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- 18.06.2015
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In Kratten
Draußen standen sie im Gras, Sensen in der Hand, hellblaue Hemden, die Frauen mit Kopftüchern und weiten Röcken. Ein Wunder, dass sie nicht runter auf die Gleise rutschten, so steil war der Hang, den sie mähten. Paul schob das Fenster zu und setzte sich zurück an seinen Platz. Der Zug stand schon eine Weile still, Grafenort, man musste auf Zahnradantrieb umstellen. Die Strecke nach Kratten hatte über achtzehn Prozent, vielleicht mehr, er wusste es nicht genau. Paul blickte auf seine Uhr, dann hörte er Metall quietschen, ein Geräusch, das ihm Kopfschmerzen verursachte, die Zahnstange rastete ein und der Zug fuhr weiter, nach oben, in den Nebel.
Ein letzter Blick auf die Fakten. Bevor Paul die Aktentasche öffnete, hielt er sie sich vor die Nase und atmete tief ein. Der kräftige Ledergeruch gab ihm das Gefühl, seiner Aufgabe gewachsen zu sein. Er drückte zwei Finger gegen den Messingverschluss, der mit einem satten Geräusch nachgab. Zum ersten Mal war in der Tasche etwas drin, zum ersten Mal war Paul unterwegs, um einen Fall zu klären. Er zog das Dossier heraus. Alfred Zurgilgen, dreiundsiebzig. Herzversagen am dritten August, sechs Uhr morgens. Eine halbe Million Versicherungssumme. Auszubezahlen an den Sohn, Karl Zurgilgen, Bauer, Rütistrasse 1, Kratten. Der Totenschein war angeheftet, unterschrieben vom Hausarzt. Da lasse sich nichts machen, hatte Gander gemeint. Wenn der Herr Doktor schreibe, es sei Herzversagen, dann bleibe es Herzversagen, der passe schon auf, dass niemand das Gegenteil beweisen könne. Aber nach Kratten fahren und etwas herumstochern, hatte Gander gesagt, das könne nicht schaden. Und schließlich habe man diesen Hinweis bekommen, dem müsse man nachgehen, ideal für einen jungen Bluthund wie Paul.
Bevor er die Unterlagen zurück in die Mappe steckte, warf er einen Blick auf das beigelegte Foto. Alfred Zurgilgen in seiner Werkstatt. Im Hintergrund, gleich neben dem Kopf des Alten, sah man ein Bild an der Wand hängen, ein Frauenporträt. Noch hatte Paul keinen Plan, wusste nicht, wie genau er vorgehen sollte. Sich ein wenig umsehen, Zeit verbringen, schauen, was sich ergab. Ein Zimmer in der Krone war gebucht.
Kratten war Endstation. Paul wusste, dass das Dorf eingekesselt zwischen Bergen lag, sehen konnte er sie nicht. Graue Schwaden hingen über den Matten, es hatte zu nieseln begonnen. Der Ort war nicht viel mehr als eine lose Ansammlung von Häusern, verbunden durch eine schmale Straße, auf der so viel Schlamm und Geröll lag, dass man nicht erkennen konnte, ob sie asphaltiert war.
„Entschuldigen Sie“, fragte er den einzigen Passagier, der außer ihm noch im Zug saß, „wo finde ich den Hof der Zurgilgens?“
„Hä?“ Der Mann erhob sich, schulterte einen riesigen Rucksack und ging zum Ausgang.
„Karl Zurgilgen?“
Der Mann stieg aus, ohne sich umzudrehen, und Paul konnte durch die Fensterscheibe sehen, wie er den Arm hob und in Richtung Norden zeigte, bevor er im Nebel verschwand.
Es waren fast zwei Kilometer bis zum Hof. Pauls Haare waren feucht geworden, seine Socken auch, er hätte festere Schuhe anziehen sollen. Er stellte sich vor, wie es wäre, im Büro zu sitzen, unten in Luzern, einen Becher heißen Kaffee in der Hand. Aber was sein musste, musste sein, in Zeiten wie diesen war jeder verdächtig. Die Milchpreise lagen im Keller und auf einmal stand ein Hof in Flammen und noch einer und noch einer. Meistens machten sie Fehler, die Bauern, einer dümmer als der andere. Vergaßen, die Benzinkanister verschwinden zu lassen, verplapperten sich. Fast immer kamen sie ihnen auf die Spur, früher oder später.
Das hier war eine leicht andere Geschichte. Bei den Übersiebzigern macht die Pumpe auch mal schlapp, das konnte schon sein. Sie hätten die Sache wohl durchgewinkt, trotz der hohen Summe, wäre nicht dieser Anruf gewesen. Im Dorf erzähle man sich, der Alfred sei im Bett gestorben, hatte die Stimme am Apparat gesagt, er aber habe beobachtet, wie sie ihn von der Scheune ins Haus getragen hätten, die ganze Familie habe er gesehen. Karl, Fränzi, den Jungen. Von weitem, ja, aber er sei sich ganz sicher, und nein, seinen Namen nenne er nicht. Paul würde sein Bestes geben, um Licht in die Sache zu bringen. Es ging um viel Geld.
Der Hof sah aus, als sei nicht nur der alte Zurgilgen gestorben, sondern die ganze Familie. Niemand war zu sehen, im Wohnhaus brannte kein Licht, der Stall war leer. Davor stand eine Hundehütte, eine Kette lag am Boden. Kuhmist überall, vermischt mit fauligem Stroh. Paul rümpfte die Nase, drehte sich einmal im Kreis und ging zur Scheune. Oben war der Heuboden, unten standen ein Mähdrescher und Heugabeln, Plastikeimer, willkürlich verstreut. Nur die vordere Ecke war aufgeräumt. Das musste die Werkstatt des alten Zurgilgen sein. Eine schwere Hobelbank, blank geputzt, kein Sägespan zu sehen. Dahinter an der Wand die Werkzeuge, jedes an seinem Platz, nur ein Haken, gleich neben dem Bild der Greta Garbo, war leer.
„Was willst du hier?“ Die Stimme hinter seinem Rücken klang wie Hundegebell, Paul duckte sich, drehte den Kopf und sah einen Mann, der mit schnellen Schritten auf ihn zukam.
„Waser“, sagte er. „Paul Waser.“ Der Mann blieb stehen. „Alpha-Versicherung, Luzern.“ Paul streckte ihm die Hand entgegen.
„Aha.“ Der Mann zögerte eine Weile, schließlich griff er nach Pauls Hand, drückte sie kurz und kräftig. „Karl Zurgilgen.“
„Freut mich.“
„Warum bist du gekommen?“
„Ich möchte mich gerne etwas umsehen. Ein paar Fragen klären.“
„War doch schon einer von euch hier.“
„Ja, ja, Herr Zurgilgen. Aber das braucht halt seine Zeit. Wir müssen uns an Regeln halten, wissen Sie?“ Zurgilgen schien nachzudenken, kaute auf dem kalten Stumpen herum, den er im Mund hatte, dann nickte er.
„Gehen wir rein.“
„Wo ist der Hund?“, fragte Paul, während er Zurgilgen ins Haus folgte.
„Krepiert.“
Drinnen nahm Zurgilgen eine Flasche Zwetschgenschnaps und zwei Gläser aus dem Küchenschrank und sie setzten sich an den Stubentisch. Eine nackte Glühbirne brannte an der Decke, die so niedrig war, dass Paul sich hatte bücken müssen, als sie den Raum betraten.
„Wann bekomme ich das Geld?“, fragte Zurgilgen.
„Das entscheide nicht ich.“
„Warum bist du dann hier?“
„Herr Zurgilgen.“ Paul öffnete seine Aktentasche und breitete die Papiere vor sich aus. „Können Sie noch einmal alles bestätigen, was hier steht?“
„Stimmt alles“, sagte Zurgilgen, ohne einen Blick auf die Unterlagen zu werfen.
„Herzinfarkt also?“
„Ja.“
„Lag am Morgen im Bett?“
„Tot. Eingeschlafen und nicht wieder aufgewacht.“
„Im Bett?“
„Ja.“
„Nicht in der Scheune.“
„Wieso sollte er in der Scheune schlafen?“
„Ja, nicht schlafen. Aber den Herzinfarkt, den hätte er doch in der Werkstatt haben können.“
„Hat er aber nicht.“
„Nicht?“
„Wenn ich sage, mein Vater ist wegen seinem Herz gestorben, dann ist das wahr, da kannst noch hundertmal fragen.“
„Das habe ich nicht angezweifelt, ich habe nur gefragt, wo.“
„Dann ist ja gut.“ Zurgilgen erhob sich und blieb mitten im Raum stehen. Paul nahm das Dossier in die Hand.
„Könnte ich vielleicht noch mit Ihrer Frau sprechen?“
„Die ist nicht da.“
Er wusste nicht, was er noch fragen sollte, und starrte auf das gelbstichige Foto. Alfred und Greta Garbo. Dann sah er, dass neben ihrem Bild ein Seil am Haken hing, genau an der Stelle, die jetzt leer war.
„Ich möchte mir noch einmal die Scheune ansehen“, sagte er.
Es hatte aufgehört zu regnen. Paul stand vor der Krone und versuchte, seine Gedanken zu ordnen. Lustig gemacht hatte er sich über ihn, der Zurgilgen. Natürlich wisse er, wo das Seil sei. Runtergefallen sei es, als er Werkzeug auf dem Hürlimann habe befestigen wollen. Direkt in die Jauchegrube. Paul könne gerne nachsehen, wenn er wolle. Aber vielleicht habe es sich auch aufgelöst in der Brühe, das sei möglich, wer wisse das schon. Wer wisse schon irgendetwas, hatte er gefragt, mit ernster Miene und starren Augen. Das einzige, das er wisse, sei, dass seine Familie verhungere, wenn die Versicherung nicht zahle. Übertreiben konnte er gut, der Zurgilgen.
„Das Zimmer ist im ersten Stock“, sagte die Serviertochter und zeigte zur Treppe, die nach oben führte. „Zum Nachtessen gibt es Fleischvögel. Ist’s recht so?“
„Ja. Danke“, sagte Paul. Er fühlte sich nicht gut, der lange Weg zum Hof und zurück hatte ihn müde gemacht, Kopfschmerzen bahnten sich an, ihm war schwindlig und er fröstelte. Mitten im August, dachte er, so eine Scheiße. Er ging nach oben und nachdem er sein Zimmer begutachtet, die Füße gewaschen und sich aufs Bett gelegt hatte, schlief er auf der Stelle ein.
Der Fleischvogel war trocken und faserig, Paul spülte ihn mit einem großen Bier hinunter.
„Hat’s geschmeckt?“, fragte die Serviertochter.
„Wunderbar!“ Paul legte Messer und Gabel auf den Teller und blickte in den Raum. Er war leer, bis auf drei Männer, die an einem großen runden Eichentisch saßen. Paul nickte ihnen zu, nahm seinen Mut zusammen und fragte, ob er sich zu ihnen setzen dürfe. Die Männer sahen ihn kaum an, aber der eine schob den freien Stuhl, der neben ihm stand, um drei Zentimeter nach hinten.
„Danke. Ich bin Paul.“ Und nachdem er sich gesetzt hatte: „Übler Sommer, nicht?“
„Woher kommst du?“, fragte der eine, der ihm den Stuhl angeboten hatte. Er trug eine Brille, schien von den dreien der Hellste zu sein.
„Luzern.“
„Aha.“
„Noch eine Runde Bier für alle“, sagte Paul zur Serviertochter.
Eine Stunde später hatte er sie so weit. Zwar hatte er zugeben müssen, dass er bei einer Versicherung arbeitete und aus beruflichen Gründen am Tod von Alfred Zurgilgen interessiert war. Aber das schien die drei nicht weiter zu stören und alles, was sie erzählten, passte ins Bild. Sturzbesoffen sei der alte Zurgilgen gewesen, jeden Tag, und einmal sei er mit dem Traktor in Hubers Rapsfeld gefahren. Man habe ihn nicht mehr brauchen können, für nichts.
„Meist ist er dort hinten gesessen“, sagte der Mann mit Brille.
„Und gejammert hat er. Bald sei er tot, hat er gesagt, und dann tanze er im Himmel einen Vögelischottisch, mit Hanni im einen Arm und Greta Garbo im anderen. Jeden Abend der gleiche Text. Hanni, das ist seine Frau gewesen, weißt du, und nachdem sie gestorben ist, war‘s vorbei mit dem Alfred.“
„Das ist traurig“, sagte Paul.
„So ist es.“
„Der Franz tut mir leid“, sagte der Mann, der zu Pauls Linken saß.
„Franz?“
„Alfreds Enkel, der ist sieben. Du, der hat geschlottert, am ganzen Körper, bei der Beerdigung. Kreidebleich war er.“
„Am Tag, an dem Alfred gestorben ist, habt ihr da etwas gehört? Oder gesehen?“, fragte Paul.
Die drei schüttelten den Kopf, synchron, als hätten sie es einstudiert.
Er konnte nicht einschlafen, das Zimmer drehte sich um seinen Kopf, viel zu viel Bier hatte er getrunken. Du musst in Alternativen denken, hatte ihm Gander gesagt. Variante A und Variante B. Alfred Zurgilgen hatte einen Herzinfarkt gehabt, Alfred Zurgilgen hatte sich erhängt, in der Scheune, mit dem Seil, das verschwunden war, Alfred Zurgilgen hatte einen Herzinfarkt gehabt. Paul konnte nicht wissen, was stimmte, beides hätte sein können, aber er spürte es, er sah, wie der alte Zurgilgen am Balken baumelte, er sah es glasklar, natürlich war es so gewesen. Er brauchte einen Beweis. Oder Karl Zurgilgen gab es zu, gab zu, dass er ein Betrüger war und sie übers Ohr hauen wollte. Aber der gab nichts zu, niemals. Dann fiel Paul ein, was Gander ihm auch noch gesagt hatte. Der Ast bricht stets an der schwächsten Stelle.
„Noch einen Kaffee?“
„Danke, sehr freundlich.“
Pauls Augen schmerzten, sie waren verklebt, am Morgen, als er sie hatte aufschlagen wollen. Er fühlte sich fiebrig und schwach. Aber er war bereit, seinen Auftrag zu erfüllen.
„Wo ist das Schulhaus?“, fragte er die Serviertochter.
„Wir haben keines.“
„Aha?“
„In Grafenort.“
„Ach so. Und die Kinder laufen?“
„Jesses Maria, nein.“ Die Frau lachte und Paul sah, dass sie schlechte Zähne hatte. „Die nehmen den Zug.“
„Wann kommen sie zurück, ich meine, normalerweise?“
„Halb vier, glaube ich. Warum?“
„Nur so.“ Paul räusperte sich und stand auf. „Kann ich mir ein Seil ausleihen? Einen Strick oder so? Das wäre sehr nett.“
Nachdem er sich rasiert hatte, brach er auf in Richtung Norden, zu Zurgilgens Grundstück. Das Wetter war freundlicher an diesem Tag, ab und zu konnte man die feuchten Wiesen glänzen sehen. Rund fünfhundert Meter vor dem Hof zweigte er ab und nahm einen Weg, der auf eine Anhöhe führte. Er wollte sich einen Überblick verschaffen, von oben ließ sich vielleicht bestimmen, wo der anonyme Anrufer gestanden haben musste, als er die Zurgilgens beobachtet hatte. Erst als Paul schwer atmend auf einem Zwischenplateau angekommen war, erkannte er, die Hände in die Hüfte gestützt, die Sinnlosigkeit seines Unternehmens. Es hätte überall sein können, der Hof lag mitten in der Hochebene, es gab keinen anderen in unmittelbarer Nähe.
Den frühen Nachmittag verbrachte er im Bett, nachdem er in der Gaststube drei Stück hartes Brot in eine sämige Erbsensuppe getunkt hatte. Die Laken waren nass vom Schweiß, Paul wälzte sich hin und her, schlafen konnte er nicht. Immer wieder ging er seinen Plan durch, wägte die Wirkung dieses oder jenes Satzes, dieser oder jener Geste ab. Er kannte sich mit Kindern nicht so aus.
Um drei Uhr stand er auf, wusch sich das Gesicht, klemmte die Aktentasche unter den Arm und ging zum Bahnhof. Er wartete. Viele konnten es nicht sein, die ausstiegen. Franz musste zu den Kleinsten gehören und er musste den Weg nach Norden einschlagen.
Sie waren zu zweit unterwegs, damit hatte er nicht gerechnet. Sie schlenderten furchtbar langsam, blieben immer wieder stehen, um sich zu schubsen oder sonst wie zu ärgern. Etwa auf halber Strecke bog der eine Junge endlich ab und Paul beschleunigte seine Schritte.
„Hallo.“ Der Junge zuckte zusammen, es sah aus, als würde er gleich losrennen.
„Hallo“, sagte er mit piepsiger Stimme.
„Du bist der Franz, nicht?“
„Ja.“
„Ich muss zu deinen Eltern. Darf ich mit dir gehen?“ Der Junge nickte. „Ich bin Paul.“
Er streckte ihm die Hand hin, aber der wusste nichts damit anzufangen. Sie gingen eine Weile nebeneinander her. Dann fragte Franz, weshalb Paul seine Eltern besuchen wolle.
„Wegen deinem Ätti.“ Keine Reaktion. „Weißt du, wenn ich ganz sicher bin, was mit deinem Großvater passiert ist, dann bekommt dein Papa viel Geld und darum müssen mir alle erzählen, wie es gewesen ist.“
„Aha.“
„Hast den Ätti gerngehabt, nicht?“
„Mhm.“
„Bist traurig?“
„Ja.“
„Willst mir von ihm erzählen?“ Franz schüttelte den Kopf. Sie waren inzwischen schon recht nahe beim Hof, der Junge begann schneller und schneller zu laufen, Paul wollte ihn an der Schulter fassen, um ihn zu bremsen, ließ es dann aber bleiben. Er musste jetzt aufs Ganze gehen.
„Du hast deinen Großvater gesehen, als er gestorben ist, nicht?“ Sie blieben stehen.
„Der Ätti ist eingeschlafen und nicht wieder aufgewacht. Er lag im Bett und dann ist der Doktor gekommen.“ Es klang, als spreche der Junge mit dem Weihnachtsmann, ein Sprüchlein, lange eingeübt.
„Du weißt, dass man nicht lügen darf?“
„Ja.“
„Wenn du lügst, bekommt dein Papa kein Geld und dann muss er den Hof verkaufen.“
Franz starrte ihn an, blieb stumm. Paul packte seine Hand und zerrte ihn mit sich, es waren nur noch wenige Meter bis zur Scheune, der kleine Racker wehrte sich, aber es galt, die Sache durchzuziehen.
„Schau nach oben, Franz.“
„Nein!“
„Du schaust jetzt nach oben. Dort hat er gehangen, der Ätti, dort am Balken!“, rief Paul. Tränen schossen in die Augen des Jungen, er begann zu wimmern. Paul zog den Strick aus seiner Aktentasche. „Da! Mit diesem Strick, stimmt‘s?“ Paul ging in die Knie, legte seine Hände auf die Schultern des Jungen und schaute ihm in die Augen. „Da habt ihr den Strick durchgeschnitten, schau, und dann habt ihr den Ätti ins Haus getragen.“ Franz schluchzte, gleich würde er zusammenbrechen. Dann blickte der Junge auf einmal an ihm vorbei.
„Sauhund!“, schrie eine Stimme hinter Pauls Rücken. „Du verfluchter Sauhund!“ Er ließ den Jungen los, richtete sich auf und sah, wie eine Frau auf ihn zu rannte.
„Frau Zurgilgen“, sagte er. „Darf ich Ihnen bitte erklären …“
Sie schlug ihm mit der flachen Hand ins Gesicht.
„So, und jetzt hau ab!“
„Ich mache nur, was ich machen muss. Das ist mein Beruf. Es geht um die Wahrheit.“ Pauls Wange brannte.
„Wahrheit?“, lachte sie.
„Ja, genau.“
„Bursche, hier oben plagt man keine Kinder. Das ist die Wahrheit. Und jetzt …“ Sie blickte zum Tor. Paul legte das Seil zurück in die Aktentasche und gehorchte.
Zwei Tage, so hatte er es mit Gander vereinbart. Paul beschloss, noch eine Nacht in Kratten zu verbringen. Er hätte seinen Chef informieren müssen, aber ließ es bleiben. Nun saß er in der Krone und aß die gebrannte Creme, die es zum Nachtisch gab. Seine Hand zitterte, als er den Löffel zum Mund führte, es hatte ihn definitiv erwischt, Fieber, seine Stirn fühlte sich heiß an. Paul Waser sitzt mit Pullover und Jacke in der Krone zu Kratten, dachte er. Hat sich festgebissen. Gibt nicht auf. Jeder, der sich aufknüpft oder sich die Kugel gibt, hinterlässt einen Abschiedsbrief, das weiß man. Jeder. Auch der Zurgilgen.
„Kein Frühstück morgen“, sagte er zur Serviertochter, die ihn ansah, als krepierte er.
Er ging nach oben und legte sich ins Bett, ohne die Kleider auszuziehen, nur die Schuhe hatte er vor die Tür gestellt. Sie stanken, mehr als alles andere.
Paul saß auf der Anhöhe, die er am Tag zuvor bestiegen hatte. Den Jungen hatte er um halb acht weggehen sehen. Kurz darauf war Karl Zurgilgen losgefahren, mit dem Traktor. Und jetzt hatte, hundert Meter unter ihm, Fränzi Zurgilgen den Hof in Richtung Dorf verlassen. Es war so weit. Paul wartete noch ein wenig, dann machte er sich auf den Weg. Der Sommer war zurückgekehrt, Nebel und Wolken hatten sich verzogen, am Himmel kreisten Alpendohlen.
Als erstes durchsuchte er den Wohnzimmerschrank. Neben den Schnapsflaschen lagen Briefe und Papiere, das war ihm bei seinem Besuch aufgefallen. Er fand die Dokumente der Alpha-Versicherung und musste lachen. Das wäre was gewesen, wenn sie den Abschiedsbrief des Alten dazu gelegt hätten. Danach sah er sich in der Küche um. Nichts. Das Schlafzimmer. Paul öffnete die Nachttischschublade links. Eine Schachtel Stumpen. Stoffnastücher. Das war alles. Er ging um das Bett, dorthin, wo Fränzi schlafen musste und zog die Schublade heraus. Und da lag ein Zettel, einmal gefaltet. Er war zerknüllt und wieder geglättet worden. Paul schloss die Augen und atmete ein. Er hatte es gewusst! Sorgfältig faltete er den Zettel auseinander und las: Lieber Karl, liebe Fränzi. Macht euch keine Vorwürfe …
Ein Schlag auf seinen Hinterkopf. Paul wollte sich in die Haare fassen, seine Arme gehorchten ihm nicht, er wurde ohnmächtig.
Als erstes hörte er die Insekten. Ihm wurde bewusst, dass er auf dem Bauch lag, das Gesicht im Gras. Er rollte sich zur Seite, zog die Beine an den Körper und versuchte, ruhig zu atmen. Nach einer Weile wurde es besser, Paul fasste sich an den Kopf, Blut blieb an seinen Fingern kleben. Es fühlte sich an, als hätte man seinen Schädel mit Säure gefüllt. Lass den Mann liegen. Lass ihn einfach liegen. Hatte er das geträumt? Wo war er? Er öffnete die Augen und sah den blauen Himmel, die Alpendohlen und das Tor zum Hof. Sie hatten ihn aus dem Haus geschleift und drei Meter neben ihrem Grundstück abgelegt. Oder zwei, wer wusste schon, wie weit weg das Tor war? Er versuchte aufzustehen und übergab sich dabei auf seine Hände.
Er ging zurück zum Ort, immer wieder musste er sich hinsetzen, überprüfen, ob er noch blutete, durchatmen, weil ihm schwindlig war. Er brauchte Verstärkung, dachte er, Gander musste herkommen und die Polizei. Doch dann wurde ihm bewusst, was das bedeuten würde. Weshalb er das Kind derart drangsaliert habe, würden sie ihn fragen. Wie er in das Wohnhaus der Zurgilgens hineingelangt sei? Ob man sich bei der Alpha-Versicherung nicht ans Gesetz halte? Paul wurde übel. Er drehte sich um, betrachtete die Felsen, die sich hinter dem Hof auftürmten, und gab sich geschlagen.
„Gander.“
„Paul Waser hier.“
„Waser! Warum sind Sie nicht im Büro?“
„Ich bin in Kratten. In der Krone.“
„Und?“
„Nichts.“
„Was, nichts?“
„Nichts gefunden. Natürlicher Tod.“
„Haben Sie mit den Zurgilgens gesprochen?“
„Ja.“
„Nichts Verdächtiges?“
„Nein.“
„Rein gar nichts?“
„Nein.“
„Und dafür haben Sie drei Tage gebraucht, Waser?“
„Hier oben ist alles ein wenig anders, Herr Gander.“ Paul hängte ein, ohne sich zu verabschieden. Er ging zur Theke und bezahlte die Rechnung.
„Geht es ihnen gut?“, fragte die Serviertochter.
„Ja. Danke.“ Paul öffnete die Tür, frische Luft strömte herein, warme Sommerluft.
Die Zahnräder klinkten aus, ein Pfiff ertönte und der Zug setzte sich in Bewegung. Paul fragte sich, ob hier, in Grafenort, tatsächlich einmal Adlige gelebt hatten. Er hielt sich Nase und Mund zu, atmete aus, bis der Druck auf den Ohren verschwunden war. Dann sah er aus dem Fenster, blickte auf den gemähten Hang und schloss die Augen.