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In der Dämmerung
…
Wumm…
…
Wumm…
…
Wumm!
…
Wie ein durchdringend lautes Wummern marterte der Kopfschmerz ihren Geist. Claudia wusste, dass er schon da gewesen sein musste, bevor sie erwacht war. Und auch jetzt, nachdem sie (wieder?) bei Bewusstsein war und sich ihre Gedanken zu regen begannen, beschränkte sich ihre Wahrnehmung noch immer fast vollständig auf diesen Schmerz. Diesen heftigen und ausfüllenden Schmerz, der den wabernden purpurnen Nebel, der über ihrem Geist lag, mit der wiederkehrenden Gewalt eines jäh hernieder sausenden Messers durchstach. Sonst war da nur der seltsame schon verklingende Widerhall eines schrillen Kreischens in ihren Ohren – ob es sich indes wirklich um ein Kreischen handelte oder nur um ein ähnliches Geräusch, vermochte sie nicht zu sagen.
Und ist das überhaupt wichtig? Wahrscheinlich nicht…Genau so unwichtig wie all die andren Sachen, die einem am Morgen durch den Kopf gehen, bevor man die Augen aufmacht, aufsteht und…
(Wumm!)
Erst jetzt wurde ihr langsam bewusst, dass sie nicht in ihrem Bett lag, um sich gleich wie an so vielen Tagen zuvor zu erheben. Der Boden unter ihr fühlte sich nicht nur hart an wie ein Stein, sondern schien auch übersäht zu sein mit unzähligen kleinen Kieseln. Sie wollte mit einer Hand über den Boden fahren, um sich Gewissheit über seine Natur zu verschaffen, doch ihre Muskulatur streikte. Sie konnte sich nicht rühren.
(Wumm!)
Das… ist nicht… gut.
Ihre Situation gewann in ihren Augen zunehmend an Bedrohlichkeit, auch wenn das merkwürdige Kreischen in ihren Ohren verklungen war. Ihr Atem beschleunigte sich und in der Dunkelheit ihrer Gedanken konnte sie nun hören, wie dabei ein beunruhigendes Rasseln aus ihrer Kehle drang.
Das macht die Lage auch nicht wirklich besser. Was ist verdammt noch mal los mit mir?
Ihr ganzer Körper fühlte sich taub an, beinahe als hätte sie sich eine Ewigkeit
(Wumm!)
lang nicht bewegt. Doch immerhin konnte sie bald wieder all ihre Glieder spüren, sodass sie feststellte, dass sie seltsam verrenkt waren, wie bei einer achtlos fortgeworfenen Puppe. Während sie diese Dinge registrierte, wuchs in ihr eine unbestimmte Furcht, die über das Maß angemessenen Erschreckens weit hinaus ging. Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals.
Was für eine bescheuerte Redewendung!
Sie machte den Versuch zu rufen, was jedoch nur zu einem erbärmlichen Krächzen und einem anschließenden erstickten Husten führte. Dabei bemerkte sie, dass sie Staub aufgewirbelt hatte, der sich nun auf ihr Gesicht legte.
Wo bin ich hier? In einer Höhle?
Nachdem sie sich zehn Sekunden Zeit gelassen hatte, um sich zu erholen, versuchte sie nun – trotz des unangenehmen Brennens ihrer Augen – die Umgebung zu sondieren. Das Resultat war ernüchternd, die Welt um sie war von einer vollkommenen Schwärze. Erst nach und nach zeichnete sich schwach eine vielleicht drei Meter entfernte Wand ab.
Mit einer gewaltigen Kraftanstrengung gelang es ihr schließlich, zumindest ihre Arme wieder unter ihre Kontrolle zu zwingen und kurz darauf schaffte sie es, sich aufzusetzen. Dabei packte sie ein heftiges Schwindelgefühl, das sie beinahe dazu brachte, sich wieder hinzulegen, was sie sich jedoch nicht gestattete. Erst jetzt kamen ihr die seltsamen rötlichen Punkte, die ihr Blickfeld durchschwirrten richtig zu Bewusstsein, überhaupt schien ihr gesamte Wahrnehmung irgendwie… verzerrt. Dazu kam noch eine stumme bleierne Angst.
Wo bin ich hier nur hin geraten?
Unwillkürlich erschien vor ihr das Bild ihres Ehemanns Stefan. Immer stärker wurde diese Imagination, bis sie letztlich tatsächlich glaubte, seine Züge in der alles verschluckenden Finsternis zu sehen. In seinem Gesicht war ein Ausdruck starker emotionaler Unruhe, den sie nicht so recht zu deuten verstand. War es Angst, Anspannung oder etwas gänzlich anderes, was ihr aus diesen plötzlich so fremden Augen entgegen blickte? Und warum kam es ihr auf einmal so vor, als habe sie Stefan
(Wumm!)
das letzte Mal vor einer unbestimmbar langen Zeit gesehen? Was bedeutete der unbegründete Anflug von bitterer Wut, der sich zu der nagenden Furcht in ihrem Hinterkopf gesellte… ?
„Stefan?“
Stille und Düsternis wichen für den Bruchteil einer Sekunde vor dem Wort zurück, nur um ihre Reihen danach um so dichter zu schließen, sodass sie sich nicht einmal mehr sicher war, ob sie es tatsächlich ausgesprochen oder nur gedacht hatte.
Schluss mit dem Unfug, reiß dich zusammen!, befahl sie sich streng.
Zwar waren die tanzenden Punkte vor ihren Augen noch nicht wieder gewichen und das Schwindelgefühl erwies sich als ebenso hartnäckig, doch hielt sie es hier am Boden kauernd einfach nicht länger aus. Unbeholfen kam sie auf die Beine. Diese drohten jedoch sofort nachzugeben, sie stolperte unbeholfen auf die Wand zu und konnte dabei nur hoffen, dass es hier keine Löcher im Boden gab oder ihr plötzlich ein massiver Gegenstand im Weg wäre. Schließlich schaffte sie es, bis zu der Wand und ließ sich aufkeuchend mit dem Rücken dagegen fallen. Einige Sekunden verstrichen und es gelang ihr, immer mehr von ihrer Umgebung zu erkennen: Sie befand sich in einem rechteckigen, relativ hohen Raum. Das spärliche Licht drang von einer Stelle recht weit oben an der ihr nun zugewandten Wand zu ihr herab. Vermutlich von einer Tür, schoss es ihr ohne jegliche Rechtfertigung durch den Kopf.
Ihre Augen gewöhnten sich zunehmend an die Dunkelheit und bald konnte sie die Konturen einer Treppe erkennen, die von der vermeintlich Tür herabführte. Während sie diese Beobachtungen anstellte – immer noch beeinträchtigt durch ihre befremdlich unwirkliche Wahrnehmung und das empfundene unverminderte Grauen – gewannen die Maße des Raumes etwas Vertrautes. Claudia zwang sich zum fieberhaften Nachdenken darüber, woher ihr ihre Umgebung wohl bekannt vorkam, während sich vor ihr wiederum das Abbild Stefans aus dem Dunkeln herausschälte und sie nun unverhohlen arglistig anzugrinsen schien. Auch dieses Mal steigerte sich die Intensität der Erscheinung bis zu einem grauenhaften Ausmaß. Ebenso konnte sie erneut das Anwachsen eines scheinbar unbegründeten Zorns in sich feststellen.
In diesem Augenblick aber erkannte sie die Kammer, in der sie sich nun befand wieder
(Wumm!)
und konnte nur mit Mühe vermeiden, hysterisch zu lachen.
Sie war hier nicht an irgendeinem fremden Ort – auch wenn sie früher immer eine gewisse alberne Furcht vor ihm verspürt hatte – sondern schlicht und ergreifend im Keller des Hauses, das sie gemeinsam mit Stefan bewohnte!
Das erklärt zwar nicht, warum ich hier ohnmächtig herumliege, aber das kann mir im Moment wohl auch völlig egal sein!
Eiligen Schrittes bewegte sie sich auf die Treppe auf der anderen Seite des Raumes zu. Dabei meldete sich das Schwindelgefühl zurück, sodass sie ein wenig langsamer weiterging, aber nicht wesentlich. Sie konnte es schließlich kaum erwarten, hier heraus zu kommen.
Die ersten Stufen hatte sie schon genommen, da kehrte Stefans Gesicht zurück, diesmal gleich vielfach, seine Blicke schienen sie von überall her zu fixieren.
Was zum Teufel ist hier los?
Die Lippen der Erscheinungen begannen sich zu bewegen, so als formten sie Worte, die Claudia jedoch nicht verstand. Der zornige Ausdruck aber, mit dem sie dies taten, genügte ihr, um jegliche Vorsicht zu vergessen und sie die restlichen Stufen hinauf rennen zu lassen. Einmal wäre sie fast wieder hinab gestürzt und konnte sich gerade noch an einem hervorstehenden Stein im unregelmäßigen Mauerwerk festhalten.
Noch bevor sie die Tür erreichte, hatte sich ihre mäßige Wut auf Stefan in eine wilde Raserei verwandelt, die sie selbst schaudern machte.
Letztlich aber erreichte sie die Tür und die beängstigenden Visionen wichen wieder der relativen Finsternis, auch ihr Zorn verrauchte so schnell, wie er stark gewesen war. Doch noch immer nahm sie die Welt um sich auf jene sonderbare Art und Weise war und das Schwindelgefühl wurde letztlich so schlimm, dass sie sich erneut gegen die Mauer stützen musste. Mit der linken Hand wollte sie sich die Stirn reiben, hinter der noch immer ein zermürbender Schmerz hämmerte, doch als ihre Fingerkuppen ihr Ziel erreichten
(Wumm!)
stieß sie einen schrillen Schrei (ein Kreischen!) des blanken Entsetzens aus. Was ihre Hand letztlich berührte war eine hässliche Wunde, fast ein Loch, ein verdammt hässliches Loch,
(„Was ist es, Doktor?“ „Es ist ein gottverdammtes Loch!“)
da wo sich die Mitte ihrer Stirn befinden sollte. Dann ertastete sie getrocknetes Blut und etwas, was hoffentlich kein Knochensplitter war.
Nur mit einer unglaublichen Willensanstrengung konnte sie bei Bewusstsein bleiben. Dumpf sagte sie zu sich selbst: „Du brauchst einen Arzt.“
Als sie gerade die Tür aufstoßen wollte, wich diese vor ihr zurück, wurde von der anderen Seite her aufgezogen. Dahinter stand Stefan.
„Gott sei dank, dass du da bist, es war entsetzlich, es ist entsetzlich, Stefan, ich brauche sofort Hilfe!“
Stefan rührte sich nicht.
Auch ohne die geschärfte Wahrnehmung, über die ein Mensch im Zustand höchster Panik verfügt, hätte sie festgestellt, dass er alt aussah. Unter seinen müden Augen, die wild hin und her huschten, hingen dicke Tränensäcke, seine Haut wirkte grau und krank. Er machte einen abgemagerten Eindruck und seine gesamte Haltung hatte etwas Ungesundes. Die folgenden Worte entwichen seinen blutleeren Lippen mit dem Tonfall eines Mannes, der sich einem bekannten, aber dennoch nicht zu bewältigenden Schrecknis gegenüber sieht: „Warum? Warum lässt du mich nicht endlich in Ruhe?!“ Immer mehr steigerte sich seine Stimme zu einem furchtbaren Kreischen: „Warum jede gottverdammte Vollmondnacht?!“
Dann verschluckte ein alles übertönendes Krachen alle anderen Geräusche und eine unwiderstehliche Gewalt riss Claudia von den Füßen. Während sie in die endlose Nacht stürzte erkannte sie nun das doppelläufige Gewehr, das er in Händen hielt. Schließlich, kurz bevor sie auf dem Kellerboden aufschlug und diese schauerliche Imitation des Lebens wieder aus ihr wich, konnte sie noch sein schallendes Gelächter hören. Das Lachen eines Irren.