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Novelle In Wolken schwimmen - Was von Träumen übrig bleibt

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21.02.2020
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In Wolken schwimmen - Was von Träumen übrig bleibt

Er drehte sich um. Seine Pupillen wanderten nach oben. Schatten huschten über seine Züge und seine linke Hand formte eine Faust. Schweisstropfen glänzten an seiner Stirn. Er senkte seinen Kopf leicht nach vorne. Hoffentlich bekam er keinen schlechten Eindruck von mir.

„Du bist der Neue?“

Seine Stimme dröhnte und er machte einen Schritt auf mich zu. Es bimmelte. Eine Strassenbahn rauschte vorbei. Mein Herz pochte schneller und ich spürte, wie bei jedem Schlag Blut durch meine Blutbahnen strömte. In kleiner werdende Adern drängte. Ich wippte auf einem Fuss zur Seite und wieder zurück. Wegen dem Licht wanderte ein weisser Punkt über seine kurzen braunen Haare, als er seinen Kopf bewegte. An seinem Haaransatz erkannte ich, wie grosszügig er seine Frisur mit Gel vollgeschmiert hatte. Ich kratzte mich. Eine feine Staubschicht bedeckte den Boden.

„Ich heisse Janosch. Du kannst es gut mit mir haben oder schlecht. Etwas dazwischen wird es nicht geben.“

Ein Auto heulte auf und ein länglicher Schatten wanderte am oberen Rand des offenen Fensters entlang. Konnte ich doch nur in ihn eintauchen. In ihm verborgen über Feldern huschen. Ohne dass mich jemand bemerkt. Ich nahm seine Hand entgegen und spürte wie sein Daumen über meinen Handrücken schrammte. Janosch entfernte sich wieder.

„Mir nach. Wir haben heute viel los. Einer unserer Mitarbeiter ist ausgefallen.“

Er verschwand hinter einer Ecke. Ich schlurfte ihm nach. Wir stiegen eine Treppe hinab. Feine Putzstückchen klackerten die Stufen hinab, als wir sie wegschoben. Sie trennten sich in kleinere Teile und manche zerfielen ganz. Wir betraten eine Schaumstoffmatte, die jedes Geräusch verschluckte und nie mehr hergeben würde.

Nicht weit entfernt ratterte es laut. Ich hielt mir das eine Ohr mit der Hand zu. Die Wand leuchtete weiss. Sie strahlte wie eine Lampe. Mein Rücken wärmte sich auf. Wie sähe es hier wohl in der Nacht aus.

„Komm schon.“

Janosch winkte mich zu sich und räusperte sich zweimal. Wir verliessen das Gebäude. Ich kniff die Augen zusammen. Als ob ich im Innern einer Lampe gelandet wäre. Hoffentlich versengt mich die Hitze der Glühbirne nicht. Doch der Wind erlöste mich. Einige Vögel zwitscherten. Irgendwie klangen sie traurig – fast ein wenig schwermütig. Ich gähnte.

Janosch zeigte mit seinem Finger auf die Schubkarre und mit der anderen Hand deutete er auf Werkzeuge.

„Na los, trage sie hinauf. Du wirst die Kraft in den nächsten Wochen schon entwickeln. Dafür sorge ich selbstverständlich.“

Ich griff nach einem Holzstiel und zerrte daran. Er bewegte sich nicht. Janosch grinste und blickte zur Seite weg. Ich nahm die andere Hand zur Hilfe. Sehnen spannten sich. Ich spürte jeden Muskel in den Fingern. Endlich bewegte sich der Stiel. Am Ende war Eisen befestigt. Als ob es sich um einen zu gross geratener Hammer handelte. Ich hievte den Hammer in die Schubkarre und spürte wie der Schweiss aus den Poren drang. Die Tropfen kitzelten und rannen über die Rippen, die sich unter meiner Haut abzeichneten. Bis sie sich in meiner Hose verloren.

Der Schweiss durchtränkte mein T-Shirt. Das Salz versteinerte es und bei jeder Bewegung schrammte es über meine Haut. Ich wischte mir mit dem Ärmel über die Stirn und rieb mir die Augen.
„Feierabend!“

Janosch rief mich zu sich. Ich atmete aus und schritt zu ihm.


„Warum plötzlich so zügig unterwegs. Du hättest schneller arbeiten können. Das sehe ich leider erst jetzt ...“

Janosch verzog seine Lippen und blickte an mir vorbei. Vielleicht sah er durch mich hindurch. Wie zeigte sich der Himmel heute. Wie es wohl wäre, an der Klippe eines Ozeans zu liegen und sich in den Wolken zu verlieren. Diese Kolosse aus Wasser durchpflügen den Himmel voller Grazie. Könnte ich doch nur auf einer mitreisen, um den Globus herum und noch weiter. Immer weiter reiten, über Nadelhölzer im Norden, über Mammutbäume an der Westküste der Vereinigten Staaten. Über Mangrovenwälder in Ostafrika. Bis ich jeden Baum von oben betrachtet hätte. Jede Nadel inspiziert hatte und jedes Blatt in meinen Erinnerungen grün strahlte und leuchtete.

„Hörst du mir überhaupt zu? Ich werde die Stunden an den Chef weiterleiten. Morgen wieder in aller früh. Haben wir uns verstanden?“

„Ja ...“

Die Wolken fehlten. Das Blau erstreckte sich von Osten nach Westen und von Norden nach Süden. Ein schwarzer Schemen flog über mich und warf seinen Schatten auf die Strasse. Ich konnte die Federn des Vogels erkennen. Kleine Halbkreise an den Enden seiner Flügel.

Die Schwingen eines Kondors sollen gewaltig sein. Ich drückte das Kissen zusammen. Presste es zu einer Kugel. Ich klemmte das Kissen zwischen Kopf und Bett. Wenn er über Vulkanen und im Gebirge kreiste und immer höher nach oben trieb. Immer weiter am Himmel empor. Melodien schwirrten um meinen Kopf und berührten mich. Sie verschwammen, lösten sich auf und ich verlor ihren Pfad. Sie verpufften im Raum.

Etwas schellte. Es ratterte in meinen Ohren. Meine Lippen klebten aufeinander. Meine Füsse ragten über die Bettkante. Auf dem Kissen bildete sich ein schwarzer Fleck. Ich verkroch mich weiter unter die Bettdecke und ignorierte die Lärmkulisse. Dunkelheit senkte sich über mich. Hüllte mich ein. Zog mich zurück in ihr Universum. Es knallte. Ich schrack auf. Meine Augenlider klebten zusammen. Etwas leuchtete vom Boden hinauf. Mein Handy musste vorher über die Pultkante getanzt sein. Seine Töne schnitten sich durch mein Trommelfell. Ohren ertragen viel.

Der Presslufthammer ratterte noch lauter. Ich gähnte mehrmals. Janosch stolzierte vor mir her. Ich schleppte die Schubkarre.

„Nur keine Müdigkeit. Der Tag hat erst begonnen und du musst noch viel lernen.“

Die Backsteine überragten die Schubkarre und ich musste sie vorsichtig stossen, damit die Steine nicht auf dem Boden zerbrachen. Jeder Schritt dauerte ewig. Wie lange können 12 Meter dauern. Gestern flog die Zeit vorbei. Obwohl ich fast zwanzig Minuten radelte, verging die Fahrt schneller als diese 12 Meter. Staub verdeckte die Sicht wie Nebel und Janosch marschierte mit seinen schweren Arbeitsschuhen vor mir.

„Hier. Ich zeige dir, wie wir Mauern erschaffen. Schau und lerne.“

Er umschloss einen Backstein mit seinen Fingern und platzierte ihn an die Wand, wo sich zwei Fenster befanden.

„Dies wird das Badezimmer werden. Auch wenn es bisher nach nichts aussieht, werden die Bewohner hier täglich duschen gehen und ihr Geschäft verrichten. Ohne uns müssten die Leute ihre Grundbedürfnisse draussen verrichten. Da staunst du was?“

Sicher war nicht einmal eine halbe Stunde vergangen. Ich nickte leicht.

„Der Anfang ist wie immer am Wichtigsten.“

Janosch zuckte die Wasserwaage aus einer seiner Hosentasche und legte sie auf den Backstein. Die Luftblase verharrte zwischen zwei schwarzen Linien.

„Wir haben einen ebenen Grund. Alles andere wäre eine Schande.“

Janosch legte die Wasserwaage zur Seite und kramte mit seiner rechten Hand in einer Hosentasche auf Höhe des Knies. Er zog etwas Weisses aus seiner Hosentasche. Um die Distanz zu messen.

Ich stütze mich an der Schubkarre ab.

„Ich weiss, dass man Gegenstände misst.“

Janosch verengte seine Augen und legte den Masstab auf den Boden. Einmal links vom Backstein und einmal rechts vom Backstein.

„Ist das alles, was du weisst. Wenigstens bist du nicht ganz auf den Kopf gefallen. Hat dir dein Vater auch gezeigt wie man Gegenstände misst … und dass wir Arbeiter mehr messen können, als nur die Länge der Wände, der Aussparungen und die Höhe von Fenstern.“

Wenigstens liess er mich verschnaufen. Warum können wir die Zeit nicht manipulieren? Am Ende des Abends würde es keinen Unterschied machen, ob der Tag schnell verging oder langsam. Das Resultat wäre das Selbe.

Janosch stiess den Masstab an die Wand und mass bis zum Ende des Backsteins. Er wiederholte den selben Schritt auf der anderen Seite.


Janosch nahm einen Spachtel und tauchte ihn in einen der Kessel. Die graue Masse verteilte sich auf dem Spachtel und Janosch klatsche die körnige Masse auf dem Backstein. Wie können die Arbeiter es ertragen, dass die Zeit so dahinschleicht, wie eine Schnecke, der der Antrieb fehlte? Immer wieder blickte ich aus dem Fenster. Hoffte ich, dass ich sehe wie sich die Sonne am Horizont neigte obwohl erst eine Stunde vergangen war. Schritte hallten durch den Raum. Ein Mann im Anzug trat neben uns. Er starrte auf einen Plan und drehte ihn mehrmals. Farben fehlten auf dem Plan fast gänzlich. Rechtecke und Quadrate, ineinander verschachelt wie ein Labyrinth, dem wir nie entkommen konnten. Eine Karte unbekannter Inseln hätte mich sofort in ihren Bann gezogen.

Wie kleine Inseln des Lebens spriessten die Gräser zwischen den Ritzen im Beton, um sich in der Sonne zu strecken. Ein Ozean aus kaltem Stein schloss sie ein und trennte sie von ihren Nachbarn. Ich löste meinen Blick vom Grün.

„Los, gehen wir.“

Ich hob meine Hand und wies ans Ende der Strasse. In etwa hundert Metern schlug sie einen Bogen nach links. Die Strasse stieg leicht an. Ich strampelte stärker. Die Anderen folgten mir. Tim strich durch sein dunkelblondes Haar, das ihm bis kurz über die Ohren reichte. Seine Augen schimmerten wieder leicht. Es wirkte auf mich, als ob seine Freude von einem schwachen Schwermut begleitet wurde. Tim nippte an einer Dose. Ein Helles. Dabei streifte er die Gegenfahrbahn. Mein Lenker vibrierte. Ich korrigierte meinen Kurs. Reto zupfte an seinem Ohrläppchen. Seine Augenbrauen glichen einem frisch geschnittenen Garten und hoben sich unkoordiniert. Reto rief mir etwas zu. Ich verstand es nicht. Er nuschelte wieder. Der Tequila wieder einmal. Mein Mund zog sich zusammen. Die Zitronen hätten später geerntet werden müssen. Eigentlich sollte er nicht mehr fahren. Wenn sie uns jetzt erwischen. Egal, wir erreichen das Ziel schon heil. Tim überholte mich und grinste. Er drückte die Dose zusammen und warf sie Richtung Abfalleimer. Die Dose hüpfte vom Metall und landete in den Ästen einer Hainbuchenhecke. Tim rümpfte seine Nase und beschleunigte.

„Stellt euch vor unsere Fahrräder hätten Segel. Wenn nur ein wenig Wind käme, würden wir abheben.“

Ich atmete aus. Tim drehte seinen Kopf zu mir.

„Reto würde bestimmt in eine Scheibe krachen. Schau dir seine Narben an.“

Tim kam in Schieflage nach rechts. Er drehte den Lenker abrupt zu seiner linken Brust. Sein rechter Ellbogen stiess gegen eine Strassenlampe.

„Das war haarscharf.“

Tim hielt seinen Lenker nun ganz fest.

„Genau genommen bist du zu spät ausgewichen. Pass lieber auf.“

Ich deutete mit meinem Zeigfinger auf die Strasse, die von rechts einmündete. Tim guckte nach rechts und schnitt die Kurve. Ein Auto schnellte heran und bremste kurz ab. Reto schien weit zurück zu liegen. Ich schloss zu Tim auf. Wind blies durch mein Haar. Der Himmel verdunkelte sich und das Blau strahlte stärker. Ich wand meinen Kopf leicht nach rechts. Zigaretten glühten auf. Rauch stieg in die Luft und verflüchtigte sich. Eine junge Frau lehnte sich an einen jungen Mann. Er tippte mehrmals an seine Brille und tappte mit seinen Schuhen auf dem Boden. Sicher ein Kunststudent oder Architekt.

Ich bremste ab und berührte mit meinen Schuhen den Asphalt. Tim kam vor mir zum Stillstand. Er grinste. Reto tauchte endlich hinter der Ecke auf. Kein Wunder brauchte er so lang. So viel Kurven wie er auf gerader Strecke fuhr. Der Raucher blickte zu uns. Ich folgte Tim zun Eingang. Bar Cade prangte auf dem Gebäude. Ein grosses A verband beide Wörter. Es hing schief und berührte das R. Ich schritt zu einem Tisch neben der kleinen Treppe. Tim winkte mich zu sich und verschwand im Gebäude. Reto fiel fast von seinem Fahrrad. Es knallte auf den Boden. Er duckte sich nieder und hob das Rad wieder auf. Ohne es abzuschliessen lief er in meine Richtung. Wir traten ein. Leise Melodien drangen aus den Lautsprechern. Spielte eine Geige? Ich horchte.

„Die Musik ist zu leise.“

Tim trat zur Theke.

„Drei Helle!“

Der Bartender zupfte an seinem Bart und schnappte sich zwei Gläser. Er zog am Hebel. „Groenverde“. Ein belgisches Bier. Das Bier plätscherte in das Glas. Am Ufer eines Flusses, umgeben von ehrwürdigen Bäumen, würde mir das Bier asugezeichnet schmecken. Wo Leben gedeiht und überall Abenteuer lauert. Irgendwo abseits bekannter Wege in einem fernen Land. Schmetterlinge tanzen durch die Luft. Glänzen im Licht der Sonne. Projizieren Licht und Schatten auf den Fluss und leuchten wie ein Regenbogen. Unter Strudeln, die sich im Wasser bilden, glitzern Fische. Er füllte das Glas rasch. Es zischte und sprudelte bis der Schaum den Rand berührte und fast darüber schwappte.

Wir nahmen unser Bier. Niemand beachtete die Spielautomaten. Waren sie jemals eingeschaltet. Die Spiele sahen interessant aus. Ein kleines rundes Männchen kullerte einen Hügel hinab. Spinnweben bildeten ein Geflecht hinter den Automaten.

Wie sah es hier vor Jahrzehnten aus? Sicher klimperten die Automaten. Jugendliche schlugen auf das Blech, wenn sie verloren. Sie rauchten Zigarette an Zigarette während sie an den Knöpfen ruckelten, den Joystick herumrissen, um das Tal heil zu erreichen. Einige schlossen Wetten ab oder schütteten sich die Birne weich. Bis ihr Blut wallte und sie sich um den Sieg prügelten.

In einigen Jahren würde sie das Gebäude abreissen. Mit Baggern würden sie die Wände zertrümmern. Jemand würde die Automaten bergen. Oder die Mauern bleiben da, bis sie zerfallen und die Automaten als stumme Relikte über die Ruine wachen. Efeu wächst bis es das Gebäude umschlingt, weil niemand mehr da sein wird, um das Haus instand zu halten.

„Komm schon ..“

Tim setzte sich auf die Polstergruppe. Hinter ihm errötete der Himmel. Die anderen Farben lösten sich im Dunkeln auf. Reto und ich zogen Stühle unter dem Tisch hervor, setzten uns und ich hob das Glas an meine Lippen, die ich geöffnet hatte. Ein leicht säuerlicher Geschmack. Eine fahle Grapefruit, welcher die Sonnenwärme zugesetzt hatte, bis sie leicht gärte und ihre Süsse einbüsste.

„Das nächste Mal nehm ich einen Laken mit und bind ihn ans Rad. Auf der Strasse kann man bestimmt auch segeln.“

Tim schmunzelte kurz und stellte das Glas wieder auf den Tisch.

„Zu viel Gegenwind. Du würdest rückwärts in eine Wand rauschen.“

Tim lehnte sich zurück und ich stützte mich auf dem Tisch ab.

„Die Routen müssen natürlich den Windbedingungen entsprechen. Es braucht einen Masten, den wir verstellen können. Stell dir vor wie alle schauen.“

Neben mir zuckte Reto mehrmals zusammen. Er kämpfte gegen den Schluckauf. Jedes Mal wenn er reden wollte zuckte sein Mund zusammen.

„Am Besten aus Aluminium. Dann ist er besonders leicht.“

Tim prustete los.

„Jetzt fängst du auch schon damit an. Was ist denn nur los mit euch?“

Ich klopfte mit meinen Knöcheln kurz auf den Tisch.

„Sei kein Spielverderber. Wie würdest du das Radfahren sonst revolutionieren?“

Tim blickte nach draussen. Eine junge Frau pustete Rauch in die Luft und strich durch ihr Haar. Ihre orange Hose betonte ihr Gesäss. Dies liess erahnen, welche körperliche Vorzüge sie besass. Tim stützte seinen Kopf ab.

„Das muss wohlüberlegt sein.“

Tim leerte sein Glas. Schaum rutschte an der Glaswand nach unten.

„Komm schon. Dir wird wohl etwas Intelligentes einfallen.“

Reto legte seine Hände auf den Tisch. Er liess einen Rest in seinem Bierglas und rührte es nicht mehr an.

„Mit einer Vespa bist du viel schneller, auch ohne Wind ..“

„Tim. Hast du keine Ideen?“

Ich inspizierte den Schaum, der in meinem Glas zurückblieb.

„Streng dich doch wenigstens an. Bitte.“

Reto lallte leicht. Bier auf Tequila ist immer eine blöde Idee.

„Na gut.“

Tim seufzte und atmete ein. Ein tiefer Atemzug.

„Wenn du mit einem Fahrrad den Wind nutzen willst, brauchst du sicher zwei Fahrer. Wie auf einem Tandem. Oder willst du im Ernst mit einer Hand steuern und der anderen Hand die Segel kontrollieren. Alleine ist ein Sturz vorprogrammiert.“

„Gute Idee.“

Meine Kehle fühlte sich vertrocknet an. Ich brauchte Nachschub.

„Das Fliegen wird schwierig. Leider. Stell dir vor, du könntest über die Dächer rauschen. Du könntest jedes Dach entdecken und auf die Weite blicken, die hohe Gebäude sonst vor dir abschirmen.“

Ich spielte mit meine Glas und schob es hin und her.

„Und die Musik aufdrehen. Eine Party auf den Dächern der Stadt. Wie geil das wäre. Wollt ihr auch ein Bier?“

Tim schob sich am Tisch vorbei nach draussen.

„Ja ...“

Reto hatte die gleiche Idee wie ich. Mit zwei Shots mehr. Oder waren es sogar drei. Ich durfte ihn nicht heimfahren lassen. Auf keinen Fall.

Tim kam zurück und gab Reto und mir ein Bier. Wahrscheinlich wieder Groenverde. Warum konnte er nicht einmal ein anderes Bier mitbringen.

Ich nickte Tim zu.

„Danke. Zu deiner Idee mit der Party auf den Dächern. Wenn die Bullen kämen, könnten wir leicht zu einem anderen Dach wechseln. Deren Gesichter wären unbezahlbar. Abknallen würden sie uns wohl kaum.“

Tim kippte gut die Hälfe seines Biers und wischte sich die Lippen ab. Er nickte leicht.

„So perplex wie die wären. Würden sie nicht einmal darauf reagieren.“

Ich stellte mein Glas zu abrupt ab. Bier schwappte über den Rand und bildete langsam einen wässerigen Saum um mein Glas.

Reto behielt sein Bier in der Hand und nahm immerfort Schlücke. Sollten wir nicht etwas dagegen unternehmen. Ich blickte kurz zu Tim. Er liess die Frau vor dem Fenster nicht aus den Augen. Bald würden sich seine Augen selbstständig machen und mehrmals ans Fenster klatschen, um mehr von ihrer Figur zu erhaschen.

„Hofft nur das keiner der Bullen vom Dach stürzt. Dann wäre die Leichtigkeit schnell verpufft.“

Reto hielt sich am Tisch fest. Seine Finger hackten sich in die Oberfläche. Einige drehten sich zu uns. Ein älterer Mann, so um die 60, musterte uns. Er beobachtete uns. Neben uns prustete eine Gruppe von Männern und vorne an der Bar hockte eine ältere Dame. Sie hatte einen gespritzten Wein vor sich.

„Denk dir doch nicht so düstere Szenen aus.“

Tim schlug auf den Tisch. Wieder schwappte Bier über den Rand meines Glases.

„Wir könnten uns doch auch auf den Kronen der Eichen niederlassen und dort auf einem Ast balancieren. Irgendwo weiter weg. Dann stört die Polizei auch nicht.“

Ich nippte an meinem Bier. Das andere Ende der Strasse konnte ich nur erahnen. Sie hatten die Laterne vor der Bar noch nicht eingeschaltet. In einem Fenster schaltete jemand das Licht an. An den Konturen erkannte ich das es eine Frau war, die ans Fenster trat und herausblickte.

„Und wer schaut, dass Reto nicht herunterfällt. Das würde mich trauriger stimmen als ein Polizist der auf der Strasse zerschellt.“

Tim hob das Bier und nahm einen weiteren Schluck. Er presste seine Lippen zusammen und seufzte. Reto blickte mich an. Er konzentrierte sich darauf den Kopf gerade zu halten und seine rechte Hand rutschte mehrmals ab.

„Auf dem Baum wäre es … es wäre so ...

Reto suchte nach Wörtern

„… so toll. Die ganze Umgebung vor uns …“

Er schnappte nach seinem Glas und bemerkte, dass es leer war.

„ .. und unsere Füsse baumeln ..“

Warum sprach er vorhin von einem Polizisten, der herunterfällt? Das ergab keinen Sinn. Oder kannte ich ihn gar nicht so gut. Welche Bilder gingen durch seinen Kopf? Hoffentlich bleibt das Bild des Baumes in seinem Kopf.

Reto knickte weiter ein, bis sein Kopf nach unten baumelte. Tim weitete seine Augen und blickte zu mir.

„Ich glaube wir müssen in nach Hause bringen.“

Tim schüttelte den Kopf.

„Ich hab noch Bier. Ein paar Minuten mehr oder weniger machen keinen Unterschied. Er wird sich nicht erinnern und ist sowieso irgendwo anders. Lass mich doch bitte das Bier austrinken.“

Reto würde sich bald übergeben. Er hatte die Kontrolle völlig verloren und wir mussten ihn sofort nach Hause bringen.

Ich blickte Tim an. Das konnte nicht sein Ernst sein. Wir können Reto nicht einfach seinem Schicksal überlassen. So viel hatte er schon lange nicht mehr getrunken. Habe ich ihn überhaupt einmal so besoffen wie heute erlebt? Ich schob den Stuhl nach hinten und stemmte mich am Tisch empor. Reto bewegte seinen Kopf und schaute Tim kurz an bevor er ihn wieder nach unten kullern liess. Seine Hände klammerten sich nicht mehr am Stuhl. Sein Stuhl rutschte immer weiter nach hinten und bald würde Reto auf den Boden rutschen. Das können wir nicht zulassen. Tim erhob sich auch endlich, umrundete den Tisch. Gemeinsam schritten wir zu Reto. Jeder griff nach einem seiner Oberarme. Wir zogen ihn langsam nach oben. Hatte Reto Blei im Magen? Er konnte doch nicht so schwer sein. Schlimmer als die Betonsäcke, die einem fast das Gelenk ausrenken. Bald müsste ich wieder auf der Baustelle arbeiten. Nur noch wenige Tage konnte ich in Freiheit verbringen.

Reto liess seine Hände baumeln und seine Füsse schlingerten am Boden entlang als wir ihn zum Ausgang zerren mussten. Reto lallte vor sich hin. Seine Hände zuckten zusammen. Wollte er nach etwas greifen? In wenigen Schritten würden wir ihm die Schuhe ausziehen. Einige Gäste drehten sich zu uns. Sie starrten Reto an und manche unterbrachen ihre Gespräche. Der ältere Mann schüttelte seinen Kopf und nahm einen weiteren Schluck. Der Barkeeper zuckte mit den Schultern und wusch ein paar Gläser. Wir stolperten die Treppe hinab. Grillen zirpten im Hintergrund. Reto murmelte vor sich hin und meine Arme verwandelten sich zu Stein. Ich spürte wie der Schweiss meinen Hals hinabrann und sich in den Fasern verteilte. Tim deutete auf das Fahrrad, das immer noch am Boden lag.

„Er soll das Fahrrad morgen holen. Wir gehen zuerst zu mir. Das ist näher.“

Tim deutete auf die Fahrräder und ich gab ihm meinen Schlüssel. Das Licht einer Strassenlaterne spiegelte sich im Rahmen und ein Blitz zuckte darin auf. Tim schloss beide Fahrräder auf und wir stiessen sie links und rechts von uns durch die Nacht. Reto sackte immer wieder zusammen und wir mussten mehrmals anhalten. Tim keuchte und meine Beine zitterten immer stärker.

Ein Flugzeug donnerte über die Dächern der Stadt und einige Wolken umgarnten die Sichel. Ein Motor heulte auf und der Lärm verlor sich in der Dunkelheit. Die Sichel würde uns bewachen, uns schützen.

Die Sichel tauchte den Boden meines Zimmers in silbernen Zauber und ich öffnete mein Fenster. Ich griff nach dem Fensterrahmen und meine Knie berührten die Wand unter dem Fenster. Mehr Dunkelheit schwappte in die Stadt, denn die Sichel schob sich langsam unter ein Hochhaus, und verschluckte die Lichtern der Wohnungen, die nacheinander erloschen. Ich stiess das Fenster zu, huschte an meinem Pult vorbei und liess mich ins Bett fallen. Meine Augenlider fielen zu.


Vor mir offenbarte sich die gewölbte Kuppel, die Atmosphäre, die unseren Planeten vor aller Strahlung schützt. Ich schwebte weit oben, nahe verborgener Gestirne, in fasrigen Wolken. Sie umflossen mich im Sog der stürmischen Luft, streichelten meine Haut mit wohliger Feuchtigkeit. Unter mir lag die Stadt, fast lautlos, beruhigend klein. Die Schwere, die einen auf den Boden zwingt, existierte nicht mehr. Ich hatte die Ketten der Erdanziehung durchbrochen. Als ich mich auf die Szenerie vor mir fokussieren wollte, bemerkte ich Risse. Wie Spinnweben durchzogen sie das Blau neben und über mir. Die restliche Umgebung verschwamm wie die Oberfläche eines Sees, glatt und spiegelnd, in die ein Stein geworfen wird. Aber anstatt dass die Wellen wieder verschwanden, wurden sie immer wilder und ungestümer. Etwas zog mich nach unten und die Sicht wich einer stetig anwachsenden Dunkelheit. Ich öffnete die Augen und spähte in die Schwärze vor mir. Ich schwebte nicht mehr. Erstaunt rieb ich mir die Augen und blickte zum Fenster. Da bewegte sich etwas. Die Bäume tanzten im Wind und die Balken über mir knackten. Ich war erwacht, doch draussen herrschte undurchdringliche Nacht.

Jener Moment, wo keine Zeit verrann, er beruhigte mich und sollte nie enden. Die Sehnsucht elektrisierte mich, floss in alle Winkel meines Körpers und befreite mich. Ich hoffte, dass diese Stimmung ewig in mir inne wohnt. Mich wie Licht durchstrahlt und mich in Sanftheit bettet. Das Zimmer erschien mir gewaltig, als wäre es zu einem Planeten angeschwollen. Die Decke war ein Sternenhimmel. Obwohl nichts strahlte, leuchteten die Sterne vor meinem inneren Auge, das noch immer neugierig in meinen Traum spähte. Ich konnte mich noch an alle Details erinnern, als ob es eine zweite Welt gäbe, in der ich lebte. Eine Welt voller Magie und Wunder, die auf ihre Art genauso wirklich ist wie diese Welt. Meine Sinne erhaschten nun die tatsächliche Welt. Doch die belebenden Gefühle in meinem Innern waren noch nicht zurückgekehrt sondern immer noch in der anderen, geheimnisvollen Welt. Die Magie dieser Gefühle blieb wie ein Zauberspruch an mir haften.

Ich spürte, wie das Gefühl langsam verblasste. Ich hatte immer grössere Mühe, mich daran zu erinnern, bis ich nicht mehr ansatzweise spürte, wie es sich anfühlte. Nun hatte sich auch dieser Teil von mir ganz vom Traum losgesagt und die Einzelheiten entzogen sich mir. Ich wachte ein paar Stunden später auf und fühlte nur noch feine Rückstände dieser Welt, die meine Wünsche erfüllte.

Ich schwang mich auf mein graues Rennrad. An den Stangen des Rads blätterte der Lack ab und entblösste verrostetes Metall. Kleine Inseln des Zerfalls. Ich dachte angestrengt über meinen Traum nach. Was habe ich darin getan, erlebt und empfunden? Eine seltsame Kraft steuerte meine Gedanken immer wieder zu diesem Ort, den ich nicht mehr entschlüsseln konnte. Je mehr ich daran herum knobelte, desto schwieriger schien es mir, etwas darüber zu erfahren. Die Strasse hob sich, als sie zu einer steineren Brücke wurde. Zahlreiche Menschen hetzten von einer Seite auf die andere und umgekehrt. Gedankenverloren fokussierte ich meinen Blick auf die Wellen im Fluss unter mir. Die weissen Wolken, die schnell durch die Lüfte zogen, bildeten sich darauf ab und zitterten auf und ab. Stetig auf und ab. Kurz schoss ein wunderschönes Bild durch meinen Kopf. Als ich es versuchte zu erkennen, war es mir wieder entwichen. Beinahe krachte ich in einen grünen VW Kombi, der vor mir abbremste.

Ich ärgerte mich ab meiner Unachtsamkeit und liess es lauthals an der unschuldigen Umgebung ab. Eine Frau um die 70 schüttelte empört ihren Kopf. Darüber ärgerte ich mich noch mehr. Immer mehr ergriff mich ein unausgewogenes Gefühl und der Gedanke an all die Aufträge, die ich bis am Abend gelöst haben musste, belastete mich sehr. Wie gerne wäre ich in einen Traum ohne Verpflichtungen geflüchtet. Wo nur meine Bilder, meine Fantasien und Sehnsüchte herrschen. Selbst wenn etwas Grausames passieren würde, wäre es am nächsten Tag wieder weg. Es musste eine Möglichkeit geben, wieder zurückzugelangen. Neben mir rauschten ratternde Strassenbahnen vorbei und in ihren Scheiben spiegelte sich mein Gesicht. Die Muskeln in meinem Gesicht verkrampften sich stärker und meine Pupillen sprangen wild herum. Wenn ich daran dachte, was alles noch auf mich zukommt... Am Liebsten wäre ich schnurstracks umgekehrt. Plötzlich erfasste mich eine starke Euphorie, die mir Kraft einflösste. Vielleicht konnte ich mich nur erinnern, wenn ich vergass daran zu denken. Ein Lieferwagen rauschte an mir vorbei und die Fussgänger sammelten sich vor rot leuchtenden Ampeln. Einige Minuten später gelangte ich ans Ziel, die Baustelle. Mein Vorgesetzter versperrte mir den Weg.

„Du bist ganze sechs Minuten zu spät! Dass das ja nicht wieder passiert. Haben wir uns verstanden?“

Sein buschiger, grauen Schnauzer hob sich mehrmals auf und ab während er sprach. Ich schaute perplex zu ihm, dann auf die Uhr und wieder zu ihm. Er hatte Recht, fast sieben Minuten.

Verspätung. Seine blauen Augen glitzerten kühl. Er strotzte wie jeden Tag vor autoritärem Stolz.

„Ich höre nichts!“

„Entschuldigung, wird nicht wieder vorkommen.“

Innerlich hasste ich mich für meine brüchig klingende Entschuldigung. Vor der Arbeit hatte ich immer grosse Pläne, wie ich seine Autorität durchbrechen könnte. Wie der paradiesische Traum verflüchtigten sich diese Vorsätze aber schnell. War ich mir sicher, dass der Traum schön war? Die letzten Funken Erinnerung schienen sich in Luft aufgelöst zu haben.

„Jetzt aber zackig. Geh und hilf Janosch.“

Ich lief die steile Treppe hinauf in den zweiten Stock auf der Baustelle und sah Janosch vor mir. Mit seinen Augen musterte er mich misstrauisch. Als ob er mir nichts zutrauen würde.

„Siehst du die Maschine, den Bohrhammer, dort? Spitze ein breites Loch in die Wand dort drüben! Das hast du letzte Woche schon einmal gemacht. Sollte also kein Problem sein. Beeil dch. Wir haben einen strengen Zeitplan.“

Ich sah die etwa sechs Meter lange Wand, auf die er zeigte. Jemand bohrte und Staub wirbelte durch die Luft.

Gebäude wirken total anders, wenn keine Möbel herumstehen. In diesem Zustand wirkt alles so trostlos wegen den grauen, langweiligen Wänden. Überall Kabel, die aus dem Boden ragen und Löcher in der Decke und den Wänden. Sozusagen nur ein Skelett, dem noch Fleisch angefügt werden muss, Schritt für Schritt, Tag für Tag. Bis die Kabel, wie verästelte Nervenbahnen, schlussendlich Informationen durch das Gebäude schleusen, Energie wie durch die Muskelfasern strömen lassen. Und die Wasserleitungen, die wie bei einer Pflanze, immer wieder Wasser nachschöpfen. Leider waren erst fünf Minuten verstrichen, bis zum Feierabend würden noch hunderte Minuten folgen. Wie gerne wäre ich jetzt zu Hause in meinem Bett.

„War das übel in der Rebe letztes Wochenende. Mein Kumpel, Dennis heisst er, hat mich herausgefordert. Er hat echt gedacht, er könne mehr Tequila Shots vertragen als ich. So ein Narr. Dennis konnte sich gerade noch auf die Toilette schleppen, während ich weiter trank!“

Dazwischen zerrte Janosch an seinem Döner und verschlang grosse Fetzen mit einem Bissen. Die Sauce bekleckerte dabei seine Hosen.

Ich schaute in eine andere Richtung.

Obwohl ich mich an einen bestimmten Abend erinnerte, erzählte ich nicht davon. Als ich so viel Bier und Wodka getrunken hatte, dass mich nichts zurüchhalten konnte. Je später der Abend fortgeschritten war, desto längere Lücken durchzogen meine Erinnerung. Am nächsten Tag blieb ich reglos im Bett liegen. Mein Kopf schmerzte, pochte und liess mir keine Ruhe. Ich zweifelte kurz wirklich daran, diesen Tag ohne bleibenden Schäden zu überstehen.

Ich putzte gerade den Staub von der Wand weg und bildete einen weissen Haufen. Der Staub formte einen Nebel in der Luft und ich spähte durch den Dunst. Wäre ich doch nur auf meinem Fahrrad. An diesen Herbstnachmittagen, an denen ich nur bis zur nächsten Strassenlaterne sehen konnte und aus dem Nebel jeden Moment etwas Grässliches auftauchen konnte. Der Nebel dämpfte irgendwie die Geräusche, die an den Tropfen hängen blieben. Verdammt, wie soll ich mich auf diese Ödnis von Baustelle konzentrieren. Ich langweilte mich zu Tode.

Es ärgerte meinen Vorgesetzten wie langsam ich vorankam. Er durchbohrte mich mit seinen Blicken. Seine Augen verharrten auf mir. Mit seinem Finger wies er auf die Wand links von mir.

„Das hier ist eine Baustelle, die nach einem Zeitplan fertiggestellt werden muss. Sonst verzögert sich alles. Vor allem wenn die Gipser, Elektriker oder Maler ihre Arbeiten aufnehmen wollen, müssen wir einen bestimmten Abschnitt schon verlassen haben.“

Wie konnte ich meine Traum rekonstruieren? Mein Herz sollte sich doch noch an die Gefühle des Traumes erinnern, damit es mehr Farbe in meinen Alltag, mehr Zuversicht in meine Gedanken pflanzen konnte. Die Erinnerung, die immer mehr vergilbte, fesselte mich. Sie gedieh irgendwo am Rand meines Bewusstseins, wo ich mich selten aufhielt, und doch lag in ihr eine Erkenntnis, eine Wahrheit, nach der ich verzweifelt suchte. Eine Zuflucht vor dieser Realität.

Risse durchzogen meine Hände. Meine Haut verwandelte sich in eine Kraterlandschaft und der Staub kroch unter meine Nägel, setzte sich in meine Haare. Mein T-Shirt klebte an meiner Brust und ich klopfte den Staub von meinen Hosen. Ein Arbeiter um die 40 lief mit einem Kreuzschraubenzieher durch den Schutt und tastete dabei nach seinem Werkzeuggürtel.


Ich schlürfte zu meinem Fahrrad. Dabei zog ich meine Füsse mehr hinter mir her, als dass ich sie tatsächlich hob. Ich setzte mich auf den Sattel. Für einige Sekunden wankte ich darauf von links nach rechts. Meine Arme strebten nach unten. Als ob die Erdanziehung zugenommen hätte. Es tröpfelte und eine leichte Brise strich durch mein Haar und löste den Staub. Ein Holunderstrauch blühte irgendwo. Süsse, voller zarter Nuancen, umschmeichelte meine Nase. Endlich wieder einige Stunden Freizeit. Ich war zu nichts verpflichtet, musste nicht hetzen, um mich an einen Zeitplan zu halten. Leider war ich noch nicht müde. Ich sehnte mich nach Müdigkeit. Obwohl ich mich matt fühlte, fehlte die Schläfrigkeit, die einen in der Nacht in eine fremde Welt taucht. Es musste eine Möglichkeit geben, dass ich schneller einschlafen konnte. Zuhause schaltete ich mein Notebook ein. Es summte auf und begann sanft zu rattern. Das Kühlaggregat blies mich an und ich konnte die Elektronik riechen, die darin eingebaut war. Als ich gerade daran war eine Internetseite zu öffnen, klingelte mein Handy. Tim rief an.

„Hey, kommst du heute noch vorbei? Hab mir heute eine neue Stereoanlage gekauft. Du glaubst mir nicht, was für ein satter Bass. Unglaublich. Es wird dich wegjagen!“

Seine Stimme überschlug sich fast. Wie konnte seine Stimme plötzlich höher werden, um dann wieder leicht zu zerfallen, wenn der erste Anflug von Euphorie abklang. Tim konnte nie genug kriegen von elektronischer Musik. Umso härter der Bass wummerte, desto besser. Vermutlich würden wir den ganzen Abend damit verbringen den härtesten Beat zu jagen.

„Ja, ich weiss nicht recht. Wollte mir eigentlich lieber einen ruhigen Abend machen.“

Ich nahm das Handy von meinem Ohr weg. Seine Stimme überwand die Distanz mühelos.
„Was? Komm schon, was gibt es denn Schöneres als eine richtige geniale Soundqualität. Du bist doch sonst nicht so ein Langweiler. Du darfst dafür die Musik auswählen. Mir ist sonst langweilig.“

„Hmm. Also gut.“

Ich streckte mich und blickte zu meinem Bett. Danach sprang mir ein Schatten ins Auge. Warscheinlich hoben und senkten sich die Äste der Linde draussen. Ich fokussierte wieder auf das Bett und verlor mich in der weichen Decke. Ich liess einige Minuten verstreichen bis ich mich hob und meine Wohnung verliess.

Der Lenker des Rads schrammte über meine Fingerkuppen und färbten diese rot, als ich mein Fahrrad von der Wand wegzog. Ich stieg auf und fuhr an Blocksteinfassaden vorbei, durchquerte mehrere Kreuzungen. Ein Bus kam mir entgegen. Ich konnte keinen klaren Gedanken fassen. Was war nur mit mir los heute. Alle Gedanken drehten sich um einen vergangenen Traum, dessen Handlung völlig im Dunkeln verborgen lag. Irgendwo spürte ich die Gefühle, aber die richtigen Bilder dazu blieben mir fern. Wie wenn einem ein Wort auf der Zunge klebt, aber unerreichbar bleibt, bis es nicht mehr relevant ist. Träume waren mir immer ein Mysterium. Seit heute sah ich sie jedoch mit anderen Augen.

Ich schmiss mein Fahrrad an die Häuserfront. Es klapperte noch, als ich den Schlüssel ins Schloss steckte. Mehrere Reihen Häuser erstreckten sich rechts und links von mir. Wie ein Gefängnis aus grauen Mauern, in das wir uns freiwillig einkerkern lassen. Wir werden in einem geboren, abgeschnitten von der Natur, und verbringen den grössten Teil im Innern. Weggesperrt von den Gerüchen, der Intensität, die draussen wartet und Abenteuer verspricht.

Mein Finger betätigte kurz die Klingel. Es surrte als er die Eingangstür öffnete, ohne zu antworten. Ich polterte die Holztreppe hinauf, in den dritten Stock, wo er mich bei geöffneter Türe erwartete und anstrahlte. Der Duft nach Leder verdrängte alle anderen Gerüche, dominierte meine Wahrnehmung.

„Tritt ein. Du wirst gleich eine andere Welt des Klanges erleben.“

Der dumpfe Bass dröhnte leicht zurückgedreht in seinem Wohnzimmer. Voller Erwartung wählte ich einen Song aus dem immer verfügbaren Universum des Netzes. Der ganze Raum bebte und zitterte im Gewitter elektronischer Töne. Auch wenn wir miteinander gesprochen hätten, hätten wir uns nur schwer unterhalten können. Manchmal fragte ich mich, was in Tim schlummerte. Etwas von seinen tiefsten Gefühlen quoll immer wieder kurs ans Tageslicht. Auch diesmal sprach ich Tim nicht darauf an. Er suchte meinen Blick kurz.

„Nicht schlecht.“

Seine Worte verhallten augenblicklich. Sie waren so nüchtern und es fehlte ihnen an Ausdruck. Bevor er sich erhob, strich er mit seinem Daumen kurz über seine Nase.

Er wählte den nächsten Song, und ehe ich etwas einwenden konnte, war mein Wunsch abgewürgt. Ich hätte es wissen müssen. Der Kick schlug schneller, die Melodien schienen sich zu verstecken und nur wenig von sich Preis zu geben. Dieselben vier Töne wiederholten sich, verschwanden aber wieder hinter dem Bass.

„Was sagst du nun. Hast du schon einmal etwas vergleichbar Mächtiges gehört? Macht jeden Song besser.“

Seine Augen glitzerten und weiteten sich. Er wartete auf meine Antwort. Was sollte ich sagen.

„Ja. Wirklich beeindruckend“.

Er hatte sich eine andere Reaktion erhofft. Als ich wieder ein Lied wählte, wechselte er schnell zum nächsten und zum nächsten. Er hetzte durch die Songs. Nach zwei Stunden reichte es mir. Ich verliess das Wohnzimmer und verabschiedete mich von ihm.

„Du bist so unmotiviert, was ist mit dir?“

Einige Sekunden hörten wir nur das Wummern im Hintergrund, das nun wieder leiser war.

„Du bist am Samstag auch dabei, oder?“

„Wo dabei?“

Ich blieb angewurzelt in der Türe stehen.

„Sag nicht du hast vergessen, dass eine Party steigt im Temple, dem Club, den sie neu aufgemacht haben in der Reiterstrasse.“

Noch selten hatte er seine Stimme dermassen in Sanftheit gebettet. Tat er dies, um mein schlechtes Gewissen zu wecken. Vor allem für das Wort „Vergessen“ liess er sich viel Zeit.

„Ja, warum auch nicht. Wird bestimmt lustig.“

Erst nachdem ich die Worte ausgesprochen hatte, merkte ich, wie seltsam sie klangen. Hoffentlich würde er sie nicht als sarkastisch empfinden. Ich befürchtete schon, dass er einen Kommentar abgeben würde. Er tat es nicht. Als ich das Gebäude verlassen hatte und das Fahrrad aufgeschlossen hatte, sah ich einen roten Schimmer, der auf die hellen, weissen Wolken abfärbte. Ich fühlte mich befreit und erleichtert. Endlich konnte ich nach Hause gehen. In meinem Zimmer angelangt, warf ich mich sofort auf mein Bett und fühlte, wie sich meine Lider senkten.

Ich war in weisse Wolken gebettet, die mich sanft berührten. Wie wenn mein Kopf auf dem weichsten Daunenkissen liegen würde und es sich nie zu warm oder unangenehm anfühlte, sondern sich immer bequemer um meine Stirn schmiegen würde. Feine Tropfen benetzten meine warme Haut und umhüllten mich. Schützten mich, indem sie mich abschirmten. Ein rötlicher Schein durchbrach die Wolkenschicht und winzige Farbprismen tanzten vor mir durch die strömende Luft. Der Wind brauste und rauschte in meinen Ohren. Sein Echo klang leicht nach. Vor mir erhaschte ich kleine blaue Lücken. Ich spürte den Wind, welcher um mein Gesicht wehte und schwamm in der Luft, die mich nach oben drückte. Sah die grüne Pracht eines Waldes unter mir zwischen den weissen Fasern aufblitzen. Das Blau wich einer intensiven Mischung aus Gelb, Rot und Orange. Die Luft wurde frischer. Ich fühlte mich lebendiger als in der Wirklichkeit. Wie wenn Wärme mein Herz umspülen würde und dieses schwerelos in meiner Brust schlägt und pumpt. Als ich erwachte, weil der Lärm des Weckers an mein Ohr drang, war keine erdrückende Schwere da, die auf mir lastete. Zwar verschwand die anfängliche Euphorie des Traums, aber meine Gedanken lichteten sich und ich nahm die Gegenwart viel präsenter wahr. Nicht einmal der bevorstehende Arbeitsalltag trübte meine Stimmung.

Ich radelte durch den Verkehr. Diesmal konnte ich viel stärker auf die Details achten. Die abgerundeten Blätter der Eiche, die am Ende der Brücke ihre Äste am Strassenrand zu den Wolken empor reckte. Der süsse Duft nach herrlichem Gebäck, der mir von einer Konditorei entgegenwehte. Eine ungewohnte Geduld hatte noch immer von mir Besitz ergriffen. Ich störte mich nicht daran, als ich an Ampeln warten musste. Ich genoss es, mit meinem Rad durch die belebten Strassen zu kurven, fühlte mich frei, obwohl ich arbeiten gehen musste. Als ich die Baustelle betrat, schritt mir sogleich Janosch entgegen. Sein Erscheinen dämpfte meine Stimmung und er drückte mir sogleich einen schweren Sack Zement in die Hände und befahl mit fester Stimme.

„Mische zuerst den Mörtel an und bring ihn mir dann in dieser Schubkarre.“

Mit einem Eimer, der immer noch eingetrocknete Rückstände von Gips und Zement am Rand aufwies, ging ich in den Keller hinab und drehte am Hahn, um kaltes Wasser hineinzugiessen. Danach rührte ich den Zement mit viel Wasser an und stiess die Schubkarre zu Janosch, der konzentriert auf eine noch nicht vorhandene Wand blickte. Neben sich hatte er einen grossen Haufen von Backsteinen angehäuft.

„Wir haben hier eine grosse Verantwortung. Weil wir an der Basis stehen, wenn es darum geht, neue Gebäude verschiedener Form und Grösse zu bauen. Wenn etwas nicht passt oder schlecht abgedichtet ist, sind wir mitschuldig daran, wenn alles Nachfolgende schief aussieht oder zu viel Wärme entweicht. Was vor allem im Winter schlimm ist. Darum ist es unglaublich wichtig, dass der Mörtel im richtigen Mass gemischt wird. Es dürfen keine Luftblasen darin gefangen werden, sonst leidet die Qualität. Wir erschaffen etwas, so grundlegend wie kaum etwas anderes. Ohne uns gäbe es keine neuen Häuser und wir müssten wieder wie früher draussen übernachten.“

Unweigerlich dachte ich an eine Frau in einem leeren Raum. Ihre Augen tränten und sie schluckte ein paar Mal leer. Sie würde noch Stunden einfach da sitzen. Alleine. Ein neues Bild verdrängte die Frau aus meinen Gedanken. Die Mauern schirmten einen Mann von der Aussenwelt ab. Seine Hand umklammerte ein Küchenmesser. Er zielte auf ein wehrloses Opfer, das vor ihm kauerte. Niemand sah ihn.

Wenn ich mich zu lange nicht draussen aufhielt, fühle ich mich eingeengt. Unserer Errungenschaften werfen manchmal weite Schatten. Wobei ich kaum gleich viel schlafen und damit träumen könnte, wenn ich mich der Gefahr im Freien aussetzen würde. Stimmt eigentlich. Ohne Häuser keine richtig ungestörten Plätze und damit mehr Schwierigkeiten und weniger Zeit, um sich Träumen hinzugeben. Leider sehnte ich mich noch stärker als die anderen Tage zuvor nach meinem Bett. Mehrmals am Tag malte ich mir das Bett aus. Das Gefühl, mich von dieser Welt zu lösen. Alle paar Minuten schaute ich auf meine Uhr, zählte die Sekunden, die nicht vergehen wollten. Je mehr ich meinen ziellosen Gedanken nachhing, desto langsamer vergingen die Minuten und Stunden. Mein Tag dehnte sich so zu einer Ewigkeit.

Am Abend huschte ein feines Lächeln über meine Lippen, nachdem ich mich von Janosch verabschiedet hatte. Mit meinen schweren Beine trat ich in die Pedale. Immer schneller kurvte ich um Häuserreihen, überholte ein Tram und kam schliesslich zu Hause an. Nachdem ich die Türe aufgeschlossen und die Schuhe ausgezogen hatte, dachte ich angestrengt darüber nach, wie ich länger in der Traumwelt verbringen könnte. Ein Gedanke schoss mir durch den Kopf. Ich durchstöberte die Schubladen meiner Kommode. Erst nach einer halben Stunde fand ich es voller Begeisterung. Es waren Schmerztabletten, dieich wegen meinem Sturz aufs Knie vor mehr als einem Jahr erhalten hatte.

Ich schluckte sieben aufs Mal. Nach einigen Minuten legte sich ein leichter Schleier über meine Wahrnehmung. Alles fühlte sich schwereloser an. Vielleicht bildete ich mir es aber auch nur ein. Ich legte mich ins Bett. Die Nebenwirkungen liessen nicht auf sich warten. Ein leichter Schwindel kam über mich, zu schwach, um mich ernsthaft zu quälen. Ich musste nur noch wenige Minuten warten, bis sich eine tiefe Schläfrigkeit über mich legte, vielleicht eher eine Benommenheit. Ich wählte entspannende Musik und legte mich aufs Bett. Es musste kurz nach neun gewesen sein, als ich die Augen schloss und langsam in den Traum glitt.

Die weissen Wolken, die sich unfassbar sanft und geschmeidig anfühlten, waren mit roten und orangen Farbtönen besprenkelt. Ein erfrischender Luftzug glitt über meinen Körper und kitzelte meine Haut. Eine intensive Kraft schien in mich zu fliessen und schärfte meine Sinne. Ohne Angst spähte ich nach unten. Die Stadt lag beschaulich und friedlich unter mir. Sie schien zu schlummern und ich konnte keine Bewegung ausmachen. Die einzigen Klänge, die an mein Ohr drangen, waren leise und beruhigend. Fast erinnerten sie mich an das Plätschern eines Bächlein, das Rauschen der Blätter an einem warmen Sommertag. Mit dem Unterschied, dass ich nicht an den Boden gebunden war, sondern mich frei im dreidimensionalen Raum bewegen konnte. Ich steuerte durch die Lüfte, ohne mich anstrengen zu müssen. So leicht wie eine Feder trieb ich dem Horizont mit seinen Gebirgsketten entgegen. Der Duft salzigen Wassers stieg in meine Nase und erst jetzt bemerkte ich, dass nicht weit entfernt unter mir Wellen an eine Küste schäumten. Ein Kribbeln zuckte durch meine Fingerspitzen. Ich merkte, dass meine Hand eingeschlafen war, als ich umnachtet in die Stille meines Zimmers horchte und sich meine Augen langsam an das fahle Licht, dass der Mond silbern in den Raum warf, gewöhnten. Ich fühlte mich immer noch federleicht. Heute würde ich den Tag sicher mit positiven Gefühlen überstehen, ohne zu sehr in dunkle Gefilde meines Verstandes zu geraten. Ich schlief wieder ein und setzte meine Reise am Himmel oben fort. Eine Art seelischer Erlösung schien sich in mir auszubreiten. Ich wachte kurz vor sieben auf, als der Wecker laut schellte. Einen kurzen Augenblick war ich völlig neben mir. Dann erinnerte ich mich stückweise an Bilder aus dem Traum. Feine Skizzen zeichneten sich in meinen Gedanken ab und ich labte mich an innerer Ruhe. Gegen meinen Willen schien ich immer mehr davon zu verlieren, je länger ich wach blieb. Wie Sand schien dieser Frieden durch meine Finger zu rieseln und mir zu entweichen. Die einzige Möglichkeit, so dachte ich voller Hoffnung, wäre mich wieder schlafen zu legen. Vorher musste ich noch ins Geschäft anrufen.

„Ich bin krank. Es tut mir leid, dass ich mich erst so kurzfristig abmelde.“

„Krank? Warum, was fehlt dir denn?“

Mein Körper erhitzte sich und ich vergass für eine Weile zu atmen. Er würde es bestimmt merken, dass ich ihn anschwindle. Ich atmete, ewig wie mir schien, tonlos in mein Handy.

„Fieber und Bauchschmerzen ...“

„Soso ...“ Ich vernahm einige Sekunden lang nur seinen gleichmässigen Atem.

„Und das ist dir erst heute aufgefallen?“

„Ich dachte mir, es wäre nicht so schlimm.“

„Das nächste Mal meldest du dich aber am Vorabend, falls du dich mies fühlst!“

„Ist gut.“

Ich beendete das Gespräch. Die Decke schrumpfte wieder. Wurde kleiner und kleiner. Ich konnte meine Hände nicht ruhig lassen. Würde ich meine Knochen klappern hören. Ich versuchte leiser zu atmen. Meine Finger klapperten nicht. Von alleine schlossen sich meine Augenlider. Würde ich wieder in den Traum zurück kehren?


Die nächsten Tage schlich ich beinahe betäubt hinter Janosch her. Seine Worte erreichten mich selten. Glücklicherweise passierte mir kein Missgeschick. Er ärgerte sich nur ab meinen Träumereien, die mich verlangsamten. Dank Schlaftabletten, die ich rezeptfrei von einer Apotheke bezog, konnte ich noch früher einschlafen und schlief täglich fast zehn Stunden. Am Donnerstag kritzelte ich meinen Bericht über den Tag und meine Arbeiten zittrig auf das graue Papier. Fast acht Stunden trug ich ein. Dann übergab ich das Protokoll meinem Chef. Ich verabschiedete mich und stieg gelassen auf mein Fahrrad und radelte durch den dichten Abendverkehr nach Hause. Ich brauchte fast zwanzig Minuten.

Tim rief an.

„Um 9 bei mir. Reto und Sven kommen auch.“


Stimmt, ich hatte ja heute für ins Temple abgemacht. Zuerst konnte ich mich kaum überwinden. Früher wäre ich voller Vorfreude zu ihm. Hätte mich auf einen ausgelassenen Abend gefreut. Ich zwang mich unter die Dusche, drehte am Hahn und wartete, bis sich das Wasser heiss ergoss, und spülte mir den Staub aus den Haaren. Ein greller Lichtstrahl drang durch das milchige Glas und blendete mich kurz, dann wurde es rasch dunkel, als sich vermutlich eine Wolke vor die Sonne geschoben hatte. Wie gerne wäre ich jetzt weit oben, in den Wolken, über der Landschaft, in vollkommener Freiheit. Der Gedanke an den düsteren Club heute Nacht liess mich innerlich schaudern. Bestimmt wieder so ein enger, abgeschlossener Raum.

Sehnsucht brodelte in mir und entfachte bitter-süsse Melancholie. Ich dachte an frühere Zeiten zurück, wo wir noch zu jung für Clubs, zu naiv für die Theke einer Bar waren. Als wir noch voller Freude, viele unterschiedliche Jugendliche waren mit, in eine Holzhütte in der Abgeschiedenheit des Waldes pilgerten, mit Bier und Leichtsinnigkeit im Gepäck. Oben angelangt die Getränke im nahen Brunnen kühlten und dann nach mehreren Versuchen erfolgreich ein Feuer entzündeten, welches mit flammender Eleganz zum Himmel empor strebte und uns zuflüsterte. Später am Abend liessen wir mit Alkohol im Blut unsere Blicke über das Firmament schweifen, das sich über den in Dunkelheit getauchten Wipfeln mächtiger Tannen und Fichten erstreckte. Zwischen den wankenden Baumkronen hoch über uns blitzten unendlich weit entfernte Sterne auf und flössten uns inmitten dieser Finsternis abseits der Flammen Ehrfurcht ein, indem sie uns unserer Winzigkeit bewusst machten und uns so alltägliche Sorgen vergessen liessen.

Sie hatte neben mir auf dem Holz gesessen und wir hatten in die Sternen hinauf geschaut. Einige meiner Schulfreunde hatten im Hintergrund gegrölt. Es hatte geklirrt als jemand seine Bierflasche fallen liess. Ich hatte gespürt wie sie neben mir ein-und ausatmete. Meine Hand hätte nur wenige Zentimeter wandern müssen und ich hätte die Wärme ihrer Hände spüren konnen. Hätte mich an sie schmiegen können. Nach einigen Sekunden hatte sie sich erhoben. Unsere Blicke hatten sich getroffen sich und ich hatte ihr zugelächelt. Sie war vom Holz gesprungen und trat zu einer Gruppe von Frauen. Ich hatte geseufzt und mich den Sternen dargeboten. Hätte mich doch in diesem Moment ein Raumschiff abgeholt und zu einem fremden Planeten gebracht. Die Ausserirdschen hätten mir Wälder zeigen können, die ich mir nicht einmal in meinen kühnsten Träumen hätte ausmalen können. Etwas war im Feuer explodiert und die Jungs hatten geschrien und waren um das Feuer getanzt.

Oder die milden Nächte voller intensiven Düfte neben dem beruhigenden Rauschen eines Flusses, dessen feine Wellenmuster der Mond versilberte und darauf, glitzernd und geheimnisvoll, auf und ab tänzelte.

Sie hatten eng umschlungen neben mir gesessen und sich gegenseitig ins Ohr geflüstert. Der Rauch hatte sich in den Fasern unserer Kleider festgesetzt. Ich hätte ihre Kollegin am Nachmittag zuvor ansprechen sollen. Ihr gesagt haben, sie solle doch auch mitkommen. Es wäre bestimmt lustig geworden und ein netter Zeitvertreib. Doch als sie aus dem Gebäude getreten war, liess ich sie ohne ein Wort zu sprechen an mir vorbeilaufen.

Daneben war die abgeschlossene Atmosphäre eines Clubs ohne Blick zu den Sternen am Firmament ein ernüchternder Kontrast zu jener vergangenen Freiheit im Schoss der Natur.

Ich trat aus der Dusche, trocknete meinen Körper und dann meine Haare, zog ein grünes Polo-Shirt an und parfümierte mich leicht. Als ich aus dem Bad kam und durch den Gang schritt, um eine leichte Jacke anzuziehen, vibrierte das Handy aus meinem Zimmer und ich spähte auf den das erleuchtete Display. Ich kniff meine Augen zusammen, doch ich musste mich nähern, um die Antwort zu lesen: „Komm doch lieber 21:30, lg Tim.“ Innerlich seufzte ich kurz und stöpselte meine In-Ear-Kopfhörer ein. Ich durchsah meine gesamte musikalische Bibliothek und wählte einen eher ruhigen Song aus. Klarer Gitarrenklang mit einer gehauchten Stimme rieselte in mein Ohr. Beinahe wäre ich in den Schlaf gesunken, als ich aufschreckte, weil das nächste Lied merklich lauter war. Es war viertel nach neun. Ich verliess die Wohnung.

Tim drückte mir ein Bier in einer brauen Flasche in die Hand. Ich spürte die vielen feinen, kühlen Tropfen, die dem Flaschenhals entlang nach unten kullerten.

„Endlich ein frisches Bier. Danke!“

„Keine Ursache. Aber was ist mit dir los. Irgendwie wirkst du so lustlos. Letzten Montag schon.“

„Findest du?“

„Ja.“

Ich wich ihm aus und setzte mich stattdessen auf das weisse Sofa, neben Sven. Im Hintergrund pochte ein tiefer Ton und liess das Polster mitschwingen. Wenn die Musik nur ein wenig lauter gewesen wäre, hätten wir uns schreiend unterhalten müssen. Wir tranken noch einige Flaschen Bier. Die Drei blickten immer erstaunter zu mir, weil ich fast nichts sprach. Trotzdem sagten sie nichts zu meiner fehlenden Redseligkeit.

„Ich habe gehört, dass sie im Temple einen ganzen starken Drink servieren. Der soll so richtig derb wirken. Den müssen wir unbedingt probieren“.

Seine linke Augenbraue hinkte leicht nach. Ich achtete mich auf seine Worte. Vielleicht verzogen sich seine Silben, wenn seine gesamte rechte Gesichtshälfte vorauseilte.

„Nicht dass du mir wieder nach drei Stunden auf der Toilette verschwindest. Oder wie vor vier Wochen durch die Stadt irrst und wir dich wieder heimbegleiten müssen. Du glaubst nicht, wie unbeholfen du ausgesehen hast. Ein Wunder, dass du dich noch bewegt hast“, witzelte Sven und schlürfte an seinem halbleeren Bier. Seine Hände zitterten und die Adern bildeten Flussläufe, die sich auf seiner Haut wanden. Ich stellte mir vor, winzige Schiffe zu sehen, die diesen Strömen folgten. Subkutanen Abenteuern nachjagten, und mit Blutkörperchen rangen.

Tim lachte laut. Ich malte mir aus, wie der Drink schmecken würde. Schrill-schneidend wie ein Gin Tonic, rauchig-herb wie ein Whisky oder süsslich wie eine Rum Cola. Vielleicht auch bitter wie ein Absinth. Vermutlich mischten sie irgendeinen penetranten Kräuterschnaps dazu. Noch wahrscheinlich war, dass sie verschiedene hochprozentige Alkoholsorten miteinander kombinieren. Ich leerte noch ein Bier, während die anderen je zwei Flaschen Bier tranken. Immer das Gleiche, saufen, um den Ausgang nicht nüchtern ertragen zu müssen. Die gleiche sinnlose Prozedur, auf ewig. Ein Teil von mir freute sich auf den berüchtigten Drink. Vielmehr Neugierde als Begierde. Das Gute daran war, dass ich dadurch müde werden würde. Sven stolperte beinahe die steile Treppe hinunter, konnte sich aber noch fangen. Wir radelten leicht beschwipst zum Club, besetzten fast die ganze Strasse und fuhren nie in einer geraden Linie. Die Strassenlaternen beleuchteten die Strasse matt und wir fuhren an einem türkischen Geschäft vorbei. Am liebsten hätte ich noch vor dem Temple kehrtgemacht und wäre auf direktem Weg zur Wohnung gefahren und mich zu beruhigenden Klängen in den Traum wiegen zu lassen. Aber ich war schon fast da.

Wir mussten tief in die Eingeweide einer Industrie eindringen, die vor Jahren verlassen wurde. Weit aussen an der Peripherie der Stadt ragten deren Gebäude zum Himmel. Ein Himmel, an dem die Wolken immer neue Gesichter und Bilder formten. Wenn ich die Wolken durchstossen würde, die der Wind dehnte und das Wasser ballte, würde ich bald ins All gelangen. Dort würden mich leuchtenden Punkte umringen, um die Planeten mit Lebensformen kreisen könnten, die ich mir nicht vorstellen mag. Vor mir verschmälerte sich die Strasse und ich stabilisierte den Lenker. Reto stiess fast mit mir zusammen. Der Boden glitzerte dort, wo sich Licht in den Scherben brach und die Backsteine zerfielen zu Staub. Als ob die Welt hier schon lange geendet hätte. Und so abgelegen, wie in einem Wald, wo es aus der Dunkelheit, unter Tannen und Fichten, heult und grunzt. Wo Eulen zwischen dem Dickicht manövrieren. Bis der Verstand verbleicht und der Instinkt regiert. Vereinzelte Grashalme flatterten in den Ritzen. Sie schienen das Ende überlebt zu haben. Vielleicht vegetierten sie nur noch vor sich hin. Hatten das Ende nur überstanden, weil es noch nicht zu ihnen vorgedrungen war. Reto warf sein Fahrrad an die Häuserwand. Es klapperte und es hätte mich nicht gewundert wenn sich Schrauben oder der ganze Rahmen gelöst hätten. Ich bremste und liess mich leicht nach vorne fallen. Eine Strähne strich über meine Stirn und über uns pfiff es leicht. Neben uns hatte sich bereits eine grosse Schlange gebildet. Vereinzelte Wörter vermischten sich zu wirren Sätzen bis sich die Sprache wieder in Geräuschen verlor. Die Fensterscheiben bebten und rasselten im Takt der Musik, die durch das Herz des Gebäudes dröhnte. Wir konnten unsere Gesichter nur erahnen, wie sie sich verzerrten. Als ob wir eine Maske trugen, die wir nie ablegen. Die uns den Atem nimmt, uns einengt und schwächt. Tim stiess mich nach vorne und trat dann neben mich. Wir erreichten den Eingang. Ich tastete in meine rechte Hosentasche. Meine Fingerkuppen berührten die Geldbörse und ich zerrte sie nach oben. Der Ausweis steckte im äussersten Fach. Ich zuckte ihn und zeigte ihn dem Türsteher. Seine Hände lösten sich kurz und er beugte sich nach vorne. An einem sonnigen Tag hätte er mich komplett beschattet. Er winkte mich vorbei. Die Frau an der Kasse streckte die Hand nach vorne. Ihre Pupillen wanderten langsam von unten nach oben. Ich öffnete das Münzfach und gab ihr einige Münzen. Sie zählte die Münzen und griff dann mit der rechten Hand nach einem Stempel. Ich drehte meinen Arm und sie drückte den Stempel unter meinem Handgelenk auf die Haut. Wir folgen einer Treppe nach unten, ins Untergeschoss. Vor mir diskutierte eine Gruppe von Frauen und Männern. Dann hörte ich nur noch mechanische Rhythmik, die meine Ohren betäupte und auf mich einprasselte.

„Komm, wir gehen an die Bar.“

Ich folgte Tim, als wir uns durch die tanzenden Menschen vor uns drängten.

Wenige Minuten später stiessen wir an und nippten an dem schmalen Glas. Nur Sven füllte seinen Mund ganz und schluckte laut. Irgendwie schmeckte er gleichzeitig süsslich und bitter. Am Anfang breitete sich eine leichte Wärme im Mund aus. Am Nachgeschmack merkte ich, dass sie an Alkohol nicht gespart hatten. Ich konnte nicht ausschliessen, dass auch eine Kräutermischung daran beteiligt war. Die breite Süsse wies aber eher auf Beeren hin.

„Geht erstaunlich gut runter. Und dieser Drink soll tatsächlich schlimm sein?“ Tim bildete Falten auf seiner Stirn und seiner Stimme fehlten die Höhen und Tiefen.

„Unterschätze ihn nicht. Der soll es in sich haben“, meinte Reto stolz.

Nach weiteren Schlücken spürte ich seine Wirkung, die sich rasant durch meinen Körper ausbreitete und mir zu Kopf stieg. Einige Meter vor uns entfernt tanzten zwei Frauen zum schnellen Puls der Musik, um den sich einprägsame Melodien wanden.

„Schaut mal die dort an, die mit den langen schwarzen Haaren. Da wird mir anders, wenn ich sehe, wie sie ihren Körper bewegt.“ Sven sprach mit einer Art hoffender Sehnsucht.

„Wenn sie dir so gefällt, dann sprich sie doch an“. Tim nickte ihm kurz zu.

„Zuerst einmal ihr Umfeld beobachten. Nichts soll überstürzt werden.“

„Du traust dich nicht. Wie letztes Mal“, stichelte Reto.

„Besser als du. Jedes Mal wenn du eine ansprichst, flieht sie zum anderen Ende der Tanzfläche“, konterte Sven mit sarkastischer Stimme.

„Ich habe es wenigstens versucht“, verteidigte sich Reto forsch.

„Man muss ihr nur ein Kompliment machen. Oder mit gezieltem Humor ihre anfängliche Abwehrhaltung durchbrechen. Überrasche sie mit etwas Originellem“; belehrte uns Tim.

„Dann sag uns, wie du es genau machen würdest“, bat Sven hoffnungsvoll.

„Das weiss ich noch nicht genau. Dafür muss mir erst etwas Passendes einfallen.“

Mit einer Frau ins Gespräch zu kommen oder mit ihr zu tanzen, war nur der erste Schritt, dem viele weitere Schritte folgen würden. Viele sagen, dass der erste Schritt der Schwerste ist und dann alles mehr oder weniger von alleine passiert. Das Heimtückische ist aber, dass es enorm schwer ist, sich anfangs nur darauf zu konzentrieren, mit einer Frau ins Gespräch zu kommen. In Gedanken malte ich mir oft schon vorher aus, was diesem ersten Kontakt folgen würde, wie es sich anfühlen würde. Erschwerend kam dazu, dass sich die Angst Fehler zu machen stetig in die Gedanken einschlich und somit den ersten Schritt zu einer hohen Mauer auftürmte. Ohne die weiteren Schritte bräuchte auch der erste Schritt weniger Mut. So kam es jedenfalls mir vor.

Ausserdem schien jeder ein Zuschauer zu sein, der einen möglichen Misserfolg aus nächster Nähe beobachten konnte. Ausgestellt im nächtlichen Käfig der Begierden ...

Währenddessen waren die Frauen schon zwischen anderen Menschen verschwunden. So war es oft. Selten gab es auch Momente, wo Tim sein Glück versuchte. Neben den zahlreichen Fehlversuchen Retos, fruchteten Tims Versuche sogar ab und zu. Wobei, was heisst hier fruchten. Meistens wusste ich nicht, wie es am Schluss ausging. Tim blickte zu mir.

„Was ist heute mit dir los? Ist es wegen deiner Arbeit? Normalerweise bist du doch nicht so in dich zurückgekehrt. Wo bleiben deine lustigen Einfälle. Du bist doch sonst nicht so still ...“

„Was heisst normalerweise. Muss ich immer die Stimmung auflockern mit meinen Ideen, um euch zufrieden zu stellen?“ erwiderte ich knapp.

Meine Reaktion erstaunte sogar mich.

„Ist ja schon gut. Komm runter. Ich dachte nur, vielleicht geht es dir zur Zeit nicht so gut.“

„Mir geht es bestens.“

Tim drehte seinen Kopf mehrmals zu mir, doch jedesmal wenn er etwas sagen wollte, schaute ich weg. Ich lehnte mich an eine Säule. Etwas rieselte auf mein Shirt. Sven und Reto flüsterten sich abwechslungsweise zu. Die Säule vibrierte bei jedem Kick. Tim setzte das Glas an seinen Mund und schluckte dann den Inhalt herunter. Wo war er gerade? Überlegte er, was er mir sagen wollte. Seine Augen fixierten einen Punkt vor sich. Eine Rothaarige schüttelte ihre Haare leicht. Ich setzte das Glas an meine Lippen. Die Eiswürfel berührten meine Lippen und der Drink rann in meinen Mund.

Der Club war mir viel zu stickig, zu eng. Früher sah ich diese Nächte noch mit anderen Augen, war naiv und leicht zu beeindrucken. Hatte nie zu wenig Energie für irgendwelche Blödeleien. Heute sehnte ich mich nach meinen Schlaftabletten, nach meinem weichen Bett. Wollte mich von der Welt abkapseln. Meine freie Zeit träumend geniessen. Ich sträubte mich mit jeder Minute mehr gegen das Nachtleben. Ich spürte einen unsichtbaren Druck auf mir lasten. Eine Erwartung schien auf mir zu liegen, der ich heute nicht gerecht werden konnte und nicht wollte. Ich wollte nicht mehr nur der sein, der die Stimmung auflockerte, der immer sorglos rüberkommt, obwohl es im Innern anders aussah. Dieses Maskieren kostete mich immer mehr Kraft und Nerven. Ich konnte es nicht mehr aufrecht halten.

Als ich mich kurz vor zwei Uhr verabschiedete, blickte ich in drei entgeisterte Gesichter. Sie versuchten zuerst mir gut zuzureden, mich auf einen Drink einzuladen. Tim folgte mir und tippte mir auf die Schultern.

„Bleib doch noch. Es ist noch lange nicht vorbei. Wir haben gerade so viel Spass. Komm schon.“

Ich lehnte ab und eilte durch die Menschen nach oben, und war glücklich meinem Bett näher zu sein, als ich mit dem Fahrrad durch die nächtliche Szenerie radelte. Ungeduld trieb mich immer schneller an. Den Alkohol spürte ich nur noch als sanften Filter über meine Sinne gelegt. Ich schwitzte noch, als ich in mein Zimmer, meinen Zugang zum Paradies, stürmte. Rasch kramte ich die Schlaftabletten hervor und nahm einige davon. Morgen konnte ich so lang ausschlafen, wie ich wollte. Das Handy blinkte und klingelte. Ich dämmerte weg und alles um mich verschwamm, bis das Klingeln nicht mehr existierte. Ich lenkte meinen Fokus so gut es ging auf das Bild der Wolken, wie leicht es sich anfühlt zu fliegen und tauchte in meine geliebte Parallelwelt ein. Wieder überraschte mich die elektrisierende Empfindung, die ich in der anderen Welt nie beibehalten konnte.

Ich schien eins geworden zu sein mit der Wolkenpracht. Sie berauschte mich und es roch nach Sommerregen. Einem Regen der alles kühlt und die Lebewesen erfrischt. Meine Arme schwangen im Takt des Windes als ich durch den Himmel zum Horizont glitt, wo die Dämmerung alle Farben stärker leuchten liess, ihre Konturen hervorhob. Die Magie strömte durch mich hindurch, flösste mir ein Gefühl von Sorglosigkeit ein. Die Stadt unter mir schien mir so unendlich weit entfernt, so unwirklich in ihrer Winzigkeit. Vor mir erhoben sich saftig grüne Hügel und verschneite Bergspitzen. Obwohl ich weit entfernt war vom Geschehen, sah ich jede einzelne Nadel der mächtigen Tannen gestochen scharf, roch das würzige Harz, als ob es in meinen Händen gewesen wäre. Ich fühlte das Leben, wie es in den Ästen inne wohnt. Zwischen den Bergen brachen sich die Wellen eines riesigen Ozeans. Die Gischt war so weit weg, doch hörte ich ihr beruhigendes Rauschen direkt an meinem Ohr. Die Fluten flüsterten mir zu und sangen ein Wiegenlied aus meiner frühsten Kindheit. Ich fühlte mich geborgen und umsorgt. Geschützt vor allem Unheil und allem Leid und düsteren Gedanken. Die Sonne senkte sich vollständig hinter den gewölbten Horizont und alles wurde dunkler und dunkler. Der Wind und die Tropfen in Form weisser Wolken verschwanden. Ich war nicht mehr am Himmel sondern fühlte, dass ich auf festem Grund lag. Zuerst konnte ich nicht zuordnen auf was ich genau lag. Es fühlte sich unglaublich flauschig an. Ich brauchte einige Sekunden, bis ich entdeckte, dass ich auf einer weichen Decke lag. Sie federte mich leichter, als mir jemals bewusst war.

Die Empfindungen hatten ihren Weg noch nie so intensiv in die Wirklichkeit gefunden. Ich genoss dieses Geschenk meines verlängerten Traums und schlief wenige Minuten später wieder ein. Erst um etwa zwei Uhr nachmittags stemmte ich mich benommen und sorglos aus meinem Bett.

An einem Dienstag, seit meinem letzten Ausgang war wieder mehr als eine Woche vergangen, war Janosch noch mehr auf Trab als sonst schon. Sein Schweiss perlte von der Stirn und tropfte auf den staubigen Boden. Nur ab und zu kam er zu mir, um mich wegen einer Kleinigkeit zurechtzustutzen. Warum musste ich schon wieder auf der gleichen Baustelle mit Janosch arbeiten. Viel lieber wäre ich mit Markus unterwegs gewesen, der war viel geduldiger und zeigte mir gründlich, wie die Arbeiten getan werden mussten. Janoschs Atem roch nach fettigem Fastfood, der ihm immer noch zwischen seinen Zähnen hing.

Ich setzte den schweren Bohrer an die Wand und presste mit meinem Zeigefinger den roten Hebel nach hinten. Feiner Staub wehte mir gegen die Plastikbrille, die ich tragen musste und ich hustete wegen den Partikeln, die ich einatmete. Die Kerben drehten sich in die Wand hinein und erste Stückchen vom Verputz prasselten heiss zu Boden. Plötzlich spürte ich einen Widerstand und drückte noch mehr dagegen. Es roch versengt. Der Bohrkopf verkeilte sich komplett in der Wand und mein Arm wurde grob nach oben weggeschleudert. Das dicke Kabel knallte gegen meinen Kopf. Es fühlte sich überhaupt nicht gesund an, mein Oberarm schmerzte. Ich drückte mich mit meinem Oberkörper stärker ans Gerät, wollte weiter in die Wand hinein kommen. Der Bohrer stieg aus.

Janosch hetzte erzürnt zu mir. Seine Augenbrauen senkten sich und gaben ihm einen strengen, tadelnden Ausdruck, als er mich zurechtwies.

„Herrje, spinnst du. Wir sind hier nicht zum Spass. Pass doch besser auf. Kann ich dich nicht eine Minute aus den Augen lassen, ohne dass du wieder etwas falsch machst!“

„Ich habe bloss ...“

Die geeigneten Wörter fehlten mir.

„Jaja. Schau dir mal den Bohrkopf genau an.“

Er wies auf den geschwärzten, abgeriebenen Bohrer.

„Fällt dir was auf?“

Kurz schluckte ich nach Luft, starrte ihn aber weiterhin lautlos an.

„Solche Einzelteile sind nicht gerade günstig. Wenn es zu viel Widerstand hat, dann kannst du auch noch so stark drücken, ohne dass du weiterkommst. Dann ist etwas dazwischen, das den Bohrkopf beschädigt, weil es schlicht härter ist.“

Ich schaute beschämt zu Boden und wich seinem Blick aus.

„Ich werde es dem Chef sagen müssen. Selbst für deine Verhältnisse, hast du dir während den letzten Tagen zu grosse Patzer und Fehltritte geleistet. Verstehen wir uns?“

Stumm nickte ich in seine Richtung. Nach einer Diskussion war mir nicht zumute und mir fehlte der Antrieb, um mich zu verteidigen. Er hatte recht. Bei mir reihten sich Fehler an Fehler. Diesmal hatte der Tag so wundervoll begonnen. Auf dem Hinweg fühlte ich mich noch so frisch, leicht und voller Energie. Nach der ersten Stunde bei der Arbeit war diese Stimmung wieder wie weggeblasen. Immerhin konnte ich den stressigen Verkehr hinter mich bringen, ohne wütend oder gehetzt zu werden. In den letzten Tagen hatte ich immer mehr Schlaftabletten eingenommen, um früher einschlafen zu können. Langsam spürte ich eine erdrückende Mattigkeit, die an mir haften blieb. Ich hatte zwar immer länger ein gutes Gefühl beibehalten können am Morgen. Hatte viele Bilder mit ihrem zeitlosen Zauber erhascht und die Düfte wirkten intensiver den je. Aber auf der Baustelle verblieb es selten länger als zwei Stunden und wenn es verschwand, breitete sich oft eine seltsame Leere in mir aus und liess mich meine Arbeiten unkonzentriert verrichten. Warum mühte ich mich noch damit ab. Einzig weil ich das Geld brauchte, um über die Runden zu kommen. Scheinbar war der einzige Grund, warum es mir immer gelang, denselben Traum zu haben dieser, ich war davon besessen. Nichts stillte mein Verlangen danach, durch die Lüfte zu schweben, die am Himmel aufblühten. Jene Welt wuchs in mir, um dann immer wieder schnell zu verschwinden. An schneeweisse Wolken konnte ich mich jetzt klar erinnern. Ich wusste lediglich nicht, wie es sich genau anfühlte. Als könnte ich nur die Umrisse der Gefühle erahnen, aber nicht deren Kern, deren Ursprung. Wie konnte ich mehr davon behalten. Es bewerkstelligen, weniger von dieser zweiten Welt einbüssen zu müssen. Warum konnte ich nicht in diesem befreienden Traum leben und von diesem Leben nur träumen als eine unangenehme Illusion. Warum entfloh diese Erkenntnis immer wieder. Die Stunden wollten nicht vergehen, zogen sich so stark in die Länge, dass es schmerzte. Ich hob Backsteine auf und gab sie Janosch in die Hand. Bei jedem neuen Backstein, schien dessen Oberfläche rauher und härter über meine Haut zu schrammen. Janosch türmte die Backsteine vorsichtig auf, um eine neue Wand zu bauen. Selbst ich konnte erkennen, dass sie schief wurde. Es war erst zwei Uhr. Noch ganze 4 Stunden.

Als ich diese Stunden überstanden hatte, schleppte ich mich die Treppe hinab. Ich kritzelte Zahlen auf meinen Rapport aus und händigte ihn meinem Chef aus, nachdem ich unterschrieben hatte. Er liess seine Augen eine ganze Weile auf meinen Zahlen verharren. Vertraute er mir nicht oder konnte er mein Gekritzel einfach nicht lesen?

Als ich zu meinem Fahrrad kam, wünschte ich mir, dass ich schon zuhause war. Mein Fahrrad wirkte älter denn je. Vermutlich müsste ich bald ein Neues kaufen. Nachdem ich einige hundert Meter gefahren war, musste ich auf den Bürgersteig ausweichen. Die Autos fuhren im Schritttempo an mir vorbei und ich erhaschte ihre Gesichter. Jeder wollte fahren, um endlich nach Hause zu kommen. Der Fahrer eines glänzenden Mercedes, grau und elegant, schüttelte den Kopf und kaute an seiner Lippe. Eine Frau mit lockigem Haar und blauen Augen verdrehte die Augen. Ihre feinen Gesichtszüge gefielen mir. Nach einer Weile stieg ich ab. Die Leute vor mir liessen mich nicht mehr durch. So hatte ich fast doppelt so lang wie normal.
Am Freitag schrillte die Klingel. Ich ignorierte sie für eine Weile und stemmte mich dann träge aus meinem Bett, um zu öffnen. Da ich mich seit dem Abend im Temple nicht mehr bei ihm gemeldet, geschweige denn seine Anrufe entgegen genommen hatte, war ich erstaunt, als Tim vor meiner Tür stand. Es war schon später am Abend und ich hatte mich schon auf den Schlaf vorbereitet. Er grüsste mich und sprach mit besorgter und gleichzeitig ernster Stimme.

„Ich weiss, dass ich unangekündigt komme. Aber es schien die einzige Möglichkeit, die mir noch blieb, um dich zu erreichen. Du bist nicht mehr der Mensch, mit dem ich so gerne um die Häuser zog. Was ist nur mit dir passiert. Früher warst du immer sofort dabei, wenn es darum ging, etwas trinken zu gehen und Leute zum Lachen zu bringen. Heute kommst du kaum aus deinem Zimmer und letzte Woche habe ich vergeblich versucht, dich aus dem Haus zu locken. Irgendwo hast du dein altes Selbst doch begraben. Ich kenne dich kaum noch. Warum ziehst du dich nur so zurück. Ist dir etwas Schlimmes zugestossen?“

Ich wich seinem Blick aus und kratzte mich an meiner Wange.

„Du würdest es ja doch nicht verstehen. Das Leben ist so zermürbend, eintönig und vollgepackt mit Verpflichtungen. Ich habe die Kraft einfach nicht mehr dafür! Lass mich jetzt bitte allein! Ich will frei kommen. Meine Freizeit geniessen. Es ist meine Entscheidung, wie ich mein Leben verbringen will.“

Tim schüttelte denn Kopf leicht. Vermutlich tat er dies ohne sich darüber bewusst zu sein.

„Nein! Wir sind jetzt schon seit Jahren gute Freunde und ich lasse dich nicht dein Leben zerstören. Du unternimmst jetzt etwas dagegen. Sonst verlierst du dich noch mehr in deinen Gedanken und verlierst jeden Kontakt zu mir und den Anderen. Ich helfe dir gerne dabei. Komm schon. Gehen wir heute Abend raus. Wir gehen in diesen Club, der immer die gröbsten Bässe wummern lässt. Lass mich bitte nicht im Stich.“

Ich verstärkte meine Stimme und es erstaunte mich wie laut ich plötzlich geworden war.

„Verstehst du nicht, dass ich das Nachtleben anders verbringen will. Was bringt es mir, immer die gleiche Musik zu hören. Immer dieselben langweiligen Leute zu sehen. Ich will meinem Leben Sinn geben. Ich brauche etwas mit Substanz. Das Wichtigste ist, dass ich mich gesund und fröhlich fühle. Dafür muss ich aber hier bleiben. Glaub mir, es wird alles besser so.“

Dann schrie mich Tim fast an. Seine Pupillen zitterten dabei leicht.

„Du nennst es sinnvoll, nur noch für dich zu leben. Ich will nicht wissen, wie viel du täglich schläfst, so wie du aussiehst. So kann und darf es nicht weiter gehen. Ich mach mir ernsthafte Sorgen um deine Verfassung.“

Ich hob meinen Brustkorb und ging einen Schritt nach vorne.

„Du lässt nicht locker, was? Ich hätte es wissen müssen, du hast dich eben nicht verändert. Du kannst mir aber nicht helfen und ich will mein Leben selbst bestimmen. Erlaubst du mir das etwa nicht einmal mehr. Versteh doch, ich habe etwas gefunden, was mich erfüllt. Eine Wirklichkeit gefunden, die mir mehr gibt als ein paar Stunden in einer Bar. Einige Vodka Lemons oder Bacardi Colas. Das Clubleben ist manchmal echt lustig und unterhaltsam. Trotzdem höhlte es mich immer mehr aus. Ich brauche eine Fluchtmöglichkeit aus dieser abstrusen Welt voller Zwänge, Ängste und Süchte. Ich kann diesen Teufelskreis nicht mehr ertragen. Wenn du wüsstest, wie viel Kraft es mich kostet mit dir zu sprechen. Verdirb es dir nicht mit mir. Hörst du!“

Er blickte mich nur noch seufzend an. In seinem Blick lag eine Mischung aus Verbitterung und Unverständnis. Ich meinte sogar eine kleine Spur Wut und Trauer darin schimmern zu sehen. Ich fühlte erlösende Müdigkeit sich in mir ausbreiten. Endlich. Als er zur Tür schritt, nahm ich ihn kaum mehr wahr. Die Schlaftabletten entfalteten endlich ihre Wirkung.

Auf den nächsten Montag konnte ich länger schlafen. Das Gefühl blieb daher länger an mir haften. Ich konnte mich an immer mehr schöne Einzelheiten erinnern. Aber ich war so eingenommen von diesem Traum, der jede Nacht wiederkehrt, dass ich nicht richtig arbeitete. Vielmehr hatte ein heimtückischer Autopilot von mir Besitz ergriffen. Jeden Tag gab es diesen Moment, diese Zeitspanne, in der alle Leichtigkeit wieder von mir abgefallen war. Danach musste ich immer mehrmals nachfragen, wenn mir ein Auftrag aufgebrummt wurde, arbeitete nicht mehr genau und konzentriert. Ich litt immer stärker, je weiter die Woche fortschritt. Bis zu einem Mittwoch, an den ich mich immer erinnern würde. Wie so oft wurde mir aufgetragen, den Mörtel, ich wusste inzwischen die Bezeichnung, vorzubereiten. Ich goss Wasser auf den Zement. Als ich aufblickte, sah ich Wolkenberge. Sie wuchsen an und überlagerten einander. Schon sauste ich durch die Luft. Die Wolken fühlten sich wie Watte an. Ich glitt durch sie hindurch und ein Feuer entfachte am Horizont. Die Wolken färbten sich orange. Mein Herz schlug stärker und in mir loderten Flammen. Ich könnte wieder da hoch gehen. Mich in der Weite des Horizonts verlieren.

„Wo hast du gelernt zu arbeiten. Hör auf zu träumen und arbeite wie wir alle hier!“

Einer meiner Mitarbeiter, ich arbeitete noch nicht lange mit ihm auf dieser Baustelle, fuhr mich an. Er türmte sich vor mir auf und wies auf den Kessel vor mir.

Rasch verscheuchte ich meine abschweifenden Gedanken. Das Gefühl wich vollständig von meinem Körper, schien sich in Gift zu verwandeln, dass unheilbringend durch meine Innereien schlängelte. Der Mörtel war inzwischen sehr zähflüssig geworden.

Ich beeilte mich, um zu Janosch auf der anderen Seite des Gebäudes zu gelangen, der in einem anderen Abschnitt daran war, eine neue Mauer aufzurichten, und letzte Schritte plante. Wenige Sekunden später war ich schon bei ihm angelangt. Dabei riss ich einen anderen Arbeiter von der Holzleiter, die in meinem Weg stand. Vermutlich war es ein Elektriker. Er krachte schreiend auf seinen Rücken und blieb liegen. Der Schraubenzieher klapperte auf dem Boden. Der Arbeiter versuchte zuerst vergeblich aufzustehen. Gleichzeitig bröckelte der Mörtel vor mir auf den Boden und purzelte zu den Stiefel von Janosch. Die Schubkarre war knallend umgestürzt. Die Mitarbeiter des Gestürzten eilten besorgt zu ihm. Ich stand neben mir. Fürchtete mich vor den Konsequenzen. Ich musste einen sehr schlimmen Eindruck hinterlassen haben, da ich keine Anstalten zeigte, ihm zu helfen. Die Sanitäter kamen kurz später und fragten mich aus. Er kam mit kleineren Prellungen davon. Ich bin mir nicht mehr sicher, ob er sogar einen Bruch erlitten hatte. Noch am gleichen Abend folgte ein Gespräch mit meinem Chef. Ich klopfte an eine weisse Türe.

„Ja? Komm rein!“

Ich zögerte und drückte die Klinke dann nach unten. Er schrieb etwas nieder und suchte dann meinen Blick. Beiläufig wies er mit seiner Hand auf den freien Stuhl vor sich. Er wischte das Papier weg.

„Es ist eine echte Zumutung mit dir. Du hast nicht nur einem anderen Arbeiter durch deine Hektik und Unachtsamkeit Schmerzen bereitet. Er wird die nächsten Tage arbeitsunfähig sein. Das ist schon schlimm genug. Du schadest gleichzeitig auch mir langsam, aber sicher mehr, als dass du eine Hilfe bist. Wie oft muss ich dir klarmachen, dass ich das nicht mehr länger dulden kann. Ich bin ein geduldiger Mensch, aber irgendwann hört es sogar für mich auf. Es kostet mich einfach zu viel Nerven und Geld. Vor allem wenn ich immer jemanden beauftragen muss, dich im Auge zu behalten. Die letzten Tage hast du so viele Böcke geschossen. Was hilft es uns, wenn du etwas nicht sauber machst und dann die Arbeit zweimal gemacht werden muss ...“

Seine letzten Worte erreichten mich nicht mehr. Meine eigenen Gedanken genügten, um mich in Selbstmitleid versinken zu lassen. Irgendwo krallte sich immer noch eine Spur meines Optimismus an einen nicht mehr vorhandenen Strohhalm. Was alles noch schwieriger machte. Ich stand ohne Job, ohne Einkommen da. Zuhause flüchtete ich mich sofort in einen Traum, anstatt mich nach einer neuen Arbeit umzusehen.

Ich war losgelöst von irdischer Gravitation, schwerelos wie in den unendlichen Weiten des Alls, und glitt zwischen faserigen Wolken dem errötenden Zenit entgegen, der sich in seiner gesamten Länge vor mir ausstreckte. Mit meinen Fingerspitzen tastete ich in die Wolken, in denen die Feuchtigkeit kondensiert war, und fühlte dessen kühlende Nässe. Es roch nach frischem Schnee, der die vor mir auftürmenden Bergkuppen wie eine süsse Glasur bedeckte. Die verschachtelte Stadt liess ich hinter und unter mir zurück. Sie schrumpfte zu einer unscharfen, weit entfernten Kulisse. Ich flog zwischen den Bergen hindurch, übers offene Meer hinaus. Die Wolken hatten eine rötliche Schattierung erhalten, deren Abstufungen sie zu detaillierten Gemälden färbten. Ich schmeckte das Salz, welches mir vom Ozean hinaufgetragen wurde, auf meiner Zunge, die ich genüsslich herausstreckte, als ob ich die Kristalle auffangen wollte, welche durch die Luft zu mir strudelten. Das Rauschen der Wellen schwoll zu einer klanglichen Sinfonie an, die eine Sehnsucht in mir auslöste, die mich fast am feurigen Himmel taumeln liess. Währenddessen verdunkelte sich die Landschaft und liess das Firmament in goldenen Flammen aufgehen. Alles funkelte und strahlte. Ich sah die Gischt, wie sie an den Strand hinter mir gespült wurde und die Sandkörner noch feiner mahlte. Über mir lichteten sich die Wolken und offenbarten den fahlen Mond, der mit jeder Sekunde heller leuchtete, und ich meinte das erste Glitzern von Sternen zu erhaschen. Das Bild über mir erlosch. Vor mir drangen Sonnenstrahlen durch die Storen und projizierten ein feinmaschiges Gitter auf den Zimmerboden. Alle Sorgen des Vortages waren wie weggeblasen. Ich lag im Bett, zugedeckt mit meiner dunkelgrünen Decke, und bewegte mich fast nicht, zugedeckt mit meiner dunkelgrünen Decke. Der Traum war immer noch klar vor mir und ich schien den Duft des salzigen Windes zu riechen. Meine Arme und Beine fühlten sich unbeschreiblich leicht an, als ob ich immer noch durch die Wolken pflügen würde. Keinen Gedanken verschwendete ich an mein Schicksal als Arbeitsloser. Ohne Arbeit dazustehen, schien mir nichts auszumachen. Ich schaltete meine kleine Stereoanlage an und liess mich von den Klängen sanfter Streicher und rasselnder Bläser inspirieren. Da keine Verpflichtungen auf mir lasteten, beeilte ich mich nicht aufzustehen. Die Schwere der letzten Wochen hatte von mir abgelassen. Als die Stunden vergingen, verstummte das beruhigende Rauschen der schäumenden Wellen, das in meinen Kopf nachhallte. Mit jedem Tag, der verstrich, blieb mir weniger Kraft für den ganzen Tag. Ich harrte durch schmerzhafte Stunden, bis die Nacht über die Stadt hereinbrach und mir Erlösung versprach.
Ganze zwei Wochen war ich mehrheitlich in meinem Bett, starrte oft stundenlang nach oben ohne wirkliche Regung. Obwohl ich oftmals, auch tagsüber, Schlaftabletten zu mir nahm, konnte ich wieder weniger Schlaf finden. Ganze Nachmittage dachte ich nur angestrengt über diesen wiederkehrenden Traum nach. Wie war das überhaupt möglich, dass dieser Traum immer wiederkehrt. Ich hatte mir noch keine Gedanken über den Inhalt gemacht, wollte nur immer wieder dieses Hochgefühl erleben, dass während dem Tag immer wieder verschwand. Die Leere, die dabei entstand, wurde immer grösser und glich einem tiefschwarzem Abgrund. Die Nacht blieb mein Refugium, mein erfülltes Paradies. Der Traum wurde intensiver, mächtiger. Mein Leben verlor immer mehr Substanz, wurde zu einer Hülle ohne Kern.

Eines Abends, Mittwoch oder Donnerstag, vielleich war es auch schon Freitag, blickte ich zur Decke empor. Schatten von aussen tanzten gespenstisch darüber. Sie waren verzerrt und zerrten am Licht der Strassenlaternen draussen. Ein Gefühl der Einengung, der Gefangenschaft, überkam mich und schien tief in mir zu wuchern wie ein böser Traum. Wann war ich das letzte Mal draussen, an der frischen Luft. Ich konnte mich nicht aufrappeln, etwas hinderte mich daran aufzustehen. Das Mobiltelefon klingelte metallen auf dem Pult und das sterile Licht flimmerte. Vermutlich war es wieder Tim. Tim, der auch schon vor zwei Tagen angerufen hat. Tim, der mich retten wollte. Retten vor was? Als ob ich nicht wusste was mir gut tun würde... Wie jeden Abend griff ich zur Schachtel mit den Tabletten. Ich hörte die silberne Tablettenpackung rascheln und konnte mich endlich wieder beruhigen. Die weissen Tabletten versprachen mir der Tortur des Wachseins zu entfliehen.

Am nächsten Morgen wachte ich matt auf, der Schlaf hatte meine Ressourcen aufgebraucht, anstatt aufzufüllen. Mein Kopf brummte und ich konnte mich nicht mehr erinnern geträumt zu haben. Nicht einmal mehr ein Gefühl oder eine Stimmung hallte in meinem Innern nach. Hatte ich einen anderen Traum gehabt oder half der Traum einfach nicht mehr. Tief in mir spürte ich körperlose Schmerzen, etwas zwang mich immerzu düsteren Gedanken zu folgen. Der Traum entfloh mir, kam nicht zurück. Was würde mir jetzt noch Freude bereiten. Welchen Sinn bestünde darin jeden Tag aufzuwachen nur um zu hoffen, dass wieder Nacht wurde. Den ganzen Tag musste ich daran denken, was ich tun sollte, wenn der Traum tatsächlich für immer weg war. Dieser Gedanken plagte mich fortwährend. Ich sah zum Pult. Langsam erhob ich mich aus meinem Bett und schlurfte zum Pult. Ziellos schielte ich aufs Natel. Drei unbeantworte Anrufe von Tim. Ich hielt kurz inne, dann hob ich das Mobiltelefon auf und setzte mich vorsichtig auf die Bettkante. Endlose Sekunden starrte ich einfach auf den Bildschirm und berührte keinen Knopf. Es fühlte sich leblos und kalt an und doch war es in diesem Moment meine einzige Verbindung zur Aussenwelt, zu meiner Vergangenheit, zu meinen Freunden. Ich fuhr mit meinem Finger über meine Lippen. Sie waren aufgeschunden und brüchig. Sorgfältig wendete ich das Mobiltelefon in meinen Händen. Wollte ich wirklich wieder in diesen Kreislauf aus Arbeit und Ausgang gezogen werden? Zwischen Häuserschluchten kurven, auf meinem Fahrrad, dessen Scheppern von den Fassaden zurückgeworfen wird? Irgendwie löste dieser Gedanke eine Sehnsucht in mir aus, die ich vergessen hatte. Das Display leuchtete nicht mehr. Ich breite mich auf dem Bett aus und streifte meinen Blick rastlos durch mein Zimmer. Irgendwie war ich nur noch ein Schatten von mir selbst. So sehr ich mich auch erinnern wollte an die letzten Wochen, gab es nichts, an das ich mich erinnern konnte. Die Tage waren ohne Struktur, ohne Sinn, und raubten mich meiner Energie. Hatte ich alles falsch gemacht? Ein Schub Zweifel überkam mich wie eine Flutwelle, drückte mich tiefer hinab in eine düstere Gedankenwelt. Wie konnte ich wieder Kraft gewinnen. Für einen Augenblick schloss ich die Augen und versuchte an weisse Wolken zu denken, eine grüne Wiese. Stattdessen zogen schwarze Gewitterwolken auf. Blitze zuckten. Ich stellte mir vor, wie es wäre nicht mehr zu sein. Diese Vorstellung des Nichts wandelte sich zu einem bittersüssen Gefühl. Wie es wäre alle Gedanken, Zweifel und Ängste zu verlieren indem alles endet. Keine mühsame Arbeit auf einer Baustelle mehr, kein Tanzen und Betrinken mehr in einem Club voller Leute, die einen einengen. Keine Sorge um Geld oder Beliebtheit. Kein Verlangen nach Alkohol, um die eigene Angst in den Hintergrund zu drängen. Alles wäre einfacher weil es einfach nicht mehr wäre. Im Hintergrund hörte ich das Brummen eines grossen Motors, vermutlich fuhr ein Lastwagen vorbei. Nach einigen Minuten, eine gefühlte Ewigkeit später, raffte ich mich auf. Ich wollte einfach raus hier. Als ich die Jacke überstreifte, spürte ich eine ungekannte Euphorie. Ich band mir die Schuhe und stolperte fast die Treppe herunter. Draussen angelangt erreichte mich ein Schwall frischer Luft. Es war inzwischen wieder Nacht und es roch nach asiatischem Essen. Nachdem ich mein Fahrrad vom Schloss befreit hatte, stieg ich auf den Sattel und trat in die Pedale. Ich beschleunigte zu einem halsbrecherischen Tempo und raste die Strasse runter. Der Wind rauschte in meinen Ohren und liess mich taub werden. Die Kreuzung kam näher. Immer schneller näher. Links sah ich die Kühlerhaube eines Mercedes aufblitzen. Ich rauschte mit mehr Glück als Geschicklichkeit vorbei und hörte noch wie ein Mann mir wütend nachrief. Mir war alles egal. Was konnte ich schon verlieren. Wie ein Besessener raste ich der Strasse entlang. Es tat gut draussen zu sein und zu sehen wie die Strassenlaternen vorbeihuschten, wie die Leute einen durchlöchern mit ihren neugierigen Blicken. Ein Auto rauschte heran. Der Fahrer verringerte den Abstand zu mir. Trotzdem versuchte ich noch an Geschwindigkeit zuzulegen. Doch die Steigung war verschwunden. Gefährlich schnell zog ich eine noch gefährlicher enge Kurve und konnte mit knapper Not einem Auto ausweichen, dass am Strassenrand angehalten hatte. Eine Dame stieg aus dem Taxi und schüttelte den Kopf. Glück gehabt. Nach einer Weile hielt ich am Strassenrand. Ich stocherte mit meiner Hand in der Jackentasche und zuckte eine weisse Packung hervor. So viel Tabletten wie nie zuvor steckte ich in meinen Mund und schluckte alle herunter. Dabei blieb mir fast der Atem weg und ich hatte kurz Angst daran zu ersticken. Dann fuhr ich weiter. Die Feuchtigkeit der Luft legte sich auf meine Haut. Ich radelte eine Anhöhe hinauf, um auf der anderen Seite wieder hinabzurauschen. Diesmal kamen mir weniger Fahrzeuge entgegen und nur ein einsamer Fussgänger schlurfte am Strassenrand entlang. Nach einigen Minuten mit hohem Tempo war ich wieder auf ebener Strasse. Eine wohltuende Sänfte legte sich über meinen Körper. Gedankenverloren legte ich meinen Kopf in den Nacken und suchte den schwarzen Himmel nach Wolken ab. Tatsächlich, einige faserigen Wolken bewegten sich rasant über den Dächern der Stadt. Selten leuchtete der Mond dazwischen hervor. Voller Staunen verirrte ich mich in der Weite des Himmels und malte mir aus, wie es wäre durch diese weisse Pracht zu gleiten. Wie es sich anfühlte vom Boden losgelöst zu sein und die Stadt aus einem anderen Blickwinkel zu sehen. Den Mauern der Häuser zu entrinnen und dem Meer entgegen zu fliegen. Diesen Moment wollte ich nie mehr hergeben. Er sollte nie vergehen und mich bis in alle Ewigkeit beschützen.

Die Lichter der Stadt kippten um neuzig Grad. Das vordere Rad verhedderte sich in den Schienen und warf mich nach links ab. Mir war nicht wirklich bewusst was gerade geschehen war. Ich fühlte mich immer noch federleicht. Dann schlug mein Kopf auf etwas Hartes und die Lichter verschwammen.


An die Ankunft im Spital konnte ich mich nicht mehr erinnern. Nur das Bild der Weite über mir, den Wolken, die über mir strömten, hatte sich eingebrannt. Im Spital kamen dann die ersten unwirklichen Eindrücke, bevor ich wieder in die Düsternis abtauchte. Die Schmerzen sickerten entfernt zu mir. Sie waren mir irgendwie fremd und ich konnte mir nicht vorstellen, dass sie meinem Körper entstammten. Danach betteten mich die Schmerztabletten in unsichtbare Kissen. Ich hatte mir anscheinend eine Gehirnerschütterung zugezogen bei meinem Abenteuer. Glücklicherweise war gerade eine Passantin in der Nähe. Die Dame war um die 40 und verständigte die Ambulanz, während sie mich ruhig lagerte und darauf achtete, dass nicht zu viel Blut aus meinem Kopf strömte.

Vor mir bewegte sich etwas. Die Konturen fehlten. Unter mir spürte ich etwas Weiches. Ich streckte mich und berührte eine Metallstange. Ich bemerkte, dass ich auf einem Bett lag. Endlich sah ich scharf. Vor mir beugte sich ein Arzt hinunter.

„Na, bist du wach. Wie geht es dir?“

Ich rieb meine Augen.

„Wo bin ich. Was ist passiert?“

Der Arzt beugte sich tiefer.

„Du hattest einen Unfall. Bist mit dem Fahrrad in die Schienen gefahren.“

Jetzt fiel mir alles wieder ein. Wie sich der Himmel über die Dächer streckte und sich bis zum Horizont fortsetzte. Die Wolken würde ich nie vergessen. Wie sie da über mir vorbeirauschten. Und ab und zu leuchteten. Zuliessen, dass die Sterne zu mir sprachen. Es war, als ob ich selbst da oben geflogen wäre. Wie wenn ich den Himmel kennen würde. Ein Adler, der in der Höhe verweilt und alles von oben betrachtet. Alles überblickt.

„Wir mussten deine Stirn röntgen und nähen. 11 Stiche insgesamt. Ein Glück, dass nicht mehr passiert war. Wie fühlst du dich?“

Der Arzt hob sich wieder auf. Etwas klebte an meiner Stirn. Und brannte leicht. Eine kleine Flamme, die über meine Stirn sengte.

„Nicht schlecht.“

Der Arzt nickte mit seinem Kopf.

„Du brauchst jetzt Ruhe. Und bewege dich nicht zu fest. Keine Angst. Alles hat einwandfrei geklappt. Bald bist du wieder auf den Beinen.“

Der Arzt entfernte sich von meinem Bett und schritt zur Türe. Er blickte zurück und drückte die Türe ins Schloss. Einige Sekunden später tauchte eine Krankenschwester im Zimmer auf. Benommen drehte ich meinen Kopf. Sie näherte sich. Ich hatte Mühe zu hören, wie sie sich durchs Zimmer bewegte. Konnte sie wirklich so leise gehen. Oder hatte ich einen Schaden davon getragen.

Sie hielt etwas zwischen ihren Fingern. Ein Becher aus Plastik. Nur kleiner. Etwas Weisses überragte den Rand. Behutsam stellte sie ihn auf den Tisch links von mir.

„Nimm diese jetzt. Sie stillen die Schmerzen. Falls die Schmerzen trotzdem zunehmen, kannst du diesen roten Knopf drücken.“

Sie wies auf einen kleinen roten Knopf am Tischchen. Neben dem Becher stand ein Glas mit Wasser. Lichtmuster tänzelten über die Decke. Meine Hand zittterte, als ich sie zum Becher steuerte. Mir fehlte die Kraft. Wo war sie geblieben? Ich zögerte. Dann nahm ich eine Pille zwischen Zeigefinger und Daumen und führte sie zu meinem Mund. Diesmal würde ich nicht zu viele Tabletten gleichzeitig in meinen Mund stopfen. Ich kannte die Konsequenzen nur zu gut. Sie schmeckte bitter und ein Pulver löste sich in meinem Mund auf. Als ich das Glas hob, verschüttete ich ein wenig Wasser über meine Beine. Ich setzte das Glas an und goss Wasser in meinen Mund. Dann schluckte ich alles hinunter. Der Becher hatte immer noch drei Tabletten. Gegen die Schmerzen. Ich seufzte und griff nach dem ganzen Becher. Musste das sein. Warum konnte ich nicht zuhause in meinem Bett liegen. Ich starrte auf die Pillen. Sie verschwanden nicht. Den Gefallen machten sie mir nicht. Also musste ich sie in den Mund stecken und mit Wasser hinabspülen. Im Fenster bildete sich mein Gesicht ab. Ich konnte nicht viel erkennen. Draussen schwenkte eine Linde im Wind und einige Blätter fielen ab. Einige trudelten auf den Boden. Wie Federn trieb die Luft andere Blätter wieder nach oben und sie berührten die Scheibe. Sie kratzten an der Scheibe und ein Blatt blieb auf dem Fenstersims liegen. Etwas drückte meine Stirn zusammen. Es musste ein Verband sein. Ein Verband der meine Haut verschliesst. Sie daran hindert zu atmen. Die Welt verdunkelte sich. Über meinem linken Auge spannte etwas die Haut zusammen. Ich konnte etwas gelbes in der Mitte erkennen. Wo war der Moment entwichen, den ich die ganze Zeit gejagt hatte. Einfach verpufft. Hatte er sich mir für immer entzogen? Wohin trieb es mich nun? Welches Ziel würde ich ansteuern? Ich klammerte mich ans Bett. Schweiss rann herab und es brannte wieder stärker. Als würde ich Öl ins Feuer giessen, um mehr zu leiden. Die Linde wankte immer noch. Wie lange würde ich hier bleiben müssen? Das Bett verlor an Komfort. Es würde mich mit Haut und Haaren verschlingen. Ich konnte mich nicht dagegen wehren. Noch nicht. Hoffentlich bald. Die Uhr tickte. Sekunde um Sekunde tickte sie. Immerfort erklang der selbe Ton. Bis sich endlich der Minutenzeiger bewegte. Er sprang einige Milimeter nach rechts. Warum konnte er nicht nach links springen? Bis ich wieder in den Wolken schwebte und dann einfach alles anhalten könnte. Für immer in diesem Moment verharren durfte.

Vor mir humpelte ein Mann zu seinem Bett. In seinen Auge flackerte ein Licht. Seine grauen Haare fielen zerzaust in sein Gesicht. Er beachtete mich nicht. Der Verband schlitze sich in meine Stirn. Jede Faser drang in die Wunde ein. Würde mit ihr verwachsen. Ich taste nach dem Tischchen und griff nach dem Glas. Ich schluckte ein wenig Wasser herunter. Mein Kopf pochte. Ich presste die Lippen zusammen und schloss die Augen. Ich würde erst wieder in ein paar Stunden Pillen gegen die Schmerzen bekommen. Sollte ich den Knopf drücken, um nach mehr Tabletten zu fragen. Unterdessen wanderte der Minutenzeiger weiter nach rechts. Fast zeigte er auf die Drei. Die Linde verharrte nun. Sie bewegte sich nicht mehr. Mein Bauch zog sich zusammen und ich drehte mich leicht ab. Er zog sich noch mehr zusammen und es polterte in mir. Rebellierte mein Körper gegen mich? Meuterten meine Innerein gegen mich, nur um mich zu quälen. Ich krümte mich und stiess die Decke weg. Jemand hustete. Eine Türe öffnete sich. Sie schloss sich wieder. Ich entspannte mich, als mein Bauch mich in Ruhe liess. Vertrug ich die Medikamente nicht? Die Äste der Linde tanzten wieder im Sog der Luft. Etwas rieselte vom Baum hinab. Sie würde da Wache stehen, bis sie vom Wind oder Menschen gefällt wird. Bis sie stirbt und sich beginnt zu zersetzen. Ich hatte schon Mühe nur einige Stunde ans Bett gefesselt zu sein. Sie konnte nicht wandern, nur ihre Wurzeln weiter in den Boden treiben, um das Territorium zu vergrössern. Nach oben den Luftraum erschliessen.

Es roch nach Tod, oder Geburt. Sie versuchten alle Keime fernzuhalten. Dabei liessen sie das Leben aussen vor. Die Linde prangte vor dem Fenster und sie würde es auch noch in einigen Wochen tun. Wenn ich wieder weg war, wieder zuhause angelangt war. Nur, wie lange musste ich bleiben. Ich konnte doch nicht nur weniger als zwei Tage hier sein. Es musste länger sein. Oder stimmte etwas mit der Zeit nicht. Ein Magier könnte sie ja verlangsamt haben. Konnte ich in meinem Zustand träumen? Ich drückte meine Augen zu und starrte in die Dunkelheit. Vor mir blieb es schwarz. Keine Bilder tauchten in meinem Innern auf. Ich liess sie zu und begann zu hoffen, dass ich endlich einschlafen würde. Mein Rücken wärmte sich weiter auf. Ich ruckte mich zurecht und war wieder weit davon entfernt einzuschlafen. Die Schmerztabletten sollten mich doch schläfrig machen. Ich gab auf. Die Linde schien sich nach vorne zu beugen. Zum Fenster zu wachsen. Vielleicht würde ein Ast die Fensterscheibe zerschmettern und mich mitnehmen und zu den Wolken empor wachsen, um der Erde zu entkommen, der Gravitation zu trotzen. Der Baum könnte den Spital zu wuchern und alles verdunkeln. Dann würde wenigstens etwas passieren. Der Zeiger der Uhr liess sich Zeit. Am Liebsten hätte ich ihn herum geschoben, um in der Zeit zu reisen. Nach vorne. Aber wohin würde ich kommen. Ich hatte ja kein Ziel mehr. Doch, ich wollte hinaus gehen, die Welt erkunden. Wenn ich schon nicht schlafen konnte, dann wenigstens frei sein. Wäre ich das überhaupt draussen? Ich starrte zur Uhr. Warum spielte sie nicht mit? Wenn wenigstens meine Gedanken Wirklichkeit würden. Dann könnte ich es auch hier geniessen. Es würde sich sehr gut anfühlen. Selbst in diesem Zimmer voll kranker Menschen. Das Leid wäre zu Ende gewesen. Meine Lider senkten sich. Sie fielen langsam zu.

Ich schreckte auf. Licht sickerte aus den Lampen zu mir herab. Lichter glitzerten weit entfernt. Die Scheinwerfer eines Autos huschten am Hügel entlang. Mein Kopf schmerzte. Er pochte. Klingen, die in mein Hirn schneiden und mich innerlich zerfetzen. Ich hielt die Hand an den Kopf und taste nach den Medikamenten. Nur noch eine Pille. Verdammt. Ich drehte mich nach links ab und schob sie mit den Fingerspitzen in den Mund. Bitterer Staub löste sich. Ich hustete mehrmals. Dann schluckte ich sie hinunter. Wo war das Wasser. Ich spürte einen Becher. Als ich ihn hob, merkte ich, dass er leer war. Die Pille blieb mir beinahe im Hals stecken. Der Kopf stand in Flammen. Ich atmete und jeder Atemzug schien das Feuer im Kopf zu nähren. Verdammt, was war los? Die Lichter verschwammen. Das Bett schien mich nach unten zu ziehen. Mich immer mehr an sich zu fesseln. Es soll aufhören. Einfach nicht mehr schmerzen. Mein Körper bebte. Wie kleine Wellen pflanzte sich das Zittern durch meinen Körper. Der Zeiger schien auch zu schlafen. Jedenfalls geschah nichts. Einer der Patienten schnarchte. Sein Atem setzte kurz aus. Er röchelte und hustete.

Zuhause merkte ich wie wenig Geld noch vorhanden war. Hoffentlich konnte ich den Spitalaufenthalt zahlen. Nervösität stieg in mir empor. Wo sollte ich Arbeit finden? Ich wurde beinahe wahnsinnig und lief unruhig in meinem Zimmer umher. Erst jetzt bemerkte ich die Unordnung, die mein Zimmer in den letzten Wochen entstellt hatte. Wo war ich bloss mit meinen Gedanken gewesen?

Dann beschloss ich, mich an Tim zu wenden. Mit ihm über den Traum zu sprechen. Ich rief ihn am Abend an, indem ich alle verbleibende Kraft sammelte.

„Hallo!.......Was willst du?“

Er sprach mit einer Verbitterung, die ich in seiner Stimme noch nie vernommen hatte.

„Meinst du, ich werde vergessen, dass du mich ignoriert hast. Du nicht einmal meine Anrufe angenommen hast?“

Ich schwieg. Es schien mir wie eine Ewigkeit ohne Worte.

„Nein.“

„Aber du hattest sehr wahrscheinlich noch nie einen Traum, der dich in pure Freude tauchte. Weisst du, wie es sich anfühlt, wenn du dich mit jeder Faser deines Körpers auf einen Traum freust. Darum bangst, eine ferne Welt ohne Grenzen wieder besuchen zu können? Ich musste es versuchen, wollte diesen Traum immer wieder erreichen. Er gab mir ein Gefühl von Leichtigkeit, dass ich nicht mehr beschreiben kann, so sehr ich es auch versuche. Ich wollte es verlängern, in der Wirklichkeit beibehalten. Mich an ihm nähren. Wirfst du mir vor, dass ich Zeit für mich gebraucht habe.“

„Was? Du hast dich lieber in eine Traumwelt geflüchtet, anstatt mit mir etwas zu unternehmen. Wie kann dich ein Traum mehr erfüllen, als all die lustigen, albernen Zeiten, die wir zusammen durchlebt haben? Ich weiss nicht, ob ich dich jemals wieder so sehen kann, wie du früher warst. Egal wie sehr du wieder zu dir findest, gibt es doch diese Zeit, die mir gezeigt hat, dass dir meine Freundschaft nicht reicht. Dass du deine Wünsche, in einem imaginären Traum erfüllt siehst. Wenn du nicht aktiv bist. Sondern passiv durch einen Traum geschleust wirst. Du lieber in den Schlaf geflüchtet bist, als mit mir etwas zu unternehmen ...“

Ich fühlte mich unverstanden und verletzt. Anstatt mir beizustehen reagierte er wütend und empört. Aber er wusste auch nichts von meinem Unfall. Das spielte mir aber in jenem Moment keine Rolle. Es ging schliesslich um meinen Traum. Ich spürte wie mein Blut zu kochen begann. Ich drückte meine Finger ineinander, bis die Nägel ins Fleisch schnitten. Nach allem was geschehen war nun das.

„Nur einen Traum nennst du es. Nur einen Traum? Es war weitaus mehr für mich. Du verstehst es nicht. Er hat mir einen Weg gezeigt. Einen Weg, wie ich die Gefühle in ihrer reinen, unverfälschten Form erkennen kann. Ohne alle die verwirrenden Sinneseindrücke, die ungeordnet und gleichzeitig auf mich prallen, wenn ich mühsam durch diese zerstörte Welt gehen muss. Vielleicht sehe ich diese Welt nicht mehr so gegeben, so unumstösslich wie vorher. Wenn du damit Mühe hast, tut es mir wirklich leid für dich.“

Er verstummte. Die Art, wie er sich nachher verabschiedete, versetzte mir einen grausamen Stich. Mein Kopf pochte wie wild und ich spürte wie Eiter aus der Wunde triefte, die von den Nähten zusammengehalten wurde. Alle gesammelte Kraft schien aus mir zu weichen. Ich fühlte mich sehr, sehr traurig. Tief innen vermisste ich mein altes Leben. Ich liess alle meine Gefühle heraus. Ich weinte. Es tat irgendwie gut. Schwemmte alle angestauten Gefühle und Empfindungen heraus. Läuterte mich.

Nach längerer Suche fand ich eine Arbeit. Wieder auf einer staubigen Baustelle, aber diesmal ohne Janosch, ohne schlimmeren Zwischenfälle. Einen so intensiven Moment, wie mit dem Fahrrad unter den tosenden Wolken, erlebte ich nicht mehr. Auch der Traum kehrte nicht mehr zurück. Ich ging nur noch selten in den Ausgang. Eines Abends rief ich bei Tim an. Er wirkte seltsam distanziert. Als ob der letzte Anruf gestern gewesen wäre. Trotzdem ging ich zu ihm. Er reichte mir eine Cola-Dose und setzte sich auf die Couch. Ich blickte ihn an, wollte den Mund öffnen. Doch mir kamen keine Worte in den Sinn. Auch er begegnete meinen Blicken ohne seinen Mund zu öffnen. Nach einigen Minuten stand er auf, schritt ohne zu reden zur Stereoanlage und schaltete sie ein. Der Bass wummerte wie ein Bohrer in meinen Ohren und der Beat liess meinen Körper erbeben. Ich starrte ihn an. Er zuckte die Schultern. Ich zeigte ihm einige neue Lieder, doch sie überzeugten mich nicht mehr so sehr wie zuvor. Langsam drehte er am Lautstärke-Regler der Anlage. Die Musik dröhnte leiser.

„Kommst du nächsten Freitag ins Temple?“

Mehr brachte er nicht heraus. Nach allem was geschehen war ...

Ich zögerte.

„Also gut. Aber nicht lange.“

Tatsächlich war es immer wieder ähnlich wie an diesem Abend und nicht mehr wie früher. Nie mehr das Gleiche, wenn ich mit ihm um die Häuser zog. Ich hatte mich losgesagt vom Traum, aber nicht von seinen Erkenntnissen. Wir taten oft wie früher. Lachten über unsere Sprüche. Genossen moderne Beats, die immer härter aus den Lautsprechern dröhnten. Tief innen, abseits vom Sichtbaren wussten wir beide, fühlten wir, dass etwas für immer zerstört war. Schon merkwürdig, dass ein so positiver Traum einen Keil in eine Freundschaft treiben kann ...

Vermutlich war es meine Schuld ...

 

Hallo @Tobias Süess

und willkommen in diesem Forum. Ich habe ein bißchen in deinen Text reingelesen und kann sagen, dass er sprachlich akzeptabel scheint. Inhaltlich habe ich nach einigem Lesen immer noch nicht verstanden, worum es eigentlich geht. Die Länge deines Textes wird, fürchte ich, dazu führen, dass viele User hier dankend abwinken. Denn eine Kurzgeschichte ist dein Text nicht. Vielleicht postest du erst einmal einen kürzeren, in sich geschlossenen Text. Wenn der gelungen ist, finden sich vll auch Leser, die längere Texte von dir lesen wollen. Oder aber du stellst den Text unter Romane ein und schreibst vorher ein Exposé dazu.

Nur meine Meinung.

LG,

HL

 

Einen wunderschönen Guten Abend!

Ich habe auch angefangen zu lesen, aber aufgrund der Länge irgendwann aufgehört. Das was mir bis dahin aufgefallen ist, werde ich dir posten:

Hoffentlich bekam er keinen schlechten Eindruck von mir.
Ist das ein Gedanke vom Protagonisten? Wenn ja, dann auch in Anführungszeichen, zumindest wenn ich mich nicht täusche.

In kleiner werdende Adern drängte
Gehörte dieser Anhängsel zum vorherhigen Satz? Das ist auch kein vollständiger Satz.

In ihm verborgen über Feldern huschen.
In ihm verborgen über "Felder" huschen. Aber die 3 Sätze habe ich auch nicht so wirklich einordnen können.

Ein Auto heulte auf und ein länglicher Schatten wanderte am oberen Rand des offenen Fensters entlang.
Was soll das bedeuten, dass ein länglicher Schatten am oberen Rand des Fensters entlang wandert? Ich konnte mir das irgendwie nicht bildlich vorstellen, was du damit meintest.

Wir haben heute viel los.
Das ist ein merkwürdiges Deutsch, oder soll das einen Dialekt repräsentieren?

 

Hallo @Tobias Süess

du schreibst in einem eigenwilligen Stil. Kurze Abschnitte, in denen die Handlung vorwärts geht, wechseln sich mit langen, statischen Abschnitten ab. Diese sind so lang, dass ich zwischendurch den Faden verliere und zurückspringe, um den zusammenhängenden Ablauf zu erkennen. Ein wichtiges Merkmal von Kurzgeschichten ist die Reduktion von Informationen, die für die Handlung oder Charakterisierung nicht notwendig sind; straffe Handlung, kurz durch innere Betrachtung unterbrochen. Hier sind Gedanken und Beobachtungen sehr durchaus gut formuliert. Aber auch sehr detailverliebt und z.T. redundant, wodurch es leider auch langweilig wird, weil nicht viel passiert. Hinzu kommt, dass Du einen ziemlich langen Text präsentierst, wodurch sich diese Abschnitte noch zäher anfühlen.

Im Grunde müsste der Text radikal gekürzt werden, ca. 2/3, um zu funktionieren.

Schönen Gruß!
Kellerkind

 
Zuletzt bearbeitet:

Grüezi, @Tobias Süess

und willkommen hier.

Deswegen wohl auch das "Wir haben heute viel los." Wegen dem Reto, dem Spital und dem Grüezi halt :)

Ja, die Länge ...
Ich habe mal den Text ins Pages gezogen. Fast 19000 Wörter. Und deswegen das Präfix "Novelle" gesetzt. Sozusagen als Vorwarnung.

Welches Textverarbeitungssystem nutzt du eigentlich? Zum Ende hin nehmen die Fehler zu. Selbst Pages, bekannt für seine schlechte Standard-Korrektur, findet da einiges:

Meuterten meine Innerein gegen mich, nur um mich zu quälen. Ich krümte mich

einige Milimeter

Meine Hand zittterte

Drei unbeantworte Anrufe

vielleich war es

meine Ohren betäupte

Ansonsten bin ich voll bei @Kellerkind.
Mir sind auch die langen Abschnitte zwischen den wörtlichen Reden aufgefallen, die Gedankengänge etc.
Die ziehen alles in die Länge, machen es langsam ...

Viel Spaß bei der Überarbeitung.
Viel Spaß beim Lesen, Kommentieren und Schreiben.

Liebe Grüße,
GoMusic

 

Hallo @Tobias Süess

du schreibst in einem eigenwilligen Stil. Kurze Abschnitte, in denen die Handlung vorwärts geht, wechseln sich mit langen, statischen Abschnitten ab. Diese sind so lang, dass ich zwischendurch den Faden verliere und zurückspringe, um den zusammenhängenden Ablauf zu erkennen ... Aber auch sehr detailverliebt und z.T. redundant, wodurch es leider auch langweilig wird, weil nicht viel passiert.

Schönen Gruß!
Kellerkind


Danke für die Kritik. Welche Abschnitte sind deiner Meinung besonders langweilig?

Die Traumsequenzen sind bewusst detailiert aber die Tagträume und Gedanken des Erzählers kann ich einfach kürzen.

Hallo @Tobias Süess

... Inhaltlich habe ich nach einigem Lesen immer noch nicht verstanden, worum es eigentlich geht.


Es geht darum, dass der Erzähler nicht glücklich ist mit seinem Leben und wie eine Freundschaft zu Ende geht.


Hallo @Tobias Süess

... Wenn der gelungen ist, finden sich vll auch Leser, die längere Texte von dir lesen wollen. Oder aber du stellst den Text unter Romane ein und schreibst vorher ein Exposé dazu.

Danke für den Tipp

 

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