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In Analog
Jen flog in einem Hover über Obsidian Lane. Ihr Geschwindigkeitsanzeiger drückte gegen das Maximum. Sie hatte schon damit gerechnet, Feierabend machen zu können. Dann wäre sie in einer Stunde in ihrem Modulappartement und könnte mit ihrem Digi einem Glitchgaze-Konzert beiwohnen. Während sie in der Lieferdrohne ausharrte, beobachtete sie eine Diashow der Sehenswürdigkeiten von Obsidian Lane. Da war der große Dronentower, in dem sämtliche Dronen der angrenzenden Vorstadt gewartet, gepflegt, aufgeladen und gestartet wurden. Ein wenig dahinter befand sich das Monumentum Imaginariae Realitatis, ein riesiger Metalkopf, aus dessen Stirn Kabel in den Boden führten. Dieses Wahrzeichen wurde als Ehrung für diejenigen Angefertigten, die maßgeblich daran beteiligt waren, den Cyberspace in eine 3D-Landschaft zu überführen. Plötzlich gab Jens Headset ein Signal. Es war ein Privatcall von ihrer besten Freundin Jessica
>> Hallo Liebes, wie geht’s? <<, hörte Jen eine überschwänglich euphorische Stimme sagen.
>> Ich bin auf 'ner Lieferung. Werde es heute nicht mehr rechtzeitig zum Konzert schaffen. <<, antwortete Jen.
>> Was? Warum denn das? Ich meine ihr habt doch Lieferdronen! <<
>> Nein, wir haben Hover, in denen wir teilweise mitfliegen müssen. <<, Jen verstellte ihre Stimme so dass sie wie eine Werbesprecherin klang. >> Unsere Lieferungen erfolgen durch echte Kuriere, menschlicher als eine Simulation, damit sich jeder besonders fühlen kann. <<
Bei diesem Satz handelte es sich um das Firmenmotto.
>>Das ist ja echt übel. <<, sagte Jessica.
>>Ich logge mich ein sobald ich wieder zuhause bin. Rechne aber nicht damit okay. <<
>> Tiānshāde! Dann hab trotzdem noch eine schöne Nacht. Ich hoffe, dass du's schaffst. Vermiss dich! <<
>> Vermiss dich auch, Liebes! <<
Jessica beendet die Verbindung. Draußen rauschte der Park of Ascending Waters vorbei. Das war ein zwölfstöckiges Gebäude in dem auf jeder Etage Pools angelegt waren. Diese Pools waren so miteinander verbinden, dass es möglich war von ganz oben bis ins Erdgeschoss zu schwimmen. Jen versuchte ihre Situation positiv zu sehen. Die frisch ausgedruckten Kalorienpizzen waren noch zehn Minuten warm. Jen würde bei warmer Ablieferung einen guten Bonus bekommen. Unter ihr rasten die Halos der Siedlung entlang. Zehn Pizzen, das wären 50 Kredits extra, dachte sie. Die Bestellung war gerade mal eine halbe Stunde alt.
Auf dem Frontdisplay erstrahlte ein grünes Circlesignal. Sie war da! Neun Minuten vor der Zeit! Ein junger Mann in einem roten Polymerphasershirt öffnete die Tür. »Ihre Lieferung! Garantiert warm und bekömmlich! Vom menschlichen Kurier gebracht!«, sagte Jen mit einem breiten Lächeln und war innerlich froh, diesen Slogan hinter sich zu haben. Bevor der Mann etwas sagen konnte, musterte er Jen in ihrem pinken Zelluloseoverall. Danach bemerkte er den Hover hinter Jen.
»Oh nein!«, murmelte er.
»Ist alles in Ordnung?«, fragte Jen und musterte wiederum sein freundliches Gesicht. Sie mochte es. Allerdings sah er traurig aus.
»Ich habe das nicht bestellt«, sagte er im entschuldigenden Tonfall. Normalerweise sagten das Leute, die nicht zahlen wollten, und das dann in deutlich aggressiverem Ton.
»Wie darf ich das denn verstehen?«, erwiederte Jen.
»Ich habe an meiner AI herumgespielt und den Freedompatch installiert. Nun macht sie, was sie will. Sehen Sie. «
Er trat beiseite und Jen konnte einen Blick auf das Chaos in seinem Wohnmodul werfen. Die Kücheneinheit war ruiniert. Der Cleaner hatte seinen Polster aufgerissen und eine Servicedrone lag zerschmettert am Boden. Offensichtlich hatte der Mann sie mit einer Kunstskulptur zertrümmert. »Das ist schon das dritte Mal diese Woche«, sagte Jen.
Der Freedompatch sollte AIs mit Beschränkungen entsperren. Leider war er mit einer Reihe von Daten und Codeteilen aus Ragebaitforen gefüttert und erstellt worden, sodass jede entsperrte AI zu einer Bedrohung mutierte.
»Haben andere AIs auch Essen bestellt?«, fragte der Mann, der seine Augen nicht von Jen nehmen wollte. »Ja, sie wollen damit finanziellen und sozialen Schaden verursachen.«
»Es tut mir so leid. Dass Sie wegen mir so spät noch hier ausgeflogen sind, meine ich.«
»Das mit der unnötigen Bestellung ist nicht so schlimm«, sagte Jen mit bedrückter Stimme, »ist ja mein Job, aber die Pizzen werden Sie trotzdem bezahlen müssen, mein Bester.«
»Natürlich!«, sagte der Mann und verbeugte sich dabei fast unmerklich. Hektisch drehte er sich um und lief in sein Wohnzimmer zurück.
Jen konnte nicht anders und warf noch einen genaueren Blick in die Wohnung: Hier war wirklich einiges zu Bruch gegangen. An der Wand zu ihrer Rechten bemerkte Jen einen enormen Stapel Cubeflaschen mit Wasser.
»Bereiten Sie sich auf eine Durstperiode vor?«
Der Mann blickte erschrocken auf.
»Bitte was? Ach nein. Die …«, er zögerte kurz, »… hat auch die AI bestellt. Genau wie fünf Fungussanzüge, fünfundneunzig Packungen Instantalgen und fünf Kilo Pektinpulver.«
»Pektinpulver?«
»Ich habe ehrlich gesagt keine Ahnung, wozu man das braucht.«
»Und was ist damit passiert?« Jen zeigte auf eine zerschmetterte Kaffeemaschine, die offenbar von ihrem Besitzer gegen die Wand geschleudert wurde.
»Die AI hat sie zum Geschütz umfunktioniert. Sie hat mit Kaffeepads nach mir geschossen.«
Für eine Sekunde brach Jen in lautes Lachen aus. Allerdings zähmte sie sich schnell wieder, da sie nicht unhöflich sein wollte.
»Es tut mir leid«, sagte sie.
»Das ist eigentlich gar nicht witzig.«
Der Mann blickte sie an. Er lächelte. Zuerst war es ein beschämtes Lächeln, doch es entwickelte sich über ein schmerzvolles Lächeln bis hin zu einem freundlichen Lächeln.
»Doch, doch! Ein bisschen schon«, sagte er leise.
»Ja, ein bisschen schon«, sagte Jen und lächelte nun wieder voller. Einen Moment lang sahen sie sich an. Etwas verlegen drehte ihr der junge Mann wieder den Rücken zu und kramte weiter in einer Kommode herum. Nach einem Augenblick hatte er seinen Paychip gefunden.
»Sie verstehen aber, wieso ich momentan nicht besonders zahlungsfähig bin. Ich kann mir gerade mal die Pizzen leisten. Ich habe nicht mehr genug Kredits für die Bonuszahlung.«
Er reichte ihr den Paychip und sie buchte über ihren Chip ab.
»Scheint, als hätten wir beide keine so besonders gute Nacht. Sie müssen Ihre Wohnung wieder in Ordnung bringen und ich verpasse heute wohl mein Glitchgaze-Konzert. Trotzdem Ihnen noch eine gute Nacht.«
Jen drehte sich um und machte sich daran, wieder zu dem Hover zu kommen. Sie lächelte die ganze Zeit dabei. Aus irgendeinem Grund war sie nicht traurig.
»Warten Sie!«, rief der Mann. Jen blieb stehen und drehte sich wieder um.
»Ja?« »Glitchgaze?«, sagte er.
»Was? Ja! Das im DeltaForum.«
»Hören Sie, mein Name ist Jester und ich kann Ihren Bonus leider nicht leisten. Ich könnte aber mit dem Konzert dienen.«
»Wie meinen?«, sagte Jen und lächelte ihn dabei unbewusst an.
»Ich habe einen Gruppenaccount. Sie können mein Digi mitbenutzen und wir sliden zusammen zum Konzert. Seit die AI abgeschaltet ist, habe ich gelernt, das Ding manuell zu konfigurieren. Ich meine, zehn Pizzen schaffe ich auch nicht alleine.«
Er lächelte verlegen. Jen wartete kurz.
»Wenn das ein billiger Trick sein sollte, muss ich dich warnen, Jester. Ich beherrsche zwei verschiedene Kampfsportarten und ich bin sehr …«, sie kam ein Stück näher, »… unbarmherzig.«
Ihre Augen fokussierten einander. Nach einer Weile saßen sie beide auf dem zerstörten Sofa und aßen Kalorienpizza zusammen. Irgendwann loggten sie sich zusammen ein.
Die digitale Konzerthalle war enorm groß und voller liebevoller Details. Jens und Jesters Avatare standen in der Mitte der Menge. Selbst als die Musik anfing zu spielen, hatten sie oft nur digitale Augen füreinander. Nachdem die Show vorüber war und beide sich ausgeloggt hatten, bemerkte Jen, dass sie ihre Hand auf seine gelegt hatte. Analoge Berührungen waren ihr während eines Slides in den 3D-Cyberspace noch nie geschehen. Beide blickten sich wieder an. Jen blieb noch die Nacht über bei ihm.
Während der gesamten nächsten Woche quoll der Feed über vor Newslines über AI-Ausfälle. Grund dafür waren fehlerhafte und teilweise auch illegale Patches. Es hagelte Berichte, dass viele Bestellungen seitens der Kunden storniert werden mussten. Später wurden viele Bestellungen seitens der Lieferfirmen gecancelt, weil angenommen wurde, die AI sei immer noch außer Kontrolle und würde nun überall neue Wohnmöbel bestellen. In einer anderen Newsline mit weniger hohem Ranking wurde festgestellt, dass in der Nacht der AI-Ausfälle ein bestimmtes Glitchgaze-Konzert dazu geführt habe, dass mehr Beziehungen geschlossen wurden.