher in mir auf.
Ian runzelte die Stirn und die bereits auffälligen Falten vertieften sich ein Stück weiter. Im Augenwinkel sah er, wie Jessika sich langsam hin und her wiegte. Sie würde nun definitiv nicht länger durchhalten. Und Ian musste schwer schlucken, als er für sich dachte, dass sie das wahrscheinlich auch gar nicht länger brauchen würde, denn das grüne Gras kratzte bereits über die Fensterscheiben. Auch wenn er das Geräusch nicht hören konnte, so spielten ihm seine Ohren dennoch einen Streich und ließen ihn das Klirren und gläserne Schaben deutlich hören. Er blätterte ein paar Seiten weiter und versuchte die zittrige Handschrift zu entschlüsseln.
Es erinnert mich an meine Kindheit. Damals, als ich draußen mit Daniel am See war. Wir schwammen und tauchten um die Wette. Jeder wollte besser und stärker sein als der andere, weil uns die Mädchen zuschauten. Ich tauchte so tief hinab, dass ich kaum noch etwas sehen konnte. Da berührte es mich am Fuß. Es fühlte sich kalt an und wenn ich versuche mich daran zu erinnern, fühle ich immer noch die gummiartigen Schlingen, die sich um meine Beine und Arme legten. Ich ruderte wild und in Panik, so dass die Algen sich immer mehr um mich legten. Ich hatte Todesangst. Es kam mir vor, als würden sie leben und mich immer tiefer ziehen. Der Druck, den ich verspürte, war die Hölle. Wenn ich heute an meine Geschichten denke, dann verspüre ich wieder genau diesen Druck. Die Gesichter und ihre Geschichten ziehen mich immer tiefer. Sie schreien, dass ich sie schreiben soll, aber ich will nicht. Die Geschichten taugen nichts. Eine Prostituierte, die von zu Hause wegläuft und sich von Männern nicht anfassen lassen will. Wie tragisch. Da hab ich im Fernsehen schon bessere Geschichten gesehen. Aber die Idee will nicht verschwinden und in Stunden, wo ich nicht aufpasse wird das Leben der Frau deutlicher und deutlicher. Ich träume auch von ihr und den anderen. Aber sie sind eigentlich langweilig. Jeder hat so was schon gesehen oder gelesen. Schreiben lohnt sich nicht.
Eine Prostituierte, die sich nicht anfassen lassen will? Die Buchstaben verschwammen vor seinen Augen. Die gummiartigen Algen, die ihn nach unten zogen? Ian sah auf Jessika und blickte dann hinüber zum Fenster, wo das Grün sich wahrscheinlich schon gierig durch die Fugen schob.
Ian durchsuchte fiebrig die Seiten. Stand in diesem Buch die Wahrheit? Hatte Jessika sie etwa schon gefunden und es ihm deshalb zu lesen gegeben, obwohl in dieser Situation wohl eigentlich niemand ans Lesen denken sollte?
Ich glaube es genügt nur ein Funke und sie brechen aus mir heraus. Ich frage mich dauernd, ob sie wirklich sind. Nachts schreie ich ihnen zu: Seid ihr wirklich? Aber ich bekomme keine Antwort. Ich fürchte mich umzudrehen, weil ich glaube dann einen von ihnen hinter mir zu sehen. Vielleicht steht ja Enzo da und bettelt um ein paar Euro. Ich hasse meine Fantasie. Sie macht mich wahnsinnig. Ich kann an nichts anderes mehr denken, als an diese ungewollten Kopfgeburten. Ich hasse den stillen Moment, der mich mit ihnen geschwängert hat. Alles andere ist fort. Da sind nur noch diese Menschen, die echter nicht sein könnten. Ich habe angefangen ihr Leben aufzuschreiben. Einen Fahrradunfall, der erste Kuss, die bestandene Führerscheinprüfung und die erste Liebe. Erinnerungen, so kraftvoll, aber doch eigentlich so langweilig. Ich schäme mich dafür solche Dinge aufs Papier zu bringen, aber ich kann nicht anders. Zu stark, zu mächtig sind meine eigenen Gedanken.
Glas klirrte und die kalte Nachtluft wehte ins Innere der Hütte. Das Summen wurde ein letztes Mal lauter, aber die Ohren verschlossen sich. Sie hatten in Anbetracht der Übermacht aufgegeben. Das Grün drang herein. Die Halme bissen sich wie Parasiten überall fest, nicht gewillt zu weichen. Jessika sprang auf, schrie stumm. Ihre Muskeln verkrampften sich in Panik. Auch Josh erschrak und wich in die Mitte des Raumes zurück. Aber Ian las weiter. Er wollte es nun wissen.
Der Funke. Vielleicht habe ich ihn gefunden. Es soll jemanden geben, der mir helfen kann. Dann verschwinden sie endlich aus meinem Kopf. Jessika und Ian und wie sie alle heißen.
Der Ire ließ das Buch fast fallen, als er seinen Namen las.
Ich werde ihn anschreiben, damit er sie aus mir herausholt. Dann kann ich mich endlich wieder den Geschichten widmen, die es Wert sind geschrieben zu werden. Dann werden die Algen mich loslassen, mich nicht länger in die Tiefe meines eigenen Kopfes ziehen. Fieber hat mich gefasst. Ich leider unter meiner eigenen Fantasie. Wer hätte gedacht, dass die eigene Fantasie so stark sein kann. Geschichten wollen heraus. Sie sind so echt geworden, dass sie das Recht zu leben besitzen. Sie leben in mir. Parasiten, die mich krank machen und an denen ich zu Grunde gehen werde, wenn ich sie nicht aus mir herausbekomme.
Jessika wollte sich an Josh drücken, aber er hielt sie mit weit ausgestreckten Armen fern. Hilflos sah sie sich um. Sie sah Ian und redete, aber er konnte sie nicht hören. Dann schloss sie ihren Mund. Die letzten Worte waren gesagt und in ihr Gesicht trat anstelle der Angst ein entschlossener Ausdruck. Sie lief an Ian vorbei und riss das Messer aus Williams Hals, dessen Wangen mittlerweile alle Farbe verloren hatten.
Jessika hatte fast genau die gleichen Seiten wie Ian gelesen und trotz aller Irrsinnigkeit hatten sich ihre Gedanken zu einer Idee geformt, die das Grün, das sich in diesem Augenblick die letzten freien Meter der Hütte einverleibte, nur dem Kopf eines Mannes entsprang. Wenn der unbekannte Autor nicht mehr in der Lage wäre, seinen Wahn im Fieber zu träumen, würde auch das Grün verschwinden. Fernab von jeglicher Realität hatte sich diese Idee in Jessikas Kopf von Angst, und dem Drang eine Erklärung finden zu wollen genährt. Ian dachte nach, wie er es schon so oft in seinem Leben hatte tun müssen. Die Entscheidung, die er nun fällen musste, sollte nach Möglichkeit in wenigen Sekunden getroffen werden. Was war, wenn das Grün wirklich nur eine Kopfgeburt darstellte, wenn der Autor den Funken, den er suchte gefunden hatte und die Fantasie zur Wirklichkeit geworden wäre? Dann wäre das Grün nur eine manifestierte Erinnerung an seine Kindheit. Aber wenn Ian diesen Gedanken weiterdachte, dann kam er auch zu dem Teil des Buches, der sich mit ihren Namen beschäftigte. Wenn das Grün einer Fantasie entsprang, dann taten sie es auch und wenn das Grün verschwinden würde, dann würden sie ihm folgen. Ian schüttelte den Kopf. Seine Gedanken hatten nichts mit analytischem Vorgehen zu tun, sondern nur mit seinem eigenen Wahn, der alles rationale Stück für Stück vernichtete. Auf der anderen Seite standen jedoch seine lückenhaften Erinnerungen. Er konnte sich nie an alles erinnern. Wenn er versuchte Brücken zwischen einem Erlebnis und einem anderen zu bauen, dann blieb dieser Teil farblos und leer. Es war, als hätte man sein Leben erdacht und nur Dinge erfunden, die etwas über ihn als Menschen aussagen. Er konnte sich nicht daran erinnern mal irgendwo ein Eis gegessen oder seine Wohnung aufgeräumt zu haben. Das sind Dinge, über die man nicht schrieb und an die es deshalb auch keine lebendige Erinnerung gab. War er nur die Fantasie eines Mannes, die sich in irgendeiner abenteuerlichen Weise einen Weg in die Wirklichkeit gebahnt hatte? Normalerweise hätte Ian solche Überlegungen schon im Ansatz beendet, doch wenn er auf die Gräser blickte, die mit ihrer greifbaren Form und ihren Schreien alles unter sich begruben, dann schlug er selbst das Fantastische nicht länger aus. Als er aufgewacht war, drangen die Bilder seines Lebens auf ihn ein und sein Körper hatte den Eindruck gemacht, als sei er noch nie mit der Welt konfrontiert worden. Die Schmerzen und das Zucken waren wie eine Geburt. Er strebte aus seiner Mutter, dem Kopf des Autors, der Welt entgegen. Ian würgte. Er fühlte, wie Übelkeit ihn übermannte und wie sein Magen gegen diesen Gedanken rebellierte.
„Ich bin echt!“, schrie er sich selbst zu und wurde wahnsinnig, als er merkte, dass er den Fragen der Schatten damit geantwortet hatte.
Das Grün hatte sich des Wohnzimmers bemächtigt. Die Halme drangen durch alle Ritzen und Fugen. Der Boden sprang an vielen Stellen auf und ließ weiteres Gras ins Innere. Ian taumelte in die Küche zurück, in der das kleine Fenster tonlos zu Bruch ging. Scherben fielen zu Boden und sprangen wie Hagelkörner wieder hoch in die Luft, bevor sie im Schein der Kerze und der Öllampe rot schimmernd liegen blieben. Die grüne Wand öffnete sich und zeigte ihm den Weg, den schon Enzo gegangen war. Die Schatten wurden ruhiger, hielten inne und offenbarten sich.
In dieser Sekunde geschahen viele Dinge. Ians Verstand zerbrach endgültig, als er den Schatten ins Gesicht blickte. Die dunklen Gesichter sahen aus wie sie. Jessika blickte ihn an und auch er selbst starrte aus schwarzen, durchscheinenden Augen zu ihm herüber. Das war das Geheimnis. Die Schatten waren immer sie selbst, ihre eigene Geschichte, die sich im Kopf des Autors geschrieben hatte, verbunden mit der Erinnerung an jenem Tag am See. Und nun befreite sich die Fantasie selbst, wahrscheinlich mit der Hilfe des Funkens, von dem der Verfasser in seinem Tagebuch erzählt hatte. Aber im selben Moment, ein Stockwerk höher, hob Jessika das blutverschmierte Messer und rammte es dem Schriftsteller in die Brust. Dunkelheit schob sich um Ian und die Frau. Ihr Bewusstsein verblasste und der letzte Gedanke, den Ian hatte, war der Vergleich seines Verstandes mit einem Schatten. Farbe und Leben wich aus ihm heraus. Vergessen.
Das Feuer knisterte im Kamin und malte rissige Schattenbilder auf die Wände der Holzhütte. Josh ging hinüber, fischte in der Seitentasche seines Anzuges nach einer Zigarette und entzündete sie an den offenen, lodernden Flammen, die eine wohlige Wärme verbreiteten. Eine dünne Schweißschicht stand auf der Stirn des glatzköpfigen Mannes. Diesmal war es knapp gewesen. Als sie begannen sich gegenseitig umzubringen, hatte Josh auch Angst um sein eigenes Leben gehabt. Er nahm einen tiefen Zug und genoss das würzige Aroma des Tabaks. Er dankte im Stillen Gott, dass das Summen endlich ein Ende gefunden hatte. Das Geräusch hatte ihn wahnsinnig gemacht und der Gedanke, dass die Figuren des Autors den Ton noch um ein vielfaches lauter gehört haben mussten, brachte ihn fast um den Verstand. Er versprach sich selbst, sich in der Zukunft besser mit den Problemen seiner Kunden zu beschäftigte. Die Erfahrung hatte ihn nachgiebig gemacht. Die Fantasie eines im Wahn versunkenen Geistes war gefährlich.
„Guten Morgen.“ Die verschlafene Stimme des Autors riss Josh aus seinen Gedanken. Der Mann schlenderte wie ein Trunkener in das Wohnzimmer und ließ sich auf das Sofa fallen.
„Haben Sie gut geträumt?“
„Weiß nicht.“ Er rieb sich die Augen. „Aber sie sind weg. Ich kann wieder denken.“
Und als hätten es ihm seine eigenen Worte erklärt, breitete sich nun ein strahlendes Lächeln über das Gesicht des Schriftstellers aus.
„Wie haben Sie das gemacht?“
Josh nahm noch einen Zug, schnalzte mit der Zunge und zog sich sein weißes Jackett glatt.
„Manchmal braucht es nur einen zündenden Funken. Die Fantasie kann so stark werden, dass es nicht viel braucht um sie Wirklichkeit werden zu lassen. Es gab Kulturen, die das schon immer konnten. Aber man weiß nichts mehr von ihrer Kunst. Fantasie wird zu etwas, das im Erwachsenenalter nicht mehr schicklich ist. Wenn Kinder über mehr geistige Reife verfügen würden, dann könnten sie alles in ihrem Kopf in diese Welt hervorbringen. Das Ironische daran ist, dass nur Erwachsene, aber auch da noch lange nicht alle, ihres Selbst so bewusst sind, dass sie es könnten. Aber sie dürfen es ja nicht. Können es auch nicht mehr.“
Der Autor streckte sich.
„Wie auch immer. Sie sind weg!“
„Wenn man es erlernt, dann ist auch die Fantasie eines anderen nichts weiter als ein Buch, das laut vorgelesen werden muss. Kennt man dann die Geschichte, kann man sie realisieren. Wissen Sie was?“
Der Mann auf dem Sofa blickte Josh fragend an. „Nein, was denn?“
„Eigentlich sind sie tot.“
„Was? Was soll das bedeuten?“ Er stemmte sich hoch, fiel aber wieder zurück in das weiche Polster.
„Man hat sie erstochen. Aber in dem Moment, in dem das Leben aus ihnen heraustrat, war auch ihre Fantasie verschwunden und damit ihr Tod. Eine paradoxe Situation, über die man eigentlich nicht nachdenken darf. Hätte das Grün ihre Figuren verschlungen, wäre vielleicht noch ein Teil des Drucks zurückgeblieben, aber so hat sich die Fantasie wirklich selbst ausgelöscht.“
„Welches Grün?“
Aber Josh antwortete nicht. Er setzte sich in den Sessel und genoss seine Zigarette. Das Grün hatte ihn niemals gefährdet. Es gab keinen Schatten, der ihm geglichen hatte. Er streckte sich, aschte die Spitze der Zigarette unter den missfälligen Blicken des Autors auf den Boden und beobachtete einen einzelnen kleinen Funken, der aufstob und kurz darauf erlosch.