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Intergalaktische Weihnachten
Ich war noch ein Kind, als die Neuronen des Stellarplexus meinen Planeten erreichten, einen der ersten in unserer Galaxie. Vorher waren wir berühmt für unsere Abgeschiedenheit, ein Ort so reizvoll wie Oh Tannenbaum in Endlosschleife. Niemand wollte hier sein, am sprichwörtlichen Arsch der Galaxie, nicht einmal tot an einen Zaunpfahl genagelt. Aber durch den Anschluss an den Stellarplexus waren wir plötzlich mittendrin statt am Arsch, verbunden mit all den schillernden Welten der Milchstraße.
Anfangs fragten wir uns, welche Veränderungen diese neue, überlichtschnelle Kommunikation uns bringen würde. Es dauerte nicht lange, da bekamen wir die Antwort in Form einer intergalaktischen Weihnachtsoffensive. Bald schon ist es so weit, die total verrückte Weihnachtszeit, dröhnte es aus den Holokabinetts, jemand hatte offenbar die Lautstärke auf 'intergalaktisch' gestellt. Himmlische Heere, jauchzen dir Ehre, oh irdische heilige Nacht, schallte es allerorten, als marschierte eine Armee von Blaskapellen über Glizion hinweg, angeführt von einem General, der statt eines Säbels einen Taktstock schwingt. Und dann die Tiere! Vierbeiner mit riesigen Geweihen galoppierten Schlitten ziehend über unseren Himmel hinweg als wären sie auf der Flucht. Ganz offensichtlich war etwas Großes im Gange, etwas Verrücktes, möglicherweise sogar etwas Gefährliches. Als Kind hatte ich aber keine Angst, sondern fand alles ungeheuer spannend. Ich wollte unbedingt wissen, was es mit dieser heiligen Nacht auf sich hatte: den dreieckigen Bäumen, den schlittenziehenden Tieren, diesem sonderbar fröhlichen Menschen mit üppigem Bart, der über und über in Rot gekleidet war. Wie sich herausstellte, ging es nicht nur um eine Nacht und still war es auch nicht, obwohl eines ihrer Lieder genau das vermuten ließ. Nein, dieses Spektakel war laut und grell und dehnte sich über eine ganze irdische Woche aus. Hohoho.
An dem Tag, an dem das Spektakel endlich losging, hockten wir alle im Holokabinett. Als ältester Spross der Familie hatte ich die Ehre, die Übertragung zu starten. Mit einem Glockenklang materialisierte sich eine Gestalt im Raum - derselbe pausbäckige Mensch im roten Gewand, den wir schon aus den Vorankündigungen kannten.
“Willkommen, willkommen, liebe Zuschaurys”, trällerte die Stimme, als hätte sie zu viele dieser Frohsinn-Weihnachtsplätzchen genascht, die überall angeboten wurden. “Zum allerersten Mal begrüßen wir auch den Planeten Glizion beim irdischen Weihnachtsfest, der schillernsten Show im ganzen Universum.“ Dann fügte sie mit ruhiger, sonorer Stimme hinzu: “Wie jedes Jahr präsentiert von den Vereinten Irdischen Nationen und der irdischen Kooperative privatwirtschaftlicher Unternehmer, Wohltäter allesamt, die keine Kosten und Mühen gescheut haben”, an dieser Stelle kam ein Glitzern aus den Augen der KI, “euch den weihnachtlichen Funken - schneller als das Licht erlaubt und fast so schnell wie unsere Produktplatzierungen - direkt in eure Ho-Ho-Holokabinetts zu schicken.” Die roten Pausbacken glühten glücklich. Die Gesichter meiner Eltern waren da schwerer zu deuten. Ich würde sagen, sie schwankten zwischen Faszination, Verwirrung und Fremdscham. Meine Schwester Lix verdrehte die Augen, während Lex auf die Figur starrte und Lax, unser jüngstes Küken, sich in Erwartung des Funken ängstlich umschaute.
Ich war damals völlig überwältigt von der schier endlosen Auswahl an Aktivitäten, die uns die KI präsentierte – heute weiß ich, dass es eigentlich jedes Jahr dieselben sind. Auf der Erde wird eben auch nur mit Wasser gekocht. Es gab eine Parade mit geschmückten Raumschiffen – es war wie eine kosmische Modenschau, bei der Raumschiffe als Rentiere oder Weihnachtsbäume verkleidet im irdischen Orbit kreisten und riesige Firmenlogos hinter sich herzogen. Auf den eigens dafür errichteten Tribünen saßen wir. Man darf nicht vergessen, es war unser erstes Weihnachten.
Ich wollte damals unbedingt in die Schneearena. Eine Schneeballschlacht unter einem mit leuchtenden Weihnachtsbäumen behangenen Sternenhimmel klang wie eine Szene aus einem Traum, den ich unbedingt träumen wollte. Doch die Wirklichkeit war nass und kalt und der Schnee eine Enttäuschung auf ganzer Linie. Außerdem wärmte der Santa-Klausy-Anzug, den alle vom Inka-Modelabel zu der Schneeballschlacht geschenkt bekamen, nicht mehr als mein Pyjama von zu Hause es getan hätte.
Auf einer Schlittenfahrt führte Santa uns durch die Zeiten, um den wahren Geist von Weihnachten zu entdecken – ein Abenteuer aus sorgfältig inszenierten Szenen aus vergangenen Jahrhunderten, durch die wir hindurchrasten, als wären wir beim Weltraumschlittenrennen, das es auch jedes Jahr aufs Neue ins Programm schafft. Eine Woche will gefüllt werden. Es gibt Konzerte, Lichtshows, Weihnachtsmärkte und kulturelle Austauschprogramme. Und natürlich das Nachbauen der eigenen Behausung mit Lebkuchen – eine Herausforderung, bei der es weniger um architektonische Genauigkeit geht, als vielmehr darum, sich möglichst schnell durch den Baustoff zu futtern. Ich glaube, die Menschen wollen uns alle in kleine, rundliche Santa-Klausy-Doppelgänger verwandeln.
Jedes Jahr wird nun – Stellarplexus und der Erde sei Dank – der Geist von Weihnachten auch auf Glizion heraufbeschworen, seine Funken und Wunder breiten sich im Universum schneller aus als das Licht der Sterne. Unser erster Weihnachtstag auf Glizion war ein Rausch aus Licht und Zucker und Geklingel. Wir hatten die Modeparade der Raumschiffe bestaunt, uns im Schnee fast die Zehen abgefroren und waren mit Santa Klausy durch die Zeiten getingelt – Geister gab's keine, aber dafür jede Menge Glühwein.
Als wir uns nach diesem aufregenden Tag auf die Nacht einstellten, platzte die KI im roten Gewand mit einer Eilmeldung der Regierung ins Holokabinett – ungewöhnlich, denn normalerweise überbrachten solche Meldungen Glizioner in traditioneller Tracht.
“Achtung, Achtung, Glizioner!” Die KI trällerte fröhlicher als ein Sack Weihnachtsglocken. “Das irdische Weihnachtskomitee hat einen interplanetaren Weihnachtsbaumschmückwettbewerb ausgerufen. Bringt das Weihnachtsleuchten auch auf euren Planeten, heißt es dort. Schmückt eure Bäume, wie es seit altersher auf der Erde Tradition ist und gewinnt den Titel Hellster Weihnachtsstern der Galaxie mitsamt Pokal. Der Planet mit der größten absoluten Helligkeit, also der geringsten Magnitude, und der höchsten Anzahl an verwendeter Dekoration gewinnt.”
Mein Vater runzelte die Stirn. “Was ist eine Magnitude?”
“Egal”, sagte ich begeistert und klatschte in die Hände, “Hauptsache hell!“
"Glizioner, dies ist unser erstes Weihnachtsfest und …” die KI machte eine dramatische Pause, als ob sie gleich ein galaktisches Geheimnis lüften würde, “wir rufen jeden Einzelnen von euch auf: Helft mit, diesen Wettbewerb zu gewinnen! Begebt euch in die eigens dafür eingerichteten Depots, um Dekorationsartikel sowie Lichter abzuholen! Lasst uns der hellste Weihnachtsstern der Galaxie werden!”
An diesem Abend erlaubten unsere Eltern nicht, dass wir gleich mit dem Schmücken loslegten. Aber am nächsten Morgen waren wir schon früh auf den Beinen, bereit, das Depot zu stürmen. Lichterketten in allen Farben, Kugeln in allen Größen, die im Licht wunderbar funkeln würden, und Drohnen, kleine, flinke Dinger, die Lichter und Kugeln auch in die höchsten Baumkronen bringen würden, lagen bereit. Am Ende dieses zweiten Tages gab es erste Schwankungen in der Energieversorgung. Die Lichter in den Häusern flackerten wie verrückt, ein SOS der überforderten Energieversorgung, aber niemand schien sich darum zu kümmern. Ganz Glizion war im Rausch des Schmückens. Alle Orte - Plätze und Straßen genauso wie Wiesen und Wälder - wurden in ein Meer aus Licht und Farbe verwandelt. Überall funkelte und glitzerte es, aber das war noch nicht genug.
Es ist vielleicht erwähnenswert, dass wir Glizioner eine natürliche Schwäche haben für alles, was glänzt. Dieser Wettbewerb war also genau unser Ding. Wohin wir auch kamen, trafen wir Nachbarn und Freunde. Alle versuchten sich gegenseitig mit immer aufwendigeren Dekorationen zu übertrumpfen. “Mehr! Mehr!”, hörte man überall auf Glizion, während Lichterkette um Lichterkette, Kugel um Kugel an Häusern, Bäumen und sogar Haustieren angebracht wurden. Jeder wollte das allerhellste Wunder erschaffen.
Am Abend des dritten Tages - ich würde gerne sagen, als Glizion in seiner vollen und funkelnden Pracht erstrahlte, aber nein, so war es nicht, da ging noch mehr, noch viel mehr - am Ende des dritten Tages also geschah, was geschehen musste: Die Energieversorgung des gesamten Planeten kollabierte mit einem dramatischen Zischen. Wäre das nicht passiert, da bin ich mir sicher, wir hätten Alpha Centauri in den Schatten gestellt in diesem Jahr. Aber irgendetwas war gewaltig durchgeschmort, und Glizion blieb nur das Schweigen der Sterne und das verblüffte Gemurmel der Glizioner. Es dauerte eine ganze Woche, bis alles repariert war. Meine Eltern waren erleichtert, dass - bei aller Liebe für Glitter und Glitzer - Weihnachten vorbei war. Erst im folgenden Jahr wurde uns allen klar, dass das Spektakel normalerweise eine ganze Woche dauerte. Und in den Jahren darauf lernten wir, dass es kein Entrinnen gab. Weihnachten war nach Glizion gekommen, um zu bleiben.