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In der Tiefe
Früher hatten wir wenig miteinander zu tun. Wir sahen uns sporadisch, im Sommer. Beide liebten wir das Meer. Ich beobachtete sie wie ein Krebs, der unter nassem Sand hervorlugt. Iris stand barfuß am Ufer des Meeres in einem weißen, hochgeschlossenen Sommerkleid. Sie trug eine dunkle Sonnenbrille und ignorierte mich. Obwohl sie beständig auf der Suche nach einer besten Freundin war, wollte sie mich nicht zur Freundin.
Lange Zeit sahen wir nichts voneinander. Erst in der Oberstufe begegneten wir uns wieder und teilten alle Kurse. Sie war noch immer auf der Suche nach einer besten Freundin. Inzwischen trug sie knappere Oberteile, kürzere Röcke. Ihr Lächeln war breiter, ihr Lachen lauter geworden. Sie traf auf Sonja und wollte von ihr gemocht werden. Aber Sonja konnte sie nicht mögen. Hätte Iris mich gefragt, ich hätte ihr sagen können, was sie falsch machte. Sie rief Sonja zehnmal die Woche an, fragte sie fortwährend, ob sie mit ins Kino, in die Disko oder Eisessen gehen wolle. Sonja war interessiert, hatte aber kein Bedürfnis bis zur Atemlosigkeit umklammert zu werden. Iris sollte das verstehen können. Sie weigerte sich. Stattdessen hängte sie sich an Bianca: Blond, flach, spaßwillig. Sie trieben auf den Wellen des Meeres dahin, immer in der Nähe des rettenden Ufers. Sie schminkten und stylten sich. Erhoben ihr Äußeres zum Sinn ihres Daseins. Ihr gemeinsames Lachen war so laut, dass es den Horizont durchdrang. Sie tanzten im Duft von Schweiß und Sonderangebotsparfüm. Keine hätte mir auch nur einen Blick unter den vor Farbe hinabsinkenden Wimpern zugeworfen. Dabei war es eine Zeit, in der beide Mädchen sich gerne mit Spiegeln umgaben.
Das Tanzen machte Iris blass. Das Lachen kostete Kraft, und ihre Leistungen in der Schule ließen nach. Sie hatte Probleme mit dem logischen Denken – Mathematik, Physik – da begann es. Ich hätte ihr sagen können, dass ihre Synapsen dafür verantwortlich waren, oder besser, deren Unterversorgung. Aber sie fragte mich nicht. Bianca war selbst schlecht in der Schule. Sie machte sich keine Gedanken über Iris’ Zurückbleiben, ihr Hinabsinken. Bianca machte sich nie Gedanken. Nun tanzte nur noch sie auf der Oberfläche, während Iris’ Füße unter Wasser standen und die Bewegungen schwerfälliger wurden. Abend für Abend sahen wir einander ins Gesicht, wenn die Make-up Schicht hässliche Flecken auf dem bis dahin weißen Tuch ließ. Aber ihr Blick wich meinem aus. Sie brauchte mich nicht. Sie hatte sich verliebt. In einen, der tanzende Mädchen mochte. Und sie kämpfte mit einem viel zu lauten, viel zu schrillen Lachen in verlorener Position. Ihre große Liebe lachte selbst laut, aber nicht schrill. Sie verstand, dass er klug war und suchte ihn durch Klugheit zu beeindrucken.
Leider war sie nicht mehr klug. Ich sah, wie sie sich abmühte und ihn doch nur unaufhaltsam von sich drängte, weil sie unfähig war, Doppeldeutigkeiten zu verstehen. Jeder Satz hatte nur noch eine Ebene, eine Fläche, horizontal ausgerichtet, durch die sie sank, ohne sie zu fühlen. Bianca war inzwischen längst in der Lage, ihr mit den Füßen ins Gesicht zu treten. Vorerst machte sie davon keinen Gebrauch.
Iris holte sich eine Abfuhr nach der anderen. Wir hatten einen guten Einstand. Denn ehe sie noch ihr Abitur beenden konnte, holte ich sie zu mir, zog sie hinab auf die andere Seite des Pegels. Wir begannen im Lager der Feinde, ohne Vorwarnung. Sie tauchten zu uns herab, in ihren weißen, göttlichen Tauchanzügen, und sie brauchten viele Tauchgänge, bis sie mich fanden. Vehement bekämpften sie mich mit Tabletten, Spritzen und Skalpellen ... und unterlagen. Von da an waren wir Freunde. Sie brachten einen Schlauch als Geschenk und trieben ihn durch Iris’ Brust. Nun haben wir wieder Luft und können weiter sinken. Hin und wieder kommt Bianca herab, um nach Iris Gesicht zu treten. Sie tritt nach uns, weil sie alles Ungeschminkte abstoßend findet. Schminke hält nicht lang im salzigen Meer.
Sonja kommt manchmal vorbei, mit einer Sauerstoffflasche, und versucht, Iris am Arm zu halten, sie hinaufzuziehen. Umsonst. Ich bin stärker als die Taucher in Weiß, und stärker als jede halbe Freundschaft. Iris hat das gelernt. Endlich habe ich sie für mich. Auf unserem Weg hinab hat Iris mich zu hassen begonnen, obgleich sie meine Existenz nach wie vor leugnet.
Sie hat den Grund erreicht in einer Tiefe, in die kein Sonnenstrahl mehr dringt. Seltsame Pflanzen wachsen hier, die sich kalt und klitschig anfühlen. Kilometerlang erstreckt sich Düsternis. Iris starrt hinauf, bis ihre Augen rot sind, weil ihre Äderchen platzen. Manchmal bildet sie sich ein, Biancas Schatten über sich zu sehen, doch es sind nur die Taucher, die vergeblich nach uns greifen.
Iris will sie nicht sehen. Sie kann zwei und fünf nicht mehr addieren. Sie ist kein Mathematiker. Zu schwimmen hat sie nie gelernt. Sie läuft unter Wasser, soweit der Schlauch es erlaubt. Setzt einen Fuß bedächtig vor den anderen, während ihre Gedanken sich wiederholen, ihre Sätze unvollendet sind.
Ich bin noch immer bei ihr, in der Tiefe, halte als treue Freundin meine Totenwache. Ein paar Jahre noch, in denen wir auf dem Grund wandern, immer weiter hinab, den tiefsten Krater suchend. Das Wasser ist so schwarz, dass man all die anderen nicht sehen kann, die auf der gleichen Suche sind. Jedes Geräusch wird verschlungen in dieser riesigen, finsteren Stille. Wir irren allein voran, solange noch Kraft in ihr ist und ich verzehre sie, behutsam, Schritt für Schritt, denn ihr Ende, ist das Meine.