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- 04.08.2001
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Innen und außen
Ich platzierte Grafton so in dem Zimmer, dass ich sein abschätziges Grinsen direkt vor mir hatte. Er saß vollkommen entspannt und blickte mich direkt an. Das war insofern ungewöhnlich, als dass die meisten aufgeregt sind und kaum still sitzen können.
Zwei Sessel standen im Raum, an gegenüberliegenden Wänden, knapp zehn Schritte voneinander entfernt. Gerade ausreichend, den Anderen halbwegs beobachten zu können, aber genügend Platz dazwischen für die Manifestationen. Sonst war das Zimmer leer, sah man von der jämmerlichen Lampe ab, die mühevoll von der Mitte aus versuchte, das Zimmer zu erleuchten.
Grafton schaute mich herausfordernd an. Er war ein Ungläubiger, das konnte ich auf den ersten Blick erkennen. Ein Ungläubiger, der meinte, über den Dingen zu stehen und die Dinge im Griff zu haben.
„Sitzen Sie bequem“, sagte ich leise und obwohl es eine Aufforderung war, bewegte er sich nicht, sondern schaute mich nur unverwandt an.
„Machen Sie schon, Limetté!“, knurrte er nur. „Fangen Sie an mit Ihrem Budenzauber!“
Und wieder fragte ich mich, warum dieser Mann sich zu mir in das Zimmer setzte. Was hatte er für Beweggründe, wenn er gar nicht daran glaubte? Und ich kam wieder zu dem Schluss, dass es reine Dekadenz sein musste, die ihn dazu bewog.
„Das bin nicht ich, der beginnt“, antwortete ich ihm. „Es ist das Zimmer, Mister Grafton.“
Seine Augen verengten sich; er überlegte. Er war gut gekleidet, sauber und von den besten Schneidern. Man sah ihm seinen Reichtum an und bereitwillig zeigte er ihn.
„Was ist denn das jetzt wieder für eine Scheiße?“ Kurz bewegte er sich, allerdings nur, um sofort wieder einzufrieren. „Davon war nie die Rede! Das Zimmer, Herrgott! Das ist ja nicht zu fassen!“
„Wir können immer noch abbrechen, Mister Grafton. Noch ist Gelegenheit dazu.“
Er winkte mürrisch ab. „Ach, machen Sie, fangen Sie schon an! Schließlich habe ich einen Haufen bezahlt dafür!“
Das Haus stand weit ab außerhalb jeder menschlichen Siedlung; es schien, als ob es gemieden wurde. Im gotischen Stil erbaut, mit allerlei Zinnen, Türmchen und Erkern versehen, machte es selbst den Eindruck, als schere es sich einen Dreck darum. Es war einer anderen Meinung, es war stolz darauf und es kultivierte diesen Stolz.
Umfangen war es von weitläufigem Wald, dessen Bäume teilweise älter waren als das Gemäuer. Ein schmaler Pfad führte hindurch, direkt auf das Haus zu, als einziger Zugang zur Außenwelt.
Im Jahre 1681 war der Grundstein zu dem Bau gelegt worden, der sich vier Jahre hinzog und von einem gewissen Willibald Cramer in Auftrag gegeben worden war. Cramer war 82 Jahre alt bei Baubeginn und als das Haus fertiggestellt war, hatte er keine zwei Jahre mehr, um darin zu leben.
Deshalb ging man allgemein davon aus, dass er den Bau für seinen Sohn angelegt hatte – Victor Cramer – der bei Einzug ebenfalls die 60 schon überschritten hatte. Bemerkenswert war das Alter, in dem er starb. Die Chroniken berichten, dass Victor Cramer im Jahre 1747 das Zeitliche segnete. Offensichtlich hatte das Leben in dem Haus ihm sehr gut getan, dass er das stolze Alter von 122 Jahren erreichen konnte.
Victor Cramer war in jeder Hinsicht ein bemerkenswerter Mann; bemerkenswert, was seine Rüstigkeit betraf, auch bemerkenswert, was seine Passion und seinen Lebensinhalt anging. Seit dem Einzug in das Haus existieren Aufzeichnungen von ihm, die sich explizit und quasiwissenschaftlich mit der Alchemie befassen.
In so starkem Maße wie durch Victor Cramer wurde in dem Hause nie mehr die Königliche Kunst betrieben. Nie mehr, dass jemand Alembik, Retorte oder Serpentine zur Hand genommen, mit Lehm experimentiert und versucht hätte, den Homunkulus zu erschaffen.
Niemals, bis ich von dem Geheimnis des Zimmers erfuhr.
Das Tier wird nie wieder richtig laufen können, aber wenn Sie jetzt nichts tun, dann kann ich für gar nichts garantieren! Aber was soll ich tun? Ich hänge an dem Hund, er ist mein Ein und Alles. Ich habe keine Familie. Und nun dies, so ein dummer Unfall! Sagen Sie mir, was ich tun kann! Wir müssen operieren.
Verklebtes schmutziges Fell, Wasser, Eiter, Blut. Die Schnauze, im Gegensatz zum Rest des Körpers, trocken; er hechelt kurz.
Tun Sie’s, Doktor. Ich habe einen neuen Klienten, ich werde in Kürze an ausreichend Geld kommen. Wieder Ihre Zauberkunststücke? Operieren Sie das Tier, ich will dass er wieder laufen kann und noch lange lebt!
Die Champagner-Pyramide ist größer als ein ausgewachsener Mann, der dicke Renier steht auf einem Stuhl und kippt das Getränk ein. Schaum läuft über die Gläserränder, die Leute lachen, klatschen, zeigen auf ihn. Das ist ein Fest für sie. Sein Mund wird trocken, er sieht Renier zu, wie der sich abmüht, stolz ist mit roten Backen. Der dumme Renier. Dann sieht er sie hinter der Gläserwand; doch trotzdem ihre Konturen nur verschwommen zu erkennen sind, weiß er genau, dass dieser Moment immer der Augenblick bleiben wird, in dem er sie das erste Mal sah. Das erste Mal, und sie lächelte.
Er sieht, wie seine Hand über Ritas Brüste fährt, die vollen weißen Brüste von Reniers Frau. Edith legt ihre Hände auf Ritas Bauch und schlängelt sich weiter hinab, Rita stöhnt auf, öffnet ihre Augen und schaut ihn erwartungsvoll an. Er hebt leicht ihren Kopf und gibt ihr einen Kuss. Dabei schließt er seine Augen, und ihr Bild erscheint vor ihm – ihr Bild, wie sie vor ihm liegt, nackt und verlangend. Die Augen halb geöffnet, der Mund nur wenig geschlossen. Er blickt hinab, Edith schaut ihn erwartungsvoll an, Rita lächelt spöttisch. Er steigt aus dem Bett und beachtet die Beiden nicht länger.
„Sind Sie bereit, Sir?“
Der Satz hat etwas Melodramatisches, ich weiß, aber ich kann mich nicht beherrschen. Fast immer beginne ich damit.
Die meisten Kunden antworten mit einem „Ja.“, nicht so Foster Grafton. Er nickte nur entnervt.
Jetzt herrschte Stille und ich hatte den Eindruck, dass Grafton ein wenig neugierig wurde. Er starrte mich an und als er bemerkte, dass ich ihn beobachtete, senkte er seinen Blick. Während ich darauf wartete, dass er ihn wieder hob, bemerkte ich, dass er eigentlich viel älter war, als er im ersten Eindruck wirkte. Eine tiefe Furche hatte sich zwischen den Augen verlaufend, an der Nase vorbei bis direkt über den rechten Mundwinkel eingegraben. Ich sah, dass er geschminkt war und höchstwahrscheinlich färbte er sich die Haare.
„Nun machen Sie schon!“ Er funkelte mich an.
„Ja“, konnte ich nur sagen. Ich schloss meine Augen.
„Können Sie mir garantieren, dass es funktioniert?“
Der junge Bengel hätte mein Sohn sein können, zumindest vom Alter her. Er hatte gelb-blondes Haar, das er lang und beinahe fraulich trug. Er war ausgesprochen hübsch und er wusste das auch. Sein Verhalten mir gegenüber – und ich vermute auch anderen – war einzig von der Tatsache geleitet, dass die Natur ihn mit gleichmäßigeren Gesichtszügen ausgestattet hatte, wie andere Menschen. Er war bevorzugt.
„Ich kann Ihnen gar nichts garantieren“, antwortete ich ärgerlich. „Ich würde lügen, wenn ich das täte. Ich bin kein Gebrauchtwarenhändler.“
Er strich sich eine Strähne aus dem Gesicht. „Was wird passieren?“, fragte er mich und ich verfluchte mich wieder einmal für meine Veranlagung.
„Ich weiß es nicht, niemand weiß es.“
„Aber was soll ich meinem Chef erklären? Worauf soll ich ihn vorbereiten?“
Ich wühlte in meinen Papieren und versuchte so, wenigstens ein wenig der lästigen Nervosität abzuschütteln.
„Nun“, stieß ich hervor. „Sagen Sie ihm, dass jede Menge Besucher begeistert davon sind, was sie in dem Zimmer erlebt haben. Sagen Sie ihm, dass viele Menschen gerne noch einmal hineingehen würden, jederzeit. Aber leider, leider…“ Ich breitete die Arme aus und fand so etwas von der Ruhe zurück. „Leider kann man nur einmal hinein gehen.“
„Aber bei Ihnen klappt es doch auch immer wieder.“
„Nicht jedes Mal.“
„Aber Sie können öfter hineingehen. Warum das, warum gerade Sie?“
Mit der schönen Ruhe war es schon wieder vorbei. „Ich weiß es nicht“, sagte ich. „Vielleicht, weil ich es entdeckt habe? Weil ich als Erster die Fähigkeiten des Zimmers erkannt habe. Und es hat sich mich ausgesucht und gibt mir immer wieder die Gnade.“ Ich merkte, wie kläglich das klang. „Ich weiß es wirklich nicht.“
Ich hatte ihn nicht überzeugt, das sah ich. Kein Wunder, ich hätte mich selbst nicht überzeugt.
„Aber irgendetwas wird doch passieren?“, fragte er noch einmal.
Und ich beruhigte ihn: „Irgendetwas passiert meistens.“
„Warum?“ Er sah mich unschuldig an.
„Bitte? Wie bitte?“
„Ich meine, haben Sie eine Erklärung dafür, was in dem Zimmer passiert?“
Ich hätte ihm gern eine umfassendere Antwort gegeben, auch mir selbst gegenüber.
„Nein.“ Dann setzte ich jedoch hinzu: „Ich kann nur vermuten. Vielleicht ist das Zimmer irgendeine Art lebender Organismus, der es fertigbringt, in uns einzudringen…“
„Aber es werden doch Dinge erschaffen in dem Zimmer, nicht wahr?“
Ich nickte stumm.
„Na also. Wo Dinge entstehen, da müssen vorher Dinge sein. Es erscheinen nicht Sachen mir nichts dir nichts ohne Grundlage. Es sei denn, dass Er es will…“ Er schaute vielsagen nach oben.
„Oh, wenn Sie sich nicht irren. Ich habe von einer Theorie gehört, die beschreibt, wie die Welt entstanden sein soll. Sie stammt von einem Geistlichen und da ist auch davon die Rede, dass etwas entsteht, wo vorher nichts war.“
„Ich habe auch schon von dieser Theorie gehört.“ Der Jüngling schien ehrlich interessiert. „Jeder kennt sie.“
Man sollte nicht meinen, wer sich alles für so etwas interessierte. Wenn an dieser Theorie auch nur ansatzweise etwas daran war, dann konnte man wohl damit auch die tollsten Sachen erklärbar machen. Auch die Geschehnisse in dem Zimmer, in meinem Zimmer.
Andererseits war ich mir nicht sicher, ob ich die Vorgänge überhaupt erklärt haben wollte.
„Also gut“, sagte er, nun wieder in geschäftsmäßigem Ton. „Sagen Sie mir einen Termin und einen Ort.“
Ich nannte es ihm.
„Der Preis steht fest?“
Ich nickte.
„Wie, wünschen Sie, dass ich zahle?“
Die Augen tiefliegend, dunkel und wissend, dass sie nur spöttisch schauen konnten.
„Wer sind Sie?“
„Mein Name würde Ihnen nichts sagen.“
„Nennen Sie ihn trotzdem!“
„Warum?“ Ein anzüglicher Augenaufschlag. „Sie wollen ja doch nur das Eine von mir.“
„Ja.“
Es war wie eine Befreiung, ein kleiner Höhepunkt: Ja, ich will Sie ficken!
Dann meinte er, sie lachen zu hören, tief und verächtlich. Aber das hatte er nur geträumt. In Wirklichkeit drehte sie sich um und ging einfach davon.
Es herrschte eine angenehme Ruhe. Durch die Lage des Hauses, ich vermute aber auch wegen des Zimmers selbst, war es absolut still. Absolut und vollständig, ohne Einschränkungen. Und als meine Ohren sich an diesen Zustand gewöhnt hatten, konnte ich leise meinen Herzschlag hören. Und noch etwas leiser den von Grafton.
Er machte diese betörende Atmosphäre mit „Was soll ich nun tun, verdammt?“ in dummer Bauernmanier zunichte.
Ich atmete bewusst zwei, dreimal. Dann lächelte ich ihn an und sagte: „Konzentrieren Sie sich auf gar nichts, machen Sie den Kopf leer, das Zimmer wird sich nehmen, was es braucht.“
„Hm.“ Er war noch immer nicht überzeugt, aber er hatte Angst.
„Aber achten Sie zuvor auf mich, ich werde Ihnen vorausgehen.“
Ich schloss wieder die Augen und konzentrierte mich auf den Herzschlag – auf seinen.
Irgendwann gab es nur meinen und seinen in diesem Raum. Ich versenkte mich noch tiefer und der Schlag meines Herzens wurde leiser. Er zog sich zurück.
Das Herz Graftons hörte sich krank an. Ich habe viele Herzen gehört in diesem Raum und dieses hier war verbraucht und abgearbeitet. Ich konnte mir beinahe denken, was auf seiner Seite erscheinen würde. Er war im Prinzip so durchschaubar.
Der Raum begann zu atmen, er zog sich zusammen und dehnte sich wieder aus. Ich hatte den Kopf gesenkt, aber ich spürte Graftons Blicke auf mir. Er erwartete eine Show, also sollte er sie bekommen.
Ein Geräusch – Grafton hatte gestöhnt. Ich hob den Kopf und sah, dass es schon begonnen hatte.
Aus meinen Händen, die auf den Knien lagen, aus meinen Füßen, aus meinem gesamten Körper trat in feinen Fäden ein Dunst aus, ein Nebel, der sich leise und mühelos von mir fortbewegte. Etwa vier Meter vor mir – in der Mitte des Zimmers – vereinigten sich diese Arme zu einem einzigen starken Strang. Der Dunst leuchtete etwas und schien im Ganzen geisterhaft.
„Oh Gott, was ist das?“, keuchte er.
„Ektoplasma“, stieß ich hervor und versuchte, mich nicht ablenken zu lassen. Das Zimmer musste die Vorherrschaft behalten.
Ich streckte die Arme aus und hob sie leicht, so dass das Ektoplasma aus meinen Fingerspitzen austreten konnte. Das brachte wohl überhaupt keinen Vorteil, sah aber gut aus und machte auf jeden meiner Besucher Eindruck.
Ich spürte sehr genau, wie Grafton mich beobachtete und ließ weiterhin den Dingen ihren Lauf. Ich dachte an nichts.
Die leicht schimmernde Masse in der Mitte des Zimmers nahm Formen an. Es vereinigten sich die schmalen Stränge und wurden zu einer wabernden, schwebenden Kugel, deren äußere Grenzen fließend waren. Von Kindskopfgröße wuchs sie schnell immer weiter und plötzlich löste sie sich von meinen Fingern und wurde damit zu einem eigenständigen, autarken Gebilde.
Was natürlich nicht richtig war, denn der Raum hier hatte die vollständige Kontrolle darüber.
Die Kugel waberte, Ausbuchtungen wurden deutlich; sie schienen wie Eruptionen einer kleinen Sonne. Das war ganz normal, soweit man hier von Normalität sprechen konnte.
Ein Gesicht bildete sich heraus.
Und ebnete sich sofort wieder ein.
Stacheln wurden sichtbar.
Verschwanden auf der Stelle.
Tentakel wuchsen, waren Hände, die sich bildeten. Gliedmaßen, die blind nach uns griffen.
Dann formte sich langsam ein Leib. Quälend zögernd wurde er zu dem, als das ihn das Zimmer bestimmt hatte.
Ein Körper, ein Kopf, vier Gliedmaßen, in gleichmäßigem Abstand.
Dies war der Moment, der spannend war, Überraschung, ein Rätsel.
Atemlos beobachtete ich, was sich da formte, gebildet von reiner Willenskraft, aus der brodelnden Suppe des Unterbewussten.
Es war ein Tier, das ich sah.
Ein Hund!
Ein verletztes Tier, das im Sterben lag.
Mit einem Schrei sprang ich auf.
Grafton zuckte zusammen, als die Erscheinung verschwand – in sich zusammenfiel, als sei sie abgeschaltet worden.
Ich sank zurück auf meinen Stuhl und versuchte zu mir zu kommen.
Schwer atmend sagte ich: „Sie. Jetzt sind Sie dran, Grafton.“
„Es ist unheimlich, wie es dort allein steht, mitten im Wald. Es ist so einsam gelegen und steht so drohend da, mir läuft jedes Mal ein Schauer über den Rücken, wenn ich an dem Weg hier vorbeikomme.“
„Geht mir nicht anders. Ich habe den Besitzer mal gesehen, wie er durch den Wald ging.“
„Kenn ich gar nicht.“
„Seltsamer Mensch, glauben Sie mir. Hatte einen langen, schwarzen Mantel an und war vollkommen bleich. Wie eine Wachspuppe. Richtig unheimlich. Er ging mit langen Schritten und plötzlich hielt er inne und wandte sich zu mir um. Dann starrte er mich an mit seinen finsteren Augen. Und nach ein, zwei Momenten drehte er sich wieder um und ging weiter in den Wald hinein. Gespenstisch! Um seine Beine herum sprang ein Hund, als wäre er toll.“
„Womit verdient er sein Geld?“
„Ich weiß nicht. Man spricht von Zauberkunststücken, die er vorführt. Er wird eine Art Magier sein.“
„Was ist das, ein Wagen, nicht wahr? Ein Automobil kommt aus dem Wald heraus. Was ist das nur für ein Fahrzeug? So etwas habe ich noch nie gesehen.“
„Das ist ein Leichenwagen, mein Lieber. Da muss wohl jemand gestorben sein, in dem Haus.“
„Oh, das ist ja…Wer mag dort das Zeitliche gesegnet haben? Schauen Sie nur, wie vorsichtig er fährt.“
„Eigentlich habe ich es immer gewusst, dass es mit dem Haus kein gutes Ende nehmen würde.“
Es herrschte Stille und Spannung im Zimmer. Grafton sah mich mit geweiteten Augen an, jede Überheblichkeit war verschwunden.
„Sie wollten eine vollkommen neue Erfahrung, Mister Grafton“, sagte ich. „Jetzt haben Sie Gelegenheit dazu.“
Er schaute mich immer noch unverwandt an, doch der Blick galt nicht mir. Er überlegte, seine Kiefer mahlten und ich konnte die Gedanken hinter seiner Stirn durcheinander fallen hören.
„Was muss ich tun?“, fragte er plötzlich und setzte sich kerzengerade auf. Ich musste lächeln.
„Seien Sie ganz entspannt in Ihrem Sessel“, sagte ich noch einmal. „Schließen Sie die Augen und denken Sie an gar nichts.“
Er tat es. Er lehnte sich nach hinten und schloss seine Augen, doch er war verkrampft, das konnte ich deutlich erkennen.
Ich gab ihm Zeit, sich zu beruhigen. Langsam wurde sein Atem gleichmäßiger.
Eben wollte ich noch einmal beruhigend auf ihn einreden, als ich aus seinen Händen Ektoplasma austreten sah. Zögernd, als fürchte es sich, schwebte es in zwei dünnen Fäden auf die Zimmermitte zu.
Grafton hatte davon noch nichts bemerkt; entspannt saß er immer noch da und es hatte den Eindruck, als schliefe er.
Die Fäden wurden stärker, kräftiger, Darüberhinaus wurden es schnell mehr Stränge. Aus den Knien, aus den Füßen, selbst aus der Stelle, an der sein Geschlecht sitzen musste, waberte ein phosphoreszierender Streifen heraus und strebte auf den Mittelpunkt des Zimmers.
Grafton schrie auf. Er hatte entdeckt, was mit ihm geschah.
„Ruhig“, flüsterte ich. „Es besteht keine Gefahr. Im Gegenteil, es ist ein Wunder.“
Wir bestaunten beide, was aus dem Ektoplasma wurde.
Ebenso wie vorher bei mir, vereinigte sich die schillernde Masse zwischen uns zu einem unförmigen Stoff. Eine Kugel schwebte über dem Boden und wurde zusehends größer.
Doch anders als zuvor, formte sich daraus kein am Boden liegendes Tier.
Es modellierte aus dem Stoff, der aus Graftons Körper stammte, eine große Gestalt, einen Menschen. Ich sah mit einigem Unbehagen, dass vor uns ein unfertiger Mensch stand, der sich ständig veränderte.
Ebenso hier wieder die Ausbuchtungen, Tentakel, Krater und Hügel, die kamen und verschwanden und wieder erschienen. Pulsierendes Leben, das vor unseren Augen geboren wurde.
Zwei Beine bildeten sich, ein unsichtbarer Bildhauer schien überflüssiges Gewebe abzuschälen, so dass Arme entstanden, der Kopf, an dem Einzelheiten hervortraten, Nase, Mund, die Ohren.
Und endlich wurde deutlich, dass es sich um eine Frau handelte, die vor uns stand – eine nackte Frau.
Grafton schien sie zu kennen, denn er stieß einen Laut des Erstaunens aus. Mit einem leisen Ton wurde die Verbindung zu ihm getrennt und nun stand die Frau – bloß und stolz – mit aufreizendem Blick allein im Zimmer. Grafton keuchte.
Anmutig stand sie zwischen uns, doch beachtete sie mich mit keinem Blick. Ich konnte ihren ebenen Rücken sehen, die langen Beine und den Hintern. Sie schaute Grafton an. Und Grafton schaute zu ihr auf.
Langsam, mit sicheren Schritten ging sie auf ihn zu. Sie beugte sich zu ihm herab und ich konnte ihre vollen Brüste sehen. Als sie in die Hocke ging, striffen sie über Graftons Knie und rollten beiseite.
Grafton saß starr in seinem Stuhl, die Augen geweitet, sah er abwechselnd auf mich und auf die unbekannte Schöne herab. Allerdings wehrte er sich auch nicht gegen sie.
Sie kniete nun vor ihm und ihre Hände fuhren langsam über seine Brust, strichen vorsichtig darüber und begannen, die Knöpfe des Hemdes unter seinem Jackett zu öffnen.
Er stöhnte auf und spätestens hier hätte ich wissen müssen, worauf es hinauslaufen würde.
Sie zog ihn aus! Streifte ihm das Jackett von den Schultern, öffnete das Hemd und begann, es ihm ebenso auszuziehen. Und Grafton, der bekannte Partylöwe, der berüchtigte, herumgekommene, arrogante Foster Grafton ließ das mit sich geschehen, er wehrte sich nicht!
Das Zimmer wusste genau, was es tat.
Er saß mit bloßem Oberkörper da und zitterte vor Erregung. Als sich die Beiden küssten, bemerkte ich, wie die Frau ihre Augen öffnete und mir einen Blick zuwarf.
Ich schaute auf den Boden.
Sie lösten sich voneinander und die Schöne rutschte wieder hinab und begann, an Graftons Hose zu zupfen. Im Nu hatte sie seinen erigierten Penis befreit und begann ganz langsam, ihren Mund darüber zu stülpen. Dabei blickte sie ihn an und genoss es offensichtlich, Graftons süße Leiden zu sehen. Er stöhnte noch einmal auf.
Ich riss mich los von dem Anblick, von der nackten Frau, die der Fantasie eines reichen Lüstlings entstammte. Von Grafton, der bar jeden Sinnes für die Umwelt sein Geschlecht in die Höhe reckte. Ich schaute mit Macht in eine andere Richtung und begriff, dass auch meine Lust entfacht war.
Plötzlich eine unerhörte Bewegung. Grafton hatte die Frau gepackt und vor sich auf den Boden geworfen. Wie von Sinnen (was er ja auch war) stürzte er sich auf sie und konnte sicher sein, dass er mit keiner Gegenwehr rechnen musste.
Ich hätte einschreiten müssen und dem Ganzen ein Ende bereiten. Doch ich tat es nicht, ich unterband das Ganze nicht. Mit offenem Mund und geiferndem Blick verfolgte ich jetzt wieder das unwürdige Geschehen.
Grafton drang in sie ein; ich hätte schreien können! Er kopulierte vor mir mit einem Geist! Die Frau spreizte ihre Beine und hieß ihn auf diese Weise willkommen. Er wiederum stieß immer kräftiger zu, sein behaarter Hintern hob und senkte sich in Zuckungen, bis er plötzlich stehenblieb, an tiefster Stelle verharrte. Grafton brüllte, die Unbekannte schaute mich triumphierend an.
Langsam rollte der erschlaffte Körper zur Seite, bis er auf dem Rücken legen blieb. Sein Brustkorb bewegte sich schwer, sein Geschlecht war immer noch groß und glänzte. Er zuckte, als litte er unter Krämpfen. Ich erstarrte, bis ich bemerkte, dass er lachte.
Die Frau war aufgesprungen und es schien, als hätte sie nur auf diesen Zeitpunkt gewartet.
Ich hatte nicht gedacht, dass sie solange überleben würde, eigentlich hätte sie schon zerplatzt sein müssen.
Doch sie schlich auf allen vieren um den schweißglänzenden Körper Graftons herum, wie ein wildes Tier, ihre Nasenflügel bebten, als ziehe sie tief den Geruch seines Schweißes ein.
Irgendetwas passierte. Grafton lag immer noch da und lachte, die Unbekannte kroch um ihn herum und sog seinen Duft ein. Doch ihr Lächeln war verschwunden; ihr Gesicht war verzerrt und irgendwie asymmetrisch.
Sie hielt inne und beugte sich langsam zu ihm herab. Sie senkte ihre Lippen zu seinem Kopf und küsste ihn auf die Stirn. Sein Lachen erstarb, doch die Haut im Gesicht der Schönen geriet in Bewegung.
Eine unmögliche Verschiebung der Gesichtspartien begann. Ich konnte nicht genau erkennen, was geschah, denn die Frau beugte sich hinab und ihr Antlitz war halb verborgen.
Ihr Kinn schien länger zu werden, Proportionen verschoben sich. Dann begriff ich endlich, was passierte.
Sie musste irgendwie ihren Unterkiefer ausgehakt haben, denn der war es, der sich immer weiter abwärts schob. Ihr Mund wurde immer größer.
Noch etwas wurde mir klar. Sie hatte Grafton nicht geküsst, sie hatte ihn gebissen. Sie hatte ihren Oberkiefer in die Stirn gegraben und fuhr jetzt mit dem unteren Teil des Mundes hinab.
Die Beiden bildeten schon jetzt einen grotesken Anblick. Grafton lag auf dem Rücken und war starr vor Angst, und die Schöne beugte sich über ihn, hatte die oberen Zähne in seinen Kopf geschlagen und renkte den Unterkiefer immer weiter, weiter. Es hatte den Eindruck, als…
…wolle sie ihn verschlingen!
Knurrende, knackende Geräusche drangen aus der Frau, ihr Gesicht reichte beinahe über den gesamten Körper Graftons; und der lag da wie tot.
Sie begann zu schimmern. Da erst wurde mir klar, dass sie irreal, von einem Bewusstsein erschaffen war. Trotzdem war ich nicht in der Lage, mich zu bewegen.
Ihre Lippen schlossen sich um seinen Kopf, seinen Körper und um die Füße. Die Haut in ihrem Gesicht begann zu reißen, darunter trat Qualm hervor. Sie legte ihren Mund um den Körper des Mannes, wie sie es vorher mit seinem Glied getan hatte und nahm ihn auf, umschloss ihn und plötzlich, mit einem mörderischen Knirschen, machte sie eine ruckartige Bewegung und Grafton war verschwunden. Dieses Monster hatte ihn verschluckt.
Die Frau saß vor mir auf den Knien und ich konnte die Umrisse des Mannes in ihrem Leib erkennen. Er wurde hin- und hergeschoben, er wurde durchgewalkt. Mit Entsetzen erkannte ich, dass sie ihn verdaute.
Endlich erwachte ich aus meiner Erstarrung. Ich sprang auf und wollte hinüberlaufen.
Doch mit einem grellen Lichtblitz, mit mörderischem Krachen und einem langgezogenen Schrei der Frau endete das Grauen.
Urplötzlich entmaterialisierte sich das Ektoplasma, die Frau verschwand und Grafton wurde befreit und zurück auf den Boden geschleudert.
Dann trat Stille ein.
Foster Grafton lag nackt und mit geschrumpeltem Geschlecht auf dem Rücken. Als ich vorsichtig zu ihm trat und meine Finger an seinen Hals legte, erfasste ich, dass er tot war.
In der Mitte des Raumes, neben der Leiche, glitzerte eine kleine, schleimige Pfütze.