Ingos Bärchen
Als ich neulich mal wieder an allem schrieb, außer an meinem Schein, den ich vermutlich sowieso nicht mehr angerechnet bekomme, weil der Professor letzten Monat gestorben ist, genau in dem Augenblick platzte Ingo mit einem kleinen rosa Stoffteddy in der Hand bei mir ins Zimmer und verkündete, dass er soeben mit seiner aktuellen und ersten Freundin Patrizia ein ernstes Gespräch geführt hat. Oh Gott, sie will hier einziehen dachte ich.
Patrizia ist seit sechs Monaten praktisch jeden Tag hier. Wenn Patrizia da ist, dann bin ich weg. Ingo nennt sie Patti. In meiner Welt heißt sie Pattex.
Keiner weiß, dass sie der eigentliche Grund dafür ist, warum mein Zimmer wie eine Müllhalde aussieht. Ich habe den Weg von meiner Tür systematisch mit alten und zerbrechlichen Elektronikteilchen, Reißzwecken und einer Packung Rasierklingen ausgelegt, damit Patrizias Füße die Schritte in mein Zimmer verweigern. Ich habe mir geheime Inseln hineingebastelt. Eine davon ist der leeren Mülleimer, dann kommt der alte Sockenberg und dann liegt da noch ein IKEA-Kunstdruck von Klimts „Danae“, auf den außer mir sonst kaum jemand zu treten wagt.
Alles umsonst. Wenn Patti spitzkriegt, dass ich in meinem Zimmer bin und Ingo gerade unter der Dusche oder einkaufen ist, dann drückt sie einfach meine Tür auf, schiebt den Schrott zur Seite, findet auf Zehenspitzen irgendwelche Zwischenräume, setzt sich in ihrem Schlabberschlafanzug neben mich an meinen Computer und öffnet die Schleuse ihres Mundes. Wirklich ein schöner Mund, zugegeben, aber eben vor allem dann, wenn er nicht spricht.
Dann erzählt sie mir, dass es so super mit Ingo läuft, wie es ihrer kranken Mutter geht, dass es echt so super mit Ingo läuft, was für ein netter und intelligenter Typ ich doch bin, mit dem man sich so toll unterhalten kann und der gar nicht wie die anderen Männer ist und dass es auch so total superklasse mit Ingo läuft.
Und ich spüre, wie mir das Lösungsmittel aus Pattex’ Mund in die Nase und Ohren steigt, hinauf in meinen Schädel, um dort mein nützliches und Patti und auch mir so wertgeschätztes Hirn zersetzt, bis es mir als ein Speichelfaden aus meinem erstarrten Mundwinkel wieder hinaus fließt. Dabei nicke ich und lächele ihr zu, denn ich bin ein aufmerksamer Zuhörer. Wenn Ingo im nächsten Monat nicht mit ihr Schluss macht, dann tu ich es.
Glücklicherweise hat Ingo mir schon öfter erzählt, dass sie ihm manchmal zu sehr auf die Pelle rückt. Aber immerhin hat er jetzt Sex, sagt er, und das ist doch auch was wert.
Aber wo war ich? Genau. Da kommt auf jeden Fall Ingo mit diesem Teddy in mein Zimmer und erzählt mir, dass er mit Patti geredet hat und sie gemeinschaftlich beschlossen haben, dass sie ihre Beziehung in Zukunft etwas lockerer sehen wollen und sich vielleicht nicht mehr jeden Tag treffen müssen. Das Wochenende reicht doch vielleicht auch. Also immer jedes zweite, quasi. Oder nach Absprache.
Keine Ahnung, wie er ihr das erklärt hat und es ist mir auch egal. Der Korken der Schampusflasche, die ich innerlich öffnete, knallte so laut, dass auch Ingo hätte ihn gehört haben musste. Zur Ablenkung nickte ich ernst und verständnisvoll und fragte ihn, was er jetzt vor hätte.
Ingo hielt den rosa Stoffteddy hoch, sprang elegant in die Luft und landete mit einem Bein im Mülleimer. Dann wechselte er auf den Sockenberg, hüpfte auf den Goldstrom zwischen Danaes Beinen und landete neben dem Schreibtisch.
"Ich will jetzt endlich die Sau rauslassen“, antwortete er. „Ich will endlich auch mal mit anderen Frauen Spaß haben."
Ich bezweifelte, dass dies ein Bestandteil der Vereinbarung mit Patti sei und fragte ihn danach. Ingo fixierte den Teddy in seiner Hand, nickte kurz und sagte:
"Mhm. Ich glaub schon. Na klar! -- Guck mal. Ist das nicht irre."
Er hielt mir den Stoffbären vor mein Gesicht, drückte ihm auf den Bauch und dieser quäkte zu meiner Verwunderung: "Ich bin Roger. Hab mich lieb."
Außer einem Och-Gott-Ja-Niedlich, fiel mir nichts dazu ein.
"Super, ne?" Ingo war plötzlich nicht mehr zu bremsen. "Das ist die Zukunft, man. Ich sag dir, da fahren die Mädels voll drauf ab. Heute Abend auf der Party werde ich das Ding gleich mal ausprobieren. Also wenn ich damit keine Frau rumkriege, dann weiß ich auch nicht. Und das Beste ist, halt dich fest..."
Ich verkrallte mich demonstrativ in meiner Schreibtischplatte.
"Das Beste ist, die kosten nur drei Euro pro Stück. Ich werde mir vor der Party noch einen zweiten holen. Damit bin ich unschlagbar."
Der Teddy in seiner Hand blickte mich stumm aus albinoroten Knopfaugen an. Er ahnte ganz offensichtlich nicht, welche große Aufgabe Ingo ihm zugedacht hatte.
***
Als ich am nächsten Morgen gerade meinen zweiten Kaffee kochte, patschte Ingo pfeifend zu mir in die Küche, legte seine Hand auf meine Schulter, strahlte mich an und forderte mich auf:
"Rate mal, wer gestern mit einer Frau rumgeknutscht hat."
So gelangweilt wie möglich schäumte ich weiter meine Milch auf.
"Der Ingo. Genau.“ Er riss die Arme in die Luft. Dann knickte er die Handgelenke ab, streckte die Zeigefinger aus und richtete sie auf seinen Kopf. „Und rate mal, wer sogar mit zwei Frauen rumgeknutscht hat, obwohl er nur ein einziges Hab-Mich-Lieb-Bärchen dabei hatte!"
Wow, sagte ich. Dann hat Dich der Spaß pro Frau ja bloß eins fünfzig gekostet. Am Hans-Albers-Platz bekommst Du dafür nicht mal einen Tritt ins Gesicht.
"Genau. Diese Dinger sind echt Gold wert. Das nächste Mal stopfe ich mir alle Taschen damit voll und dann wirst Du schon sehen."
Die Visualisierungsabteilung in meinem Gehirn weigerte sich zu Gunsten der Ernsthaftigkeit, diese Szene auf die Leinwand unter meiner Schädeldecke zu projizieren.
"Und das ist erst der Anfang. Ich könnte eine riesen Teddyparty geben. An den Wänden, auf dem Boden, in meinem Bett. Überall Teddys. Am Besten, ich bestelle gleich aus Taiwan einen ganzen Container. Dann kosten die nur noch..." er starrte auf den Boden, und rechnete schnell irgendwelche Fantasiezahlen zusammen "...fünfzig Cent das Stück. Vermutlich sogar nur dreiundvierzig. Dreiundvierzig, vierundvierzig ungefähr. Rechne das mal um!"
Er verschwand wieder in seinem Zimmer und von dort erklang für den Rest des Tages in regelmäßigen Abständen: "Ich bin Roger. Hab mich lieb."
In der folgenden Nacht träumte ich von zahllosen Teddybären in allen Farben und Größen. Sie trafen sich in einem altherrschaftlichen Haus mit Fackeln am Rand des weißen Kiesweges, wälzten sich in Pärchen und Gruppen umeinander, zeigten sich gegenseitig ihre Bären, hüpften und ritten aufeinander rum und begafften sich gegenseitig bei ihren sodomistischen Eskapaden. Dabei brummten und quäkten sie mechanisch in verschiedenen Tonhöhen.
Und sie trugen High-Heels und Strapse, Masken und Mänteln. Manche steckten in knalligen Skianzügen, ich glaube, einer trug einen schlabberigen Schlafanzug und teilweise waren sie sogar vollständig nackt.
***
Ein paar Tage später saß dann Pyjama-Patrizia wieder neben mir, diesmal in Tränen aufgelöst, und fragte mich um Rat. Ingo hatte ihr von seinem neuen Lebensstil erzählt und jetzt war sie völlig vor den süßen Kopf gestoßen. Ich nahm sie tröstend in den Arm, streichelte ihren Rücken und stellte dabei verwundert fest dass sie unter der Retro-Nachtklamotte nichts als ihre Haut trug, die ich jetzt durch den dünnen Stoff glatt und deutlich spüren konnte.
Ich erklärte ihr, dass sie das Ganze doch auch positiv sehen könne, weil sie doch bestimmt auch zwischendurch mal Lust hätte, mit anderen Männern zu flirten, oder etwa nicht? Aber sie befreite sich aus meiner Umarmung, zog die Nase hoch und erklärte mir freundlich, dass sie nun mal mit Ingo zusammen sei. Danach habe ich sie zwei Wochen nicht mehr gesehen. Hätte mich ja eigentlich freuen müssen.
In diesen zwei Wochen feilte und schraubte Ingo an seinen Verführungskünsten. Nachdem die Teddys alleine dann doch nicht den gewünschten Erfolg gebracht hatten, stellte er die Theorie auf, dass der Schlüssel zur Schatzkiste der Frau in der Auswahl der richtigen Sonnenbrille liege.
Als er dann mal wieder alleine nach Hause kam, verkündete er, dass die Teddys in Kombination mit Sonnenbrillen noch deutlich besser funktionierten, denn er schaffte es damit auf dem Kietz sogar mit drei Frauen zu knutschen.
„Man muss dran bleiben“, erklärte er mir eines Tages beim Abspülen. „Nur nicht aufgeben. Ich werde die Brille finden, die optimal zu den Teddys passt. Vielleicht ist es auch nur die Art zu tanzen, oder wie ich den Finger in die Luft strecke. Guck mal. Was hältst Du davon.“
Wenn meine Hände nicht voll Schaum gewesen wären, ich hätte geklatscht. Und wenn man sich tatsächlich mit Teddys Sex kaufen kann, dann eröffnet das plötzlich ganz neue Marketingmöglichkeiten für die Stofftierindustrie:
Ist Dein Schwanz mehr wie ein Schweif?
Kauf Dir ein Teddy der Firma steif!
***
Als ich neulich aus der Bibliothek nach Hause kam hörte ich in Ingos Zimmer eine Frauenstimme. Ich dachte schon, er hätte es endlich geschafft, aber dann erkannte ich das Pattis Lösungsmitteltimbre. Ingo unterbrach sie immer wieder.
„Was denn? Woher denn? Das kann doch wohl nicht sein!“
Seine Tür flog auf, Patti zog im Flur an mir vorbei und verschwand aus der Wohnung. Gefolgt von Ingo mit einem Teddy unter dem Arm und zwei Sonnenbrillen auf der Nase.
„Ich hab dich lieb!“, rief er ihr ins Treppenhaus hinterher. „Ich bin doch dein Ingo.“
Er drehte sich zu mir um, zog die Schultern hoch und hielt mir klagend seine Handflächen entgegen.
„Du bist Zeuge. Ich hab dich lieb. Ich habe es ihr gesagt. Persönlich! Scheiße.“
Ich fragte ihn, was passiert sei und er erklärte mir, dass Patti wohl einen anderen Typen kennen gelernt, sich verliebt und jetzt wohl so was wie Schluss gemacht hätte.
„Aber die kommt schon wieder“, beruhigte er sich selbst. „Und solange kann ich mich weiter austoben. Meine Freiheit genießen und so.“
Auf jeden Fall ist Pattex jetzt weg, Ingos Teddywahn ungebremst und ich habe für das Chaos in meinem Zimmer keine Ausrede mehr. Aber sicherheitshalber lasse ich es mal so. Vielleicht kommt Patrizia ja wieder.
Gestern bin ich aus Versehen neben den Klimt gesprungen und auf einem T-Shirt gelandet. Darunter war etwas Weiches.
„Ich bin Roger. Hab mich lieb“, hat es gesagt.