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In Perfect Harmony
Hinter dem Universum, am Ende der Fantasie, liegen Welten, die sind wie unsere. Und doch ist eine von ihnen anders als jede Welt im Raum der Realität und der Fantasie, denn in ihr trug sich zu, was auf unserer Erde niemals geschah und bis in alle Zeiten nicht geschehen wird…
Nebel lag über dem See wie ein Tuch, das die Welt sanft zudeckte. Von Zeit zu Zeit war der behutsame Ruf einer Eule zu hören und aus weiter Ferne die verklingenden Gesänge verschiedener Vögel, ansonsten war es still am Ufer des Sees, am Rand des Waldes und am Ende der Welt. Hier, im verborgensten Winkel des Landes, zog die Dämmerung zuerst herauf und nach Westen weiter, bis sie die ganze Welt in Dunkelheit hüllte.
Doch noch war der Tag nicht vorbei, noch die letzten Schritte vor dem Schlaf nicht getan – für die Geschöpfe des Waldes nicht und für den kleinen Menschen nicht, der in einen grauen Mantel gehüllt auf die Bäume zueilte, unschlüssig stehen blieb und schließlich ein kleines Bündel aus einfachem Stoff ins Schilf am Seeufer legte. Mit dem letzten Licht des Tages verschwand auch der Mensch aus der unberührten Natur und aus dem Leben des Neugeborenen, das friedlich in dem Stoffbündel schlief und den Nebel ebenso wenig wahrnahm wie Schatten und Kälte, mit denen die Nacht endgültig den Tag ablöste.
Auch blieb ihm verborgen wie es in seinem Bündel von einer Vielzahl kleiner Hände erfasst und durch die Luft davon getragen wurde – an einen Ort, der das erste sein sollte, was ihm nicht verborgen blieb und was zugleich allem übrigen menschlichen Leben zu jeder Zeit verborgen blieb: das geheime Innerste des Waldes, das Herz der Natur und das Reich der Unvergänglichen.
Wärme erfüllte das namenlose Kind. Es hätte niemandem zu erklären vermocht weshalb – nicht durch Sprache und nicht durch Telepathie – doch es fühlte sich geborgen. Es spürte, das jemand – etwas – da war. In diesem Moment seines Erwachens und ebenso für den Rest seines Lebens. Weder wusste es, was es war, noch wie es zu ihm gekommen war, doch es wusste, das all dies bedeutungslos war. Denn wenn es nur selber nicht protestieren würde, dann würde man ihm auch nicht mit Protest begegnen. Und das Kind wusste, dass es keinen Grund zum Protest gab. Es war warm. Niemand war da, der es beunruhigt hätte. Und doch war es nicht einsam. Mehr wünschte es sich nicht.
Es wusste nichts von der Zeit, die verging. Nur fühlte es irgendwann Hunger und in diesem Moment hätte die Zeit beinahe Bedeutung bekommen. Doch dazu kam es nicht, denn bevor es das Gefühl ganz begriff, wurde seine Aufmerksamkeit von zwei kleinen zusammenhängenden farbigen Flächen abgelenkt, die sich beständig hin und her bewegten. Und in diesem Moment erwachte ein neues Gefühl in ihm. Es fühlte, das dieses durch die Luft flatternde Etwas nicht bloß schön war. Und wenn doch, dann war diese Schönheit geteilt, weil sie im Wesentlichen von etwas ausging, das mit Augen nicht zu erfassen war.
Mit dem Schmetterling kamen Vögel und Bienen und das Kind erkannte in jedem von ihnen eine Seele, die ihm zugetan war. Und so war es ihnen zugetan, ohne je anders gefühlt zu haben. Und es streichelte den Schmetterling und die Vögel und ließ zu, dass sich die Bienen auf seine Lippen setzten. Und sie brachten etwas mit, das ihm das schon wieder verdrängte Gefühl des Hungers vertrieb. Das Kind nahm es als angenehm wahr, Honig und Früchte zu essen und mochte das Gefühl doch nicht mit dem vergleichen, das die anderen Seelen in ihm geweckt hatten.
Und als die Tiere ihn verließen, wusste es, dass sie zurückkehren würden und es vermisste sie nicht. Denn nach wie vor war das Kind nicht allein. Unter seinen Händen war der Tau des Morgens, der aus dem Gras glitzerte und funkelte und es freute sich an diesem Glanz. Dennoch war es bald vom Tau abgelenkt. Rund herum standen Bäume und verschiedene niedrige Pflanzen und sie sprachen zu ihm. Und stets war ihr Rauschen um das Kind und es störte sich nicht daran, dass es es nicht verstand, sondern freute sich, dass es es hörte und wusste, dass die Geister der Bäume für alle Zeiten um ihn sein würden. Denn fest standen sie und würden es nicht verlassen. Und es würde sie nicht verlassen. Das wusste es in dem Moment, da es über ihre Wurzeln strich und in die grünen und roten und goldenen Kronen sah. Und es hatte seine Könige und es hatte seine Eltern und es hatte seine Freunde.
Die Tiere kamen immer wieder zu ihm zurück. Und es kamen andere Tiere und sie gingen über die Erde und irgendwann, nachdem sich Licht und Dunkelheit und Schlaf und Wachen oft abgewechselt hatten, ohne dass das Licht oder die Dunkelheit etwas daran änderte, dass die bei ihm waren, die bei ihm sein wollten, ging es auf seinen vier Beinen mit ihnen. Und es sah, dass der Wald voller Bäume war und voller Tiere und Elfen, und sie alle wurden seine Freunde und bald war er ständig auf der Reise durch den Wald, um jeden seiner Freunde immer wieder zu sehen.
Und es kam der Tag, an dem es an einen Ort kam, an dem keine Bäume mehr standen. Es sah einen See und dahinter Hügel und Berge und allerlei mehr, das es nie zuvor gesehen hatte. Und es lief hinaus in die lichten Ebenen, um noch mehr zu sehen. Doch es war nur einige Schritte weit gekommen, da wurde ihm bewusst, dass es seine Heimat und all seine Freunde hinter sich gelassen hatte und sie doch sonst zu jeder Zeit um sich hatte. Und es wandte sich ab und lief zurück unter das Dach der Blätter. Und für alle Zeiten verließ es nicht mehr den Wald.
An jenem Abend hörte es, dass die Bäume laut und intensiv miteinander sprachen und es sah Schatten und Lichter zwischen ihnen, fern und undeutlich, die es nie zuvor gesehen hatte. Und es fühlte, wie Winde durch den Wald zogen, die keine Winde waren. Da wusste es, dass etwas Bedeutsames geschah. Und es fragte die Bäume danach, doch sie gaben keine Antwort und die Tiere und Elfen wussten nicht, was gesprochen worden war.
Und es kam ein anderer Tag, an dem fand das Kind einen der Vögel, die immer für ihn sorgten. Der Vogel schlief und so weckte es ihn nicht, sondern wartete. Doch auch als Dunkelheit und Licht sich zweimal abgewechselt hatten, mochte er nicht erwachen und es fragte seine Freunde, warum der Vogel nicht aufwache. Und sie sagten sie wüssten es nicht, doch es sei keine Seltenheit. Viele würden einmal nicht mehr erwachen.
„Aber wie können sie ewig schlafen?“ fragte es. Es fürchtete die Antwort nicht, doch glaubte es, sie würde traurig sein.
„Manches weiß keiner von uns“, erklärte ihm ein anderer Vogel. Und was wir nicht wissen, wollen wir nicht wissen, denn wir wüssten es, wenn wir es wissen sollten.“
Da beugte sich das Kind über den schlafenden Vogel und küsste ihn. Und da wurde ihm klar, dass es seine Seele noch immer spüren konnte. Und er fand keine Erklärungen für das, was geschehen war, doch suchte es sie auch nicht, sondern nahm an, dass nichts Falsches an diesem Schlaf war, denn auch sonst schien ihm nichts falsch, von allem, das geschah.
In dieser Nacht waren abermals Stimmen im Wald, die sich von denen der Bäume unterschieden. Und es erkannte sie als Stimmen, deren Geburt noch länger zurücklag als die der Bäume und es lauschte ihnen und glaubte ihre Erhabenheit und Weisheit wahrzunehmen, ungeachtet der Tatsache, dass er keines der Worte verstand, die sie sprachen.
Fortan aber sprachen die Bäume zu ihm mit Worten, die es verstand. Und sie sagten ihm es sei ernannt worden zum König der Elfen und Bäume und es wusste nichts damit anzufangen. Und es antwortete: „Ich möchte nicht, dass ihr mir dient, weil die Waldgeister es wünschen. Ich möchte euch dienen, wenn denn irgendjemand dienen soll.“
Aber es erhielt zur Antwort: „Eben deshalb ist es der Entschluss. Und die Geister des Waldes, die so alt sind wie die Welt, sprechen, wenn sie sprechen, aus unseren Herzen.“
So war es König. Und es freute sich letztlich darüber, als es feststellte, dass es nichts änderte. Nur manchmal geschahen seltsame Dinge und es fragte sich, ob sie mit seiner Königlichkeit zu tun hatten. Wenn es wieder ein Wesen küsste, das zu ewigem Schlaf gegangen war, dann erwachte dieses manchmal noch einmal, sprach mit ihm und bewegte sich wieder durch den Wald, bevor es sich viel später erneut zur Ruhe legte. Und wenn ein Baum Durst hatte, dann brauchte das Königskind nur über seine Wurzeln zu streichen, wie es dies seit Anbeginn seines Lebens tat und der Baum hatte das Wasser, das er brauchte und öffnete Blüten, die anders verschrumpelt wären.
Und es war glücklich Zeit seines Lebens, ohne dass es hätte sagen können, wie viele Tage oder Alter dies Leben dauerte. Länger lebte es als all seine Freunde im Wald, doch musste es sie nicht missen, denn ihre Kinder wurden ihm ebensolche Freunde. Es lebte auch länger als viele Bäume und es wunderte es nicht und es fragte sich nicht wie alt es werden mochte, bis der Schlaf kam. Es lebte so lange es lebte und es wollte nicht anders leben.
Es kam aber der Tag, da war es alt geworden und sein Gesicht war so faltig wie die Rinde der ältesten Bäume. Und über Nacht wurde es müde wie nie zuvor. Es spürte weder Schmerz noch Trauer und legte sich an jenem Ort nieder, an dem es vor vielen Altern zum ersten Mal erwacht war.
Und der Schlaf kam und mit dem Schlaf kam ein Traum.
In diesem Traum vernahm es die Stimmen, die es seit langem nun nicht mehr gehört hatte. Und diesmal konnte es die Stimmen der Geister verstehen. Sie riefen es bei seinem Namen – einem Namen, den es nie getragen hatte und von dem es doch wusste, dass es seiner war. Und im Traum schwebte es zwischen den Bäumen hindurch, durch Blätter und Farne, durch Täler, Hügel und Wasser im Wald und durch die Zeit bis hin zu ihrem Ursprung, wo der Wald die ganze Welt umfasst hatte. Und hier schwebte es mitten unter ihnen: unter den Geistern der Vorzeit, den heiligen Hütern des Waldes. Und sie sagten nichts und doch verstand es sie. Und in seinem Schlaf wurde es zum Geist des Waldes und für alle Zeiten zu seinem heiligen Hüter.
Einer von vielen und einer unter gleichen und doch einer, der anders war:
Das einzige Wesen, das von menschlicher Geburt in Harmonie gelebt hatte und ewig darin verblieb – in perfekter Harmonie.