Interview mit einer Todgeweihten
Hinweis von Morphin:
Dieser Text ist ein Original-Interview mit einigen ausgeschmückten Stellen. Er stand in "Sonstige". Nachdem nun einige Tage nix passiert ist, habe ich ihn hierher verschoben.
Grundsätzlich wirft er ein paar Fragen auf:
1) Ist ein journalistischer Stil/Inhalt eine Kurzgeschichte, wenn er Eigenschaften einer Kurzgeschichte hat?
2) Ist die Veränderung eines Originaltextes (Interviews) unter dem Gesichtspunkt dieses Themas günstig?
Zum anderen halte ich dieses Thema - vor allem in der Literatur - für sehr gesellschaftsrelevant. Deshalb habe ich es nun hierher verschoben.
Heiko
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Dieses Interview wurde dreißig Tage vor der Hinrichtung der Verurteilten geführt. Es wurde nur wenige Tage später in einer bekannten Zeitschrift veröffentlicht. Ich möchte betonen, dass ich nur wenig verändert habe. An manchen Stellen habe ich es natürlich ausgeschmückt. Karla Faye Tucker wurde zum Tode verurteilt und am 23. Februar 1998 hingerichtet. Sie erschlug zwei Menschen mit einer Axt und hat sie anschließend zerstückelt.
Es gibt viele, die die Todesstrafe befürworten. Aber hätte es diese Frau nicht verdient, in die Gesellschaft resozialisiert zu werden?
Anmerkung des Autors
PS: Die von mir veränderten Passagen sind am Beginn und am Ende jeweils mit drei Ausrufungszeichen markiert!
5. Januar 1998
Unzählige Male bin ich durch diese Tür gegangen. Vor einer Wand die zur Hälfte aus Panzerglas besteht, steht eine Reihe von Stühlen, und auf diesen Stühlen sitzen Frauen – an diesem Tag bin ich die jüngste hier im Raum. Die meisten der anwesenden Frauen kommen mir bekannt vor, obgleich ich sie nur en passant kenne, da mir jeglicher Kontakt mit den Mitgefangenen untersagt ist. Ich hätte gern etwas aus dem Leben der anderen gewußt und meine Erfahrungen mit ihnen geteilt. Wir sitzen alle im selben Boot. Nicht ganz – es gibt da ein kleines Nebensächelchen – es sind noch dreißig Tage bis zum letzten Gang aus der Todeszelle, in der ich seit nunmehr fünfzehn Jahren auf meine Hinrichtung warte. Diesen letzten Gang, den ich bis vor kurzem noch gehofft hatte, nicht antreten zu müssen, scheint nun unausweichlich. Doch noch klammere ich mich an die vage Hoffnung, vom Gouverneur des Staates Texas begnadigt zu werden. Seit vier Jahren ist George W. Bush Gouverneur des Staates Texas und er hat noch nie jemanden begnadigt. Im Laufe des Vorjahres hatten achtunddreißig Häftlinge ihre Verbrechen mit dem Leben bezahlt – allein in Texas! Und dabei ist 1998 ein Wahljahr. Texas gilt als der hinrichtungswütigste Bundesstaat der USA. Während von den knapp 480 Häftlingen, die etwa in Kalifornien auf der „Death Row“ warten, nur fünf zu Tode gebracht wurden, mussten von fast ebenso vielen Todeskandidaten in Texas dreißig Prozent aller Verurteilten den Gang in die Hinrichtungskammer antreten. Die Todesstrafe wird von achtzig Prozent der Texaner befürwortet. Achtunddreißig US-Bundesstaaten haben heute die Lizenz zum Töten. Laut Amnesty habe sich die USA seit Wiedereinführung der Todesstrafe vor zweiundzwanzig Jahren „auf eine Stufe mit Ländern wie China, den Iran oder den Irak“ gestellt. 74 Menschen landeten allein im Vorjahr in den Todeskammern der Hinrichtungsgefängnisse. Die Delinquenten starben auf dem elektrischen Stuhl, durch Giftspritzen oder in Gaskammern. Insgesamt wurden seit 1976 432 Menschen gehenkt – und zugleich 24 Fehlurteile dokumentiert. Derzeit warten 3.200 Häftlinge in den Todeszellen auf ihre Hinrichtung. Bei dem Gang zu den surreal anmutenden Hinrichtungsmaschinen gibt ein Wächter das Kommando „Dead Man Walking“ – Titel des oscarpreisgekrönten Kultfilms des genialen Regisseurs Tim Robbins.
Kann ich also noch auf ein Wunder hoffen? Wohl kaum.
Auf der anderen Seite der Panzerglasscheibe erkenne ich Larry King, seines Zeichens CNN-Talkmaster, in seinem schillernden, sündteuren Anzug. Er setzt ein adrettes Lächeln auf als er mich sieht, aber dieses Lächeln wirkt nicht echt. Mir ist nicht klar, weshalb er überhaupt mit mir sprechen will, aber er bat um eine Audienz und ich sagte zu, da ich gerade nichts besseres zu tun habe. Nun, ich war in den letzten Wochen zum Medieninteresse Nummer Eins geworden – und je mehr sich der Tag nähert, an dem ich die Giftspritze bekommen soll, um so mehr steigert sich meine Popularität. Sogar Journalisten jenseits des großen Teiches interessieren sich für mein Schicksal, doch wohl nur deshalb, weil sie damit die Auflage ihrer Zeitung in die Höhe treiben wollen. Im Interesse der Allgemeinheit, um ihre Sensationslust oder wie immer ich es nennen soll zu stillen. Das ist nur ein Mantel, hinter dem sich ihr Egoismus versteckt. Die Öffentlichkeit ist ihnen doch gleichgültig, so wie auch ich nur ein unbedeutender Name auf weißem Papier bin. Sie schreiben für Zeitungen, die ich bis vor kurzem nicht einmal kannte. Und wenn diese letzten 30 Tage vorbei sind, dann werden sie wieder etwas zu schreiben haben...
Karla Faye Tucker hingerichtet! Wegen bestialischem Doppelmord, den sie 1983 beging ... bla-bla-bla...
Sie alle heucheln Anteilnahme. So auch CNN-Talkmaster Larry King. Aber ich habe mich trotzdem bereiterklärt mit ihm zu sprechen, denn wie ich bereits sagte, habe ich gerade nichts besseres vor. Ich drehe mich kurz um und sehe hinter mir die Beamtin, die mich hierher begleitet hat. Es erweckt den Anschein als würde sie mich nicht wahrnehmen.
Seltsame Augen! dachte ich. Verschlagenes Luder!
Ich nähere mich der Panzerglaswand und setze mich. Ich bemühe mich nicht, das Lächeln des Talkmasters zu erwidern, aber er lächelt unverdrossen weiter und nickt, so als würde er sich tatsächlich freuen, dass ich mich bereiterklärt habe, ihm ein Interview zu geben. Ein Interview mit Karla Faye Tucker, einer Todgeweihten. Hochinteressant!
Larry King greift nach dem Hörer zu seiner Linken. Ich tue es ihm gleich.
„Ms. Tucker“, sagt Larry King zur Begrüßung. „Es freut mich, dass Sie zu einem Interview bereit sind. Wie fühlen Sie sich?“
„Mir geht es gut“, antworte ich gelassen. „Entschuldigen Sie mein Aussehen. Ich habe heute morgen in meinem Terminkalender nachgesehen und festgestellt, dass mein nächster Termin im Schönheitssalon erst morgen ist.“
„Aber ich bitte Sie“ erwidert King mit einem süßlichen Einen-wunderschönen-guten-Tag-Grinsen, wobei seine Augen eiskalt bleiben. „Sie sehen bezaubernd aus.“
Dieses Speichellecken ist mir im höchsten Maße zuwider, aber ich habe mich vortrefflich in der Gewalt. „Sparen Sie sich Ihre Komplimente. Ich weiß, wie ich aussehe. Ich würde mich in diesem Aufzug nicht einmal als Gangsterbraut eignen. Kommen Sie zum Wesentlichen!“ Und voller Sarkasmus füge ich hinzu: „Nicht einmal Al Capone hätte mich in seinen alten Tagen noch eines Blickes gewürdigt.“
Ist der große Larry King tatsächlich verlegen geworden? Ist er nicht. Ich habe ihn nur etwas überrascht. Ich erwischte ihn sozusagen auf dem falschen Fuß. Er erwartete wohl nicht, dass ich so kalt und sachlich reagieren würde. Was hat er denn erwatet? Soll ich um seiner Vorstellung zu entsprechen, um mein Leben winselnd vor ihm sitzen? Was würde das schon ändern? Vielleicht entspräche das seiner klischeehaften Vorstellung eines Delinquenten, der seit Jahren in der Todeszelle sein beschissenes Leben fristet und darauf wartet, dass es endlich vorbei ist. Man hat mich zum Tode verurteilt, weil ich damals, in der Nacht des 17. Juni 1983, während eines Raubüberfalls die zufällig anwesenden Wohnungsinhaber Jerry Dean (27) und dessen Freundin Deborah Thornton (32) ermordete. Wie von Sinnen hackte ich auf den am Boden liegenden Jerry Dean und dessen Freundin ein. Die eintreffenden Polizisten waren geschockt: abgetrennte Körperteile, die Wände des Zimmers blutverschmiert, der Brustkorb Thorntons, in dem noch die Axt steckte, bis zur Wirbelsäule gespalten. Jeder Hieb hatte mich sexuell stimuliert, so gab ich es dann auch zu Protokoll. Die Entscheidung der Geschworenen war einstimmig. Diese Frau verdiente die Todesstrafe. Aber die Karla Faye Tucker von damals gibt es nicht mehr. Ich bereue von ganzem Herzen was ich getan habe. Der Wandel der Zeit hat das Wunder vollbracht, dass ich mich änderte. Ich bin zur überzeugten Christin mutiert.
„Nun denn“, sagt King,“ wie Sie wollen. Kommen wir also zum wesentlichen, Ms. Tucker.“
„Mrs. Tucker“, verbessere ich.
„Oh, entschuldigen Sie, ich vergaß einen Augenblick.“ Jetzt ist er tatsächlich verlegen. Es ist erstaunlich, einen Mann wie Larry King zu sehen, wie er nach den richtigen Worten ringt.
„Es wundert mich, dass Sie nicht daran dachten“, sage ich. „Sie sind doch als ein Mann bekannt, der über ein fantastisches Gedächtnis verfügt. Es stand ja in allen Zeitungen.“
„Niemand ist perfekt“, meint King.
Als ich den Gefängnispriester zum erstenmal sah, kam er um mir seelischen Trost zu spenden. Ich sollte den Frieden mit Gott finden. Im Laufe des Gesprächs erfuhr ich, dass er Ransom Paine heißt.
Ransom Paine macht keinen üblen Eindruck auf mich. Er entschloss sich, sich für mich einzusetzen, um doch noch eine Begnadigung für mich zu erwirken. Aber der Versuch misslang kläglich. Und eines anderen Tages meinte er, dass es eine gute Idee wäre, ihn zu heiraten. Vielleicht könne man den Gouverneur dann zu einer Begnadigung bewegen. Mitnichten. Es war alles andere als eine Liebesheirat. Obwohl es nicht so ist, dass ich Ransom Paine nicht mag. Er ist ein netter wohlwollender Mann und seine Idee war einen Versuch wert gewesen, aber ihn lieben, das kann ich mir nicht vorstellen. Die Heirat ist also umsonst gewesen, so wie alles umsonst zu sein scheint. Die Hoffnung auf eine Begnadigung ist kaum mehr als ein milchiger Schein.
!!!„Weshalb haben Sie den Namen Ihres Mannes nicht angenommen?“ will der Talkmaster wissen.
„Es war meine Entscheidung“, antworte ich bereitwillig. „Ich wollte Ransoms Namen nicht in den Schmutz ziehen, deshalb einigten wir uns, dass wir unsere Familiennamen behielten.“!!!
„Lieben Sie Ihren Mann, Mrs. Tucker?“ fragte er und sah mich durchdringend an.
Hat er diese Frage tatsächlich gestellt oder bilde ich es mir nur ein. Einen Augenblick zweifle ich wahrhaftig daran. „Muss ich darauf antworten?“
Der Talkmaster schüttelt den Kopf und sagt: „Müssen Sie nicht.“ Wahrscheinlich denkt er, was ohnehin alle Welt vermutet und damit liegt er nicht falsch. „Verzeihen Sie meine Indiskretion.“
!!!Meine Augen schweifen umher und ich entdecke die Kamera, die in dem Schaukasten an der äußeren Wand des Besucherraumes unscheinbar wirkt.
„Geschickte Tarnung“, meine ich. „Wenn ich das gewusst hätte, dann hätte ich mein Sonntagskleid angezogen, es kam gestern aus der Reinigung.“
„Mrs. Tucker, wir wollten Sie ins CNN-Studio einladen“, erklärt King. Aber die Direktorin lehnte ab. Doch ich wollte mir die Chance nicht nehmen lassen und Sie ins Fernsehen bringen, koste es was es wolle. Nach anstrengenden Verhandlungen willigte sie schließlich ein und wir durften diese kleine Kamera hier unterbringen. Ziemlich hart im Nehmen, diese Johnson, nicht wahr? Sie wollte wohl verhindern, dass Sie ein Fernsehstar werden. Nun, so wie ich das sehe, hat sie das Rennen verloren.“!!!
Es war vor langer Zeit als ich zum letzten Mal ein Kleid trug. Es war ein blaues Flanellkleid. Ich hatte es in einer namenlosen Kleinstadt in Alabama gekauft. In einem Schiki-Miki-Laden wurde es günstig angeboten, weil es einen klitzekleinen Fehler hatte, der aber leicht auszubessern war. In diesem Kleid war ich wenige Tage später auch verhaftet worden. Zum letzten Mal sah ich es am Tag meiner Aburteilung – als Beweisstück mit einem hässlichen Blutfleck.
!!!Ich verspüre ein leichtes Jucken im Hals, halte mir die Hand vor den Mund und huste. Einmal... zweimal... dreimal...
„Sind Sie krank?“ erkundigt sich King und zieht die Augenbrauen hoch.
„Es ist wohl nur eine leichte Erkältung. Nicht der Rede wert“, erwidere ich und winke ab.
„Sie sollten sich ins Hospital einweisen lassen, mit so etwas ist nicht zu spaßen.“
Ich verziehe das Gesicht zu einem gequälten Grinsen. „Sie tun ja gerade so als hätte ich noch ein langes Leben vor mir, als würde ich eines Tages mit meinen Enkelkindern auf dem Schoß am Kachelofen sitzen, mit einer dicken Brille auf der Nase und Weißbrot im zahnlosen Mund.“
„Sie sollten sich trotzdem einweisen lassen. Sie werden sehen, dass die Erkältung in wenigen Tagen abgeklungen ist.“
Ich zucke mit den Schultern. „Wozu so viel Aufhebens? In einem Monat werde ich hingerichtet. Oder meinen Sie, ich könnte den Henker um sein Vergnügen bringen? Keine Angst, mich bringt in den nächsten dreißig Tagen keine Krankheit mehr um – und dann ab in die Todeskammer.“
„Vielleicht ist doch noch nicht alles verloren“, sagt King.
„Denken Sie, ich hätte nicht alles versucht“, entgegnete ich. „Ich gehe nicht zum Vergnügen in die Hinrichtungskammer.“!!!
Der Talkmaster senkt den Blick und sagt dann: „Mrs. Tucker, Sie waren jung, attraktiv und klug. Dann haben Sie zwei Menschen abgeschlachtet. Warum?“ Jetzt sieht er mich wieder an.
Mit dieser Frage habe ich gerechnet, sie ist unverblümt und direkt. Larry King ist eben so, er geht immer den direkten Weg und fällt einem Interviewpartner nie in den Rücken. Sein Motto ist Fairplay, der Hauptgrund für seine Popularität, die weit über die Grenzen der USA hinausgeht. Und für mich war dieser Umstand ausschlaggebend, dass ich einem Interview zustimmte.
„Ich glaube, ich war immer fehlgeleitet. Meine Eltern kümmerten sich nicht um mich, ich nahm Drogen und war mit den falschen Menschen zusammen. Es war damals für mich aufregend, wenn ich etwas Gewalttätiges anstellen konnte. Es war wie eine Sucht. Ich hatte keinerlei Gewissensbisse, tötete einfach so. Mein Freund, der mit mir die Morde beging, war nach dem Blutbad sogar stolz auf mich. Das ist vollkommen krank, nicht wahr?“
!!!Damals war ich 23 Jahre alt. Ich kann mich kaum noch an meinen Freund erinnern, weiß nur noch, dass ich ihn Marty nannte. Was war wohl aus ihm geworden? Marty war ein rauer Geselle gewesen, mit dem Hang zur Gewalt – und er war ein Junkie. Gemeinsam mit ihm hatte ich mehrere Raubüberfälle begangen, um Geld für den Kauf von Drogen zu beschaffen. Marty und ich brauchten Heroin, schon nach kürzester Zeit war der Entzug unerträglich geworden, und die Dealer gaben eben keinen Kredit. Das Leben mit den Drogen war hart, aber wir beschlossen, härter zu sein. Nicht nur einmal wurde Marty in einen Kampf mit einem Dealer verwickelt. Einmal hatte es sogar einen Toten gegeben – er war einfach in der Gosse verschwunden. Niemand erhob Anklage.!!!
„Sie hatten eine Bestrafung also verdient?“ fragt King weiter.
„Ja, selbstverständlich. Was ich angerichtet habe, verdient die härteste Strafe dieser Welt. Ich habe Menschen getötet und anderen ein lebenslanges Leid zugefügt. Ich hätte nicht ungeschoren davonkommen dürfen. Aber ich glaube nicht an die Todesstrafe, sondern daran, dass die Haft einen Menschen bessern kann. Ich bin ja das beste Beispiel dafür. Das hoffe ich jedenfalls für uns alle, denn 98 Prozent aller Häftlinge gehen wieder frei.“
Ich habe mich wahrhaftig verändert. Meine Heirat mit Ransom Paine hat wesentlich dazu beigetragen. Ich bin zur Christin mutiert. Der Gedanke wehrlose Menschen mit einer Axt zerstückelt zu haben schmeckte so bitter wie Seifenlauge. Aber es läßt sich durch nichts ungeschehen machen. Diese Hoffnungslosigkeit ließ mich anfangs in ein tiefes, schwarzes Loch stürzen, und ich benötigte viel Zeit das Dunkel um mich herum zu erhellen und den Weg ins Licht zu finden, dorthin wo ich niemals zuvor war. Dieses neu entdeckte Eiland erschien mir wie ein Frühlingserwachen im Garten Eden. Jetzt fühle ich mich nahe bei Gott, seine Ausstrahlung erfüllt mich mit einer ungeahnten Kraft und ich weiß, es ist nicht meines Schöpfers Wille, dass ich in der Hinrichtungskammer ein jähes Ende finde.
„Heute bitten Sie knapp vor Ihrem Tod um Gnade. Warum sollten Sie nicht sterben?“ Larry King versucht in meinem Gesicht zu lesen. Er will feststellen, ob ich die Wahrheit sage.
„Ich bin ein anderer Mensch geworden. Ich habe mich komplett verändert. Ich habe zu Gott gefunden. Gottes Liebe dringt in die steinigsten Herzen vor. Sie schenkt auch den schlimmsten Kreaturen dieser Welt die Kraft, ihr Leben von Grund auf neu zu beginnen. Durch Gott wurde meinem Leben ein Sinn gegeben. Ich verdiene es nicht mehr, getötet zu werden.“
Bei der bisherigen Debatte um mich, geht es auch um eine der letzten Hemmschwellen in Sachen Todesstrafe: die Hinrichtung von Frauen. Von über 100.000 weiblichen Gefangenen in den USA warten 47 auf den elektrischen Stuhl oder die Giftspritze. Zuletzt wurde vor vierzehn Jahren Velma Barfield (52) in North Carolina hingerichtet. Sie hatte ihren Verlobten vergiftet. Auch sie hatte, genau wie ich, eine Bestrafung verdient. Obwohl jeder achte Mord von einer Frau begangen wird, befindet sich unter 70 Todeskandidaten nur eine Frau. „Unser Chauvinismus treibt uns so weit“, so meinte der Soziologe Richard Hawkins von der Southern Methodist-Universität, dass wir so etwas Böses, wie Frauen hinzurichten, kaum fertig bringen.“ Dabei ist das Leben für weibliche und männliche Todgeweihte nicht gerade menschlich. Sie warten in einer zehn Quadratmeter großen, fensterlosen Zelle auf die Exekution. Im Durchschnitt zwischen neun und elf Jahre lang. Das ist wohl oft Zeit genug, um zu einem besseren Menschen zu werden.
„Bis zum Wochenende sind über tausend Briefe im Büro des Gouverneurs eingetroffen“, sagt King. „Die Schreiber bitten alle um Gnade für Sie – zehnmal so viele Gnadengesuche wie bei anderen Todgeweihten. Da 1998 ein Wahljahr ist und George W. Bush Ambitionen ins Weiße Haus hat, kann er es sich wohl nicht leisten, auf das Drängen von Amnesty und der mächtigen Christian Coalition nicht zu reagieren. Vielleicht ist doch noch nicht alles verloren.“
Vor fünfzehn Jahren hatte ich zwei Menschen wie Schweine abgeschlachtet. Ich verdiene den Tod nicht. Die Frau von damals vielleicht, aber die Karla Faye Tucker von heute? Fünfzehn Jahre später stehe ich, Karla Faye Tucker, Haftnummer 777, kurz davor, im Gefängnis Mountain View bei Gatesville, selbst durch die Hand eines anderen zu Tode zu kommen. In einem Monat soll ich durch die Giftspritze sterben. Als erste Frau, die seit dem Bürgerkrieg (1863) in Texas hingerichtet wird – als zweite Frau seit Wiedereinführung der Todesstrafe 1976 in den USA überhaupt.
King will mir nochmals Hoffnung machen, aber auf mich wirkt dieser plumpe Versuch als wolle er einen trockenen Schwamm auspressen. Alles scheint umsonst zu sein.
„Wenn ich ehrlich sein soll, glaube ich nicht mehr daran“, sage ich mit leiser Stimme. „Ich habe mich mit dem Tod abgefunden. Ich weiß, dass Gott nicht will, dass ich sterbe.“ Ich mache eine kleine Pause, dann fahre ich fort: !!!„Meine Mutter war Alkoholikerin, sie trank schon als ich noch ein kleines Mädchen war. Sie schüttete sich den ganzen Tag mit billigem Fusel voll. Ich kann mich nicht erinnern, sie jemals nüchtern gesehen zu haben. Sie hat sich mehr um die Schnapsflasche gekümmert als um mich.“
Ich blicke auf die Uhr die an der Wand hing, sie verrät mir, dass es 14.32 Uhr ist. Im Grunde ist es mir egal wie spät es ist. Zeit hat für mich die Bedeutung verloren. Ein Becher voll Wasser am Ufer des Mississippi kann mich mehr in Verzückung bringen.
„Was war mit Ihrem Vater?“ erkundigt sich King mit bedächtiger Stimme.
Ich beobachte die Zeiger der Wanduhr bei ihrer Wanderung, sie kommen mir wie Hürdenläufer bei der Olympiade vor, als eine fremde Stimme an meine Ohren dringt. Es dauert eine Weile ehe ich begreife, dass Larry King zu mir spricht.
„Entschuldigen Sie, Mr. King“, sage ich. „Ich war wohl einen Moment nicht bei der Sache. Was sagten Sie gerade?“
„Was war mit Ihrem Vater?“ wiederholt der Talkmaster geduldig.
„Mein Vater war ein Spieler, und obendrein noch ein sehr schlechter, deshalb betrog er, wo er nur konnte.. Was natürlich nicht immer gelang. Manchmal kam er oft tagelang nicht nach Hause, und wenn er dann kam hatte er oft eine zerschlagene Visage und blutete aus mehreren Wunden. Ich habe keine Ahnung wie oft seine Nase gebrochen wurde. Ich glaube, ich habe ihn nie ohne blutende Wunden gesehen. Als kleines Mädchen habe ich mehr Blut gesehen, als für ein Kind gut sein kann. Er kam zu allen erdenklichen Tageszeiten, früh am Morgen, wenn andere aus den Federn krochen, um sich auf einen arbeitsreichen Tag vorzubereiten oder auch mitten in der Nacht. Er kam mit knurrendem Magen, der so leer war wie sein Kopf. Dann brüllte er und verlangte nach etwas Essbarem. Meine Mutter schwang in der Folge Töpfe und Pfannen, auch vor dem ersten Hahnenschrei. Ihr blieb keine andere Wahl, denn mein Vater kochte vor Wut und schrie, dass die Wände bebten. Aber meistens war der Kühlschrank leer und Mutter und ich lebten von altem Brot, an dem stellenweise schon der Schimmel zu sehen war. Wir weichten das Brot in warmer Milch auf, wenn zufällig welche im Kühlschrank stand, und wenn keine da war, nahmen wir Wasser. Schnaps war für meine Mutter wichtiger als etwas zu essen. Mir fehlten die Vitamine und ich wurde oft krank, das wirkte sich natürlich auch auf die Leistungen in der Schule aus. Wir hatten damals nette, hilfsbereite Nachbarn; und die Frau von nebenan – ich nannte sie Tante Mary – ich glaube, ihr Mann war ein Schuhverkäufer, gab mir hin und wieder etwas zu essen. Aber die beiden hatten selbst nicht viel und mussten sehen, wie sie über die Runden kamen. Und so schaffte ich es immer wieder, die Krankheiten die durch chronischen Vitaminmangel hervorgerufen wurden zu besiegen. Es herrschte permanenter Mangel an Geld, oft bezog Mutter deswegen Prügel – ich denke, der Schnaps war Schuld daran. Sie suchte sich einen Job. Für 50 Dollar die Woche putzte sie anderer Leute Dreck weg. Das Geld das sie für diese Arbeit bekam setzte sie in Schnaps um – und wir hatten wieder nichts zu essen. Schnaps war ihr einziger Lebensinhalt, ich glaube, er hat sie um einige Jahre früher ins Grab gebracht. Auch mein Vater ist tot. Tante Mary und ihr Mann, der Schuhverkäufer, mussten beide von früh bis spät arbeiten um ihr Auskommen zu haben. Und so war niemand mehr da, der ein wachsames Auge auf mich werfen hätte können. In der Folge kam es dann so richtig dick ...“ Ich brach unvermittelt ab und sah den Mann auf der anderen Seite der Panzerglaswand durchdringend an. Sein Gesicht zeigte einen faszinierten Eindruck.
„Erzählen Sie weiter“, drängt er.
Doch ich sehe ihn nur an und sage: „Ich möchte das jetzt nicht erzählen. Aber wenn Sie Geduld haben, dann werden Sie alles erfahren.“
„Wie meinen Sie das?“ fragt der Talkmaster. „Ich glaube kaum, dass ich ein zweites Mal die Möglichkeit bekomme, hier mit laufender Kamera zu erscheinen..“
Ich lächle süffisant. „Ich werde über mein Leben ein Buch schreiben. Ich weiß, dass mir nicht mehr viel Zeit bleibt, aber ich denke, sie wird ausreichen meine Memoiren zu vollenden.“
„Das ist ja höchst interessant. Wann ist Ihnen der Gedanke gekommen?“
„Vor einiger Zeit schon. Im Gefängnis hat ein Tag manchmal 48 Stunden, wenn Sie verstehen was ich meine.“ Ich sehe wie King nickt und fuhr fort: „Aber in der Todeszelle scheint er endlos zu sein. Meine Zelle misst gerade mal zehn Quadratmeter. Eine fensterlose Zelle! Reicht Ihre Fantasie aus um sich auszumalen wie es ist, fünfzehn Jahre in einer fensterlosen Zelle zu verbringen?“ Ich weiß, dass es nicht so ist. „Sie können es sich nicht vorstellen, so etwas müssen sie erleben. Ich werde versuchen, mein Leben in der Todeszelle zu beschreiben, es dem Leser hautnah zu bringen. Hier ist nicht das Ritz, aber selbst die mieseste Absteige kommt mir im Vergleich wie das Hilton vor. Wenn die Zeiger Ihrer Uhr sich beide auf der Zwölf befinden, haben Sie nicht die leiseste Ahnung, ob es Mittag ist oder mitten in der Nacht. Erst wenn Sie das Scheppern der Essnäpfe hören, in denen jeden Tag ein Zwölf-Gänge-Menü serviert wird, können Sie sicher sein dass es Mittag ist. Sie können natürlich die Beamtin fragen, die zu jeder vollen Stunde antrabt, um zu sehen, ob mit Ihrer Gesundheit alles bestens ist.“
„Ich kann mir sehr wohl vorstellen, was es bedeutet, eingesperrt zu sein“, meint King mit Bestimmtheit.
„Das können Sie nicht“, erwidert ich und verziehe mein Gesicht zu einem Grinsen.
Ich schiele zur Uhr. 14.38 Uhr. Es waren gerade mal zwanzig Minuten vergangen. Ich frage mich, ob die restliche Zeit meines Lebens ausreichen würde um mein Buch zu vollenden. Ich kann es mir nicht vorstellen, aber ich will alles daransetzen es zu schaffen.
Die Beamtin die hinter mir steht erwacht zu neuem Leben und sagt mit stoischer Ruhe. „Ihre Zeit ist um, Mr. King!“
„Nur noch fünf Minuten“, fleht er händeringend
„Die Zeit ist um!“ bleibt die Frau hart. „Kommen Sie, Mrs. Tucker.“
„Es tut mir leid“, sage ich und erhebe mich.!!!
[*]!!!