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In A Gadda Da Vida
“Sind Sie geeignet, in einer perfekten Welt zu leben? Wären sie ein Kandidat für den Garten Eden? Bringen Sie alle Voraussetzungen mit, um zur Elite des Planeten zu gehören?“
Das Gesicht des alten, bärtigen Mannes im weißen Designeranzug war von Lachfalten durchsetzt. Er stand auf einem metallenen, in der Sonne glänzenden Podest, mit einem edlen Gehstock in der linken und einem etwas altmodisch wirkenden Mikrofon in der rechten Hand. Hinter ihm wogten sich Wipfel von Palmen im Wind. Eva Winter meinte, die Hintergrundmusik als den Song "In A Gadda Da Vida" - im Garten Eden - identifizieren zu können.
Sie wand den Blick vom Fernseher ab, erhob sich und schlenderte durch ihre Berliner Studentenwohnung zum großen Wandspiegel. 5000 Leute, murmelte sie, 5000 auserwählte Leute. Die Elite des Planeten, versammelt auf einer Insel. Sie seufzte. Seit dem Selbstmord ihrer Mutter vor zwei Jahren tat sie dies öfter, aber dieses Mal war der Seufzer hoffnungsvoll. Dieser steinreiche, abgebrühte Kerl will den Traum der perfekten Gesellschaft wahr machen. Wie oft habe ich mit Linda und den anderen früher schon gesagt „wenn ich mal groß bin, werde ich mir eine Insel kaufen, und dort nur die Besten der Besten mit hinnehmen“? Eva erreichte den Spiegel und baute sich vor ihm auf. Es war ein warmer Abend im Spätsommer, und sie hatte nichts an als ihren Slip. „Wären Sie ein Kandidat für den Garten Eden?“, schallte es erneut aus dem Fernseher, und Eva stellte sich noch ein wenig gerader hin. Sie drehte sich hin und her, mal frontal, mal ins Profil, und betrachtete sich.
„Wenn Sie die psychologischen, intellektuellen und optischen Vorraussetzungen erfüllen ...“
Eva neigte den Kopf ein wenig schief nach unten, biss sich leicht auf die Zunge, um dann in ein gedankenverlorenes Nicken zu verfallen.
„...dann fahren Sie schnellstmöglich zum Casting. In der Hauptstadt eines jedes Landes können Sie sich dazu anmelden. Professor James Crick hat keine Kosten und Mühen und vor allen Dingen keine Zeit und Planungsarbeit gescheut, um die wahre Elite der Erde zu ermitteln. Melden Sie sich einfach unter folgender Nummer...“
Eva fuhr sich durch die Haare und ging zurück ins Wohnzimmer. Mama würde die Idee gefallen, murmelte Sie. Sie setzte sich auf die Couch, schob ihre Bücher, Anti-Depressiva und andere Dinge beiseite, fand keinen Zettel, nahm dann das "Lehrbuch der Zellbiologie" hervor und schrieb hastig die Nummer auf den Umschlag.
Mama meinte stets, es sei die Pflicht eines jeden Menschen, alles aus sich herauszuholen. Sich möglichst intensiv in allen Bereichen verbessern. Seine Stärken maximal fördern. Eva musste an einen schlechten Film denken, in dem der Hauptdarsteller die Stimme seines toten Vaters im Ohr gehabt hatte. Jetzt fühlte sie sich ähnlich. Um ganz nach oben zu kommen.
Am nächsten Morgen rief sie die aufgeschriebene Nummer an.
„Ihr Name?“
Die beiden Herren in dem kleinen Casting-Büro waren Eva von Anfang an sympathisch. Der Kerl im weißen Anzug, den das kleine Schild auf dem riesigen Schreibtisch als Herrn Whitney ausgab, sprach mit leichtem amerikanischem Akzent, das „r“ rollend.
„Eva Winter.“
Der andere Herr saß etwa anderthalb Meter entfernt neben Herrn Whitney. An seinem kleinen Schildchen prangte der Name Rivers. Eva musste sich auf ihrem Sessel immer hin und her drehen, um mal Herrn Whitney und mal Herrn Rivers in die Augen schauen zu können.
„Sie sind also Biologiestudentin. In welchem Semester noch gleich?“, fragte Herr Rivers.
Beide Männer sahen groß und stattlich aus in ihren weißen Anzügen. Sie waren etwa um die 30 Jahre alt und hätten Brüder sein können.
„In meinem zweiten.“
„Sind sie ledig oder liiert?“
„Ledig.“
„Haben Sie Kinder?“
„Nein.“ Eva schmunzelte. Das Zimmer war hell und freundlich, nicht zu üppig und extravagant, aber auch nicht schäbig. Wenn Herr Crick in jeder Hauptstadt jedes bedeutenderen Landes ein solches Büro mit speziellen Fachleuten eingerichtet hat, muss er arm geworden sein. Obwohl – bei seinem Vermögen könnte er pro Stadt auch fünf solcher Büros einrichten, dachte sie.
„Ihre Mutter ist also vor zwei Jahren gestorben und zu ihrem Vater haben sie nur wenig Kontakt? Er wohnt nicht in Berlin?“
Eva zögerte.
„Ja, sie ist vor zwei Jahren verstorben. Und nein, mein Vater lebt in einem Kaff…in einem kleinen Dorf in Bayern.“
Rivers und Whitney nickten beide bedeutungsschwanger.
„Reichen Sie mir doch bitte kurz Ihren Impfpass.“ Eva tat, wie River ihr geheißen. „Ah“, meinte er nach einigen Sekunden, „richtig. Ja.“
„Sie sind in allen nötigen Bereichen aktuell geimpft. Sollten wir Sie wirklich auf die Insel schicken, müssten wir natürlich noch einige spezielle Impfungen durchführen, aber das werden wir dann sehen. Haben Sie irgendwelche körperlichen oder geistigen Beschwerden?“
Eva setzte zu einem Satz an, verstummte dann. Einige lange Sekunden später brachte sie mit einem aufgesetzten Lächeln hervor:
„Nein, nicht, dass ich wüsste.“ Bewusst ließ sie ihre leichte Anfälligkeit für manische Depressivität und die frühere Magersucht aus. Es wird nicht so wichtig sein. Außerdem ist es stets besser geworden. Den gleichen Fehler wie Mama werde ich sicher nicht machen.
„Würden Sie bitte kurz aufstehen und sich entkleiden? Wir wollen nicht indiskret sein, aber wir müssen Ihre optische Tauglichkeit feststellen. Beispielsweise überprüfen wir Sie auf Narben oder unansehnliche Hautflecken. Schließlich kommt nicht jeder einfach so nach Gaddavida.“
Eva verstand nicht recht. „Ich soll mich ausziehen?“ Sie schüttelte leicht entgeistert den Kopf, angesichts der beiden völlig fremden Amerikaner in ihren weißen Anzügen, wurde sich dann aber bewusst, dass sie mit zerkrauster Stirn und verwirrtem Gesichtsausdruck sicherlich keinen Schönheitspreis gewinnen würde und entspannte sich wieder.
Rivers und Whitney nickten nur ruhig. Whitney streckte seine linke Hand aus und zog betont langsam das oberste Blatt vom Stapel der noch ausstehenden Anmeldungen.
„In Ordnung“, schnalzte Eva, „es kann ja nicht schaden.“ Ihre Sympathie schwand. Verdammte Amis. Wollen immer alles ganz genau wissen. Dennoch legte sie ihr leicht gequält wirkendes Lächeln nicht ab. Sie zog sich aus, legte ihre Kleidung über den Stuhl und stellte sich dann, als sie nur noch ihre Unterwäsche an hatte, vor die beiden Gutachter. Menschengutachter, dachte Eva mit einem Mal.
Doch als sowohl Rivers als auch Whitney sie nur fragend anschauten, verwarf Eva den Gedanken wieder und zog auch noch ihre restlichen beiden Kleidungsstücke aus. Sie dachte sogar daran, sich wie eine Litfasäule im Kreis zu drehen.
Selbstverständlich verkniffen sich beide Männer bei der genaueren Betrachtung der nackten Eva ein befriedigtes Lächeln oder auch nur ein Zucken mit dem Mundwinkel. Sie sind Profis. Der Alte hat an wirklich nichts gespart.
„Danke. Sie können sich wieder anziehen.“, sagte Whitney leise.
Als Eva damit fertig war und sich wieder gesetzt hatte – in ihrer Magengegend machte sich ein äußerst unangenehmes Gefühl breit – blätterte Rivers einige Akten durch, die sie mitgebracht hatte. Whitney tippte mit einem Bleistift auf einem Zettel herum und wirkte dabei, als ginge er eine Checkliste durch, bei der die meisten Punkte abgehakt werden konnten.
Rivers erhob die Stimme. „Wie es aussieht, sind ihre Noten weit überdurchschnittlich. Sie haben zudem gute Kenntnisse des Englischen und Spanischen. Optisch passen Sie ebenfalls genau ins Schema.“
„Welches Schema?“ Eva stutzte. „Ich meine, wie kann ich optisch in ein Schema passen? Dass sie nur Menschen nehmen, die auch durch ihr Aussehen zur Elite gehören, ist mir bewusst, aber welches Schema wenden Sie hier an? Ist Optik und Erscheinungsbild nicht Geschmackssache?“ Verdammt, Mädchen, du redest wieder zu viel. „Ich meine, wie können die…nun, die Leute aus der Jury in einer ganz anderen Stadt, auf einem ganz anderen Kontinent, ein ähnliches Urteil über das Aussehen treffen?“ Halt deine verdammte Klappe, sonst wird das nichts, dachte sie und schluckte.
Rivers lehnte sich zurück und lächelte. Whitney steckte mit einer weiten Bewegung den Bleistift in eine dafür vorgesehene Öffnung und lächelte ebenfalls.
„Frau Winter, es handelt sich hier nicht primär um Schönheit, sondern vielmehr um Ästhetik. Wie Sie wissen, ist es das Ziel unseres Gönners, Professor Crick, eine makellose Gesellschaft zu schaffen. Zu einer makellosen Gesellschaft gehören makellose Individuen. Personen, deren inneres und äußeres Erscheinungsbild von einer ausgezeichneten Ästhetik geprägt ist. Es ist nicht schwer, ein Schema zu erstellen, das vollends alle ästhetischen Anforderungen an den menschlichen Körper erfüllt.“
Whitneys Rede wirkte einstudiert. Eva verstand nicht recht. Sie bemühte sich, freundlich auszusehen und tat so, als sei ihr die Sache mit der Ästhetik nun vollkommen klar geworden. „Sehen Sie, Frau Winter, wir suchen nach Menschen, die genetisch gesund sind, groß, sportlich und agil gebaut, vor allem von heller und somit freundlicher Natur.“ Rivers’ Blick erinnerte Eva an ihren Mathelehrer aus der Grundschule, der seine Schüler gerade in das Einmaleins einführte.
Sie nickte.
Helle und freundliche Natur…irgendwas musst du sagen, sonst zweifeln die beiden Herren an deiner Auffassungsgabe. „Nun, ich glaube, ich verstehe. Ich bin blond, ziemlich sogar, und über 1,75. Das müsste ins Schema passen, oder?“ Scheiße, Mädchen, du verrennst dich. Kein Eigenlob, verdammt. Lächle. „Bei Ihnen trifft alles zu.“ Beide Männer lächelten. Whitney machte einen letzten Haken auf seinen Zettel. „Und da Sie nun schon hier sind, können wir Ihnen auch erzählen, dass längst nicht in jeder Hauptstadt die Castingbüros von Crick Inc eingerichtet wurden. Der Professor hat sich aufgrund der oben genannten Gründe auf die wichtigsten Städte in Amerika und Europa beschränkt.“
Eva zwang sich erneut zu einem Lächeln.
„Aber…nun…“
Whitney unterbrach sie.
„Wir setzen Sie auf die Liste der in Frage Kommenden. Sie hören dann von uns, ob sie beim Casting in die nächste Runde kommen. Und, ach ja. Sie bekommen von uns noch eine Liste mit wichtigen Dingen, die Sie in den nächsten Tagen tun können, damit Sie für den Fall, dass Sie für die zweite Castingstufe angenommen werden, entsprechend vorbereitet sind.“
Plötzlich flammte Freude in Eva auf.
Als sie zu Hause ankam, nachdem sie den gesamten Heimweg über ihr Casting nachgedacht hatte, hallte es in ihrer Erinnerung positiv nach.
Okay, ich musste mich ausziehen, und das Gefasel mit der Ästhetik ist mir immer noch schleierhaft, aber ich meine…vielleicht schaffe ich es. Vielleicht bin ich dabei. Umsonst Leben auf einer Insel, mit 4999 Gleichgesinnten, davon 2500 Männer, und was für welche - helle und freundliche Natur. Ich werde alles aus mir rausholen. Meine Fähigkeiten ausreizen. In Gedanken versunken ließ sie lächelnd vor der Wohnungstür ihr Schlüsselbund fallen, doch auch das Klirren schaffte es nicht vollends, sie in die Realität zurückzuholen.
Die nächsten zwei Wochen verbrachte Eva damit, an ihrer Perfektion zu feilen.
Dazu arbeitete sie im Wesentlichen die Punkte ab, die auf dem Vorbereitungszettel von Mr. Whitney standen:
„Stärken Sie ihren Charakter, indem Sie sich über die Wichtigkeit von Ästhetik im Klaren sind.“
„Informieren Sie sich exakt über den Begriff Ästhetik. Alle nötigen Informationen finden Sie auf unserer Internetseite.“
„Überprüfen Sie ihr soziales Umfeld nach ästhetischen und kulturellen Gesichtspunkten. Nehmen Sie gegebenenfalls Änderungen vor.“
Eva befolgte jeden der insgesamt 15 Punkte. Gleich an dem Abend nach dem Casting hatte sie ihre Tabletten in den Müll geworfen. Die brauch ich nicht mehr. Nie wieder. Auf der Internetseite der Crick-Foundation informierte sie sich und lernte einige Passagen auswendig. Sicher ist sicher. Zur Universität ging Eva nicht mehr und unliebsame Anrufe von bestimmten Freundinnen, die sich nach einigen Tagen häuften, nahm sie entweder nicht an oder würgte sie nach kurzer Zeit ab. Als ihr Arzt sie wegen eines nicht wahrgenommenen Termins anrief, erklärte sie ihm ruhig, aber bestimmt, dass sie seine Dienste in Zukunft nicht mehr brauche. Kritische Medienberichte über die Idee des Garten Eden schaltete sie aus. Die Auskunft, dass die Idee des Multimilliardärs Crick nur geringe Bewerberzahlen verzeichnete, verzückte Eva geradezu. Dann steigen meine Chancen.
Das tiefe Seufzen, das in den Monaten und Jahren zuvor ein Bestandteil von ihr gewesen war, verschwand vollkommen.
Zwei Wochen später, nach intensiver Arbeit an den ihr genannten Punkten, läutete am Abend das Telefon. Eva nahm den Hörer ab, und am anderen Ende hörte sie eine etwas hölzern klingende, mit amerikanischem Akzent sprechende Tonbandstimme. Als diese sie darauf hinwies, dass der Anruf das Ergebnis ihres Castings enthalten würde, pochte ihr Herz nahezu laut hörbar.
Nach fünf vollen Minuten des Lauschens ließ Eva die Hand mit dem Hörer sacken. Ihr Lächeln war gänzlich verschwunden. Den Rest des Abends verbrachte sie damit, im Müll nach ihren Tabletten zu suchen.