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iPod. iGod?

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10.05.2005
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iPod. iGod?

iPod. iGod?​


Es fühlt sich ganz weich an, wenn meine Finger es sanft berühren. Wie ein Kissen aus Samt, gefüllt mit Daunen. So weich, so warm, so... so müde bin. Wie gern würde ich mich jetzt auf einem Kissen ausruhen, ich kann nicht mehr. Bin erschöpft, todmüde. Doch das geht nicht! Ich kann mir keine Pause leisten. Erstens hab ich kein Kissen und zweitens, auf das von vorhin kann ich mich schon gar nicht legen, ich würde vor Schmerzen schreien. Ist dieses Kissen doch bezogen mit meiner Haut. Der Haut über meinem rechten Backenknochen und gefüllt mit meinem Blut, einem unschönen blauvioletten Hämatom Form und Farbe gebend. Wenn ich vorsichtig hineindrücke, dann entsteht für einen kleinen Augenblick eine kleine Delle. Die sich nur deshalb rasch wieder glättet, weil sich mein Gesicht vor Schmerzen verzieht. Scheiß auf die ganzen Anti-Aging-Produkte, nichts glättet Falten so effektiv und relativiert Schönheit so sehr wie akuter Schmerz. Ach, da hätten wir sie ja wieder! Die weisen Sprüche meines ehemaligen Gurus iBuddha. Fuck!
Jedenfalls tut es höllisch weh, wenn ich diesen riesigen blutunterlaufenen Fleck in meinem Gesicht anfasse, aber ich muss ihn einfach berühren. Kann nicht anders. Obwohl der Anblick alleine schon abstoßend ist. Jetzt, da ich mich zum ersten mal seit dieser... Sache selbst sehe. Hier in einer öffentlichen, nach Pisse und Kotze stinkenden Toilette, wo ich endlich einen Spiegel habe. Nach alledem. Dazu meine Nase. Vermutlich gebrochen. Jedes Mal, wenn ich ein wenig am Nasenrücken herumzerre, dann knackt es leise. Würde jemand neben mir stehen, er könnte es vermutlich hören. In meinem Schädel jedenfalls höre ich es. Laut, wie die Explosion einer Bombe in einer vollbesetzten U-Bahn-Station. Dazu dieser eiserne Geschmack in meinem Mund. Ich hab ein Stück eines Schneidezahnes eingebüßt. Dazu ist auch noch meine Oberlippe aufgeplatzt! Mist! Zu allem Überfluss muss ich auch da ständig mit der Zunge ran, kann nicht davon lassen. Aber das war ja schon immer mein Problem, dass ich einfach nicht meine Finger von bestimmten Dingen lassen konnte.
Wie fing das alles überhaupt an? Puh, ich denke, es fing mit Dawn an. Jenem schwerelosen, bezaubernden, entzückenden und alles überstrahlenden Engel des Lichts. Jener Erscheinung undefinierbaren Alters, vielleicht war sie fünfzehn, vielleicht siebzehn, vielleicht auch zwanzig. Ich lernte sie auf einem iRave in den Hügeln, in einer dieser heruntergekommenen Studiohallen, die schon seit Jahren leer standen, kennen. Irgendwelche findigen Koksnasen hatten zur Finanzierung ihrer Sucht Locations wie diese mit einigen Vidiwalls und einer gut hundert Meter langen Theke aufgepeppt, höllisch was an Eintritt kassiert und veranstalteten, wie damals üblich, iRaves. Es waren Hunderte da, vielleicht sogar über tausend. Die Halle war groß und voll. Gerammelt voll. Dazu wurde sicher auch eine Menge XTC, CDP und all das andere Zeug konsumiert, ich aber hab mich immer von Drogen ferngehalten. Es sei denn, man rechnet Musik mit ein... wie dem auch sei, in jener Nacht, oder besser, an jenem Morgen, der iRave war ins Finale gegangen und die ersten Sonnenstrahlen kitzelten uns durch die große Plexiglasfassade der Halle, da erschien sie. Ich sage bewusst, sie erschien, denn diese Frau, dieses Mädchen, diese Elfe ist nicht anders zu beschreiben. Wie sie an mir vorüberschwebte, sich dabei auf eine rhythmische Art bewegend, die direkt mein junges männliches Unterbewusstsein ansprach, es war betörend. Ich folgte ihr, zur Halle hinaus bis auf den noch immer gut gefüllten Parkplatz. Dann drehte sie sich um. Und verzauberte mich ein weiteres Mal, diesmal mit ihrem Lächeln.
Okay, Sie werden jetzt sagen, dass ich mich nach einer durchtanzten Nacht mit viel Alkohol, Schlafentzug, schlechter Luft und lauter Musik leicht habe verzaubern lassen. Sicher, Dawn, dieses übermenschliche Geschöpf stand vor mir, drehte sich plötzlich um, lächelte mich mit ihrem püppchenhaften, von der aufgehenden Sonne in einen Heiligenschein aus Orange und Rot getauchten Antlitz an, dazu ihr Körper... dieser Körper, diese kleine, handliche, „Bitte, bitte berühr mich!“-schreiende Dosis erwachender Weiblichkeit, einerseits real, andererseits halluzinogen. Hätte ich Drogen genommen, ich wäre mir nicht sicher gewesen, ob Dawn existierte. Aber so - ich war nüchtern. Na, zumindest war ich nicht stoned! Nein, Dawn existierte! Schien direkt meiner Phantasie, meinem Limbischen System entsprungen. Wir blickten uns an. Sie lächelte wissend, ich stierte vermutlich reichlich dämlich. Doch sie lächelte weiter und gab mir so die Chance, mehr zu tun, als nur blöd zu schauen. Langsam hob ich meine Hände, schaltete meinen iPod auf Lautlos und wollte ihr die Kopfhörer aus den Ohren nehmen. Sie trug einen „iPod Xclusive deluxe“, jenes Modell, das als erstes Multichannel-Scanning besaß. Und Dawn war Puristin, trug sie doch tatsächlich noch Kopfhörer mit Kabel. Mit Kabel! Die original weißen, mit dem kleinen „d“ aus Gold für „deluxe“ am Kopfhörer-Schaft. Wie ich! Also, ich hatte nicht die Golddinger, ich hatte die Edition „T“ wie Titan. Aber eben auch mit Kabel. Retro gehörte damals einfach dazu...
Jedenfalls wollte ich ihr soeben die EPs, also die Earphones, herunternehmen um ihr zu sagen, dass sie die schönste Frau des Universums sei. Meine Traumfrau, das Licht meiner Augen, das Gravitationszentrum meiner Galaxie, dass ich sie auf der Stelle würde heiraten wollen, egal ob sie meine Sprache mächtig war oder aus ärmsten Verhältnissen käme oder sogar einer jener berüchtigten gebleichten brasilianischen Transsexuellen sei, egal... ich hatte mich in sie verliebt. Absolut und unwiderruflich! Ich wollte ihr so vieles sagen, sie fragen, ob... doch sie lenkte sanft meine Hände ab, machte eine verneinende und dennoch verführerische Geste mit ihrem linken Zeigefinger und nahm mir ihrerseits den rechten EP aus dem Ohr. Dann kam sie ganz nahe, so nahe, dass ich sogar die Musik aus ihren Kopfhörern vernahm und, oh mein Gott, wie diese Frau duftete. Sie duftete nach Regenbogen, nach frischer Frühlingswiese, einem Meer aus Blumen. Blumen, deren Namen ich nicht kenne und die es vermutlich in unserer Welt auch nicht gibt. Bestenfalls in einem Paralleluniversum, in dem es nur Frauen gibt, die hübsch und dennoch tiefgründig; schlank, jedoch wohlproportioniert und intelligent und trotzdem herzlich sind. Ich wagte mich nicht zu bewegen, als sie meinen Kopfhörer herauszog. Spürte ihren Atem auf meinem verschwitzen Hals, ihre gepiercte Nase, nein, ihr gepierctes Näschen berührte mich fast, als sie mit ihrer linken Hand meinen Kopf ganz nahe an sich heranzog.
„Hi! Ich bin Dawn!“, hauchte sie, „Und wenn ich dir gefalle, dann komm auf die nächsten drei iRaves, die hier in den nächsten Wochen stattfinden. Ich werde vielleicht hier sein. Und dann werden wir ja sehen...“
Jetzt schaute sie mir so unverschämt verheißungsvoll in die Augen, lächelte so verschmitzt, dass ich meine bisherigen sexuellen Erlebnisse augenblicklich als Kinderspielchen abtat. Dann gab sie mir noch einen Kuss auf den Mundwinkel, steckte mir meinen Kopfhörer wieder zurück ins Ohr, winkte lächelnd, drehte sich um und verschwand wieder in der Fabrikshalle.
„Okay!“, werden Sie jetzt sagen, bei dieser Dawn handelte es sich sicher um eine jener legendären Dawns, Montanas, Estelles, Caprices oder Saints für die MicroApple berühmt war. Jene schier unglaublich hübschen und noch unglaublich viel unprätentiöseren PR-Hostessen, von denen keiner wusste, ob es sie tatsächlich gab oder ob sie nur perfekt vom Computer gerenderte Werbe-Avatare waren, die MicroApple, wie die Firma nach der Fusion hieß, im Fernsehen, Kino und Internet einsetzte, um ihr wichtigstes Hardware-Produkt, die iPod-Serie, zu verkaufen. Vielleicht sagen Sie auch, dass der Junge, gerade mal siebzehn Jahre alt, ohnehin nur Mädchen im Kopf hatte und nach so einer Nacht selbst seine Schwester, so er eine gehabt, flachgelegt hätte. Aber nein, nein, nein! Dawn war wirklich Googolplex-scharf und existierte und sprach mit mir und traf sich mit mir. Zugegeben, der Umstand, dass ich sie erst beim dritten iRave wiedersah war wohl ein sicheres Indiz für die clevere Werbung von MicroApple gewesen, immerhin hatte ich zweimal umsonst den Eintritt berappt, aber gut. Wenn das der Preis war...
Scheiße! Wie ich den Geschmack von Blut hasse! Gerade wenn’s mein eigenes ist. Wenn ich mich im Spiegel so betrachte, dann schau ich aus, als hätte ich gerade einen Bombenanschlag überstanden... na, wenigstens ist mir mein Zynismus nicht abhanden gekommen. Fuck! Diese verdammte Lippe blutet immer noch. Wenn ich die Zunge jetzt meinem Spiegelbild entgegenstrecke, dann ist die dunkelrot, ja fast schwarz! Hab ich nicht irgendwo mal gehört, dass man einen halben Liter Blut schlucken kann, ehe man sich übergibt? Scheiße! Und hier, an meiner Kleidung, nicht nur Staub und Dreck, auch Blut? Kann das meines sein? Oh Gott! Das muss das von jemandem anders sein... jetzt wird mir wirklich schlecht! Mein Anblick bringt mich zum Kotzen! Ich muss mich ablenken. Also, wo sind wir stehen geblieben? Ah, beim Wiedersehen mit Dawn.
Wie kam es überhaupt zum Wiedersehen? Immerhin, auf so einem iRave mit weit über tausend Leuten ist es schwierig jemanden zu finden, den man nicht kennt. Also tat ich, was jeder tut – ich befragte das Internet. Und wenn es um die legendären MicroApple-Elfen ging, da wurde man im Netz fündig, aber richtig! Neben unzähligen Foren und Chats, in denen Betroffene manchmal sogar von echten Erlebnissen, meist aber nur feuchten Fantasien mit diversen Dawns, Montanas, Niagras, Shakiras und wie sie alle hießen berichteten, gab es noch endlos viele Fotos, Fanclubs und Webrings, ja sogar einen Elfen-Generator bot MicroApple auf seiner Homepage an. Damit konnte man sich eine iPod-Elfe nach seinen Wünschen erschaffen, Gott spielen und die göttlichsten Geschöpfe des Internets kreieren. Ja sogar eine kalifornische Firma fand ich, die sich auf Pornofilme spezialisiert hatte, in denen alle Darstellerinnen den Elfen-Kriterien von MicroApple entsprachen. iPorn.com. Unnötig zu erwähnen, dass diese Filmchen, die man sich Ausschnittsweise gratis runterladen konnte (die Vollversion kostete dann 59.95) äußerst profan waren. Aber so wunderschön anzuschauen...
Egal. Auf einer der Seiten hatte ich mir den Tipp geholt, dass man einfach zur Zeit der Kontaktaufnahme am selben Ort wie bei der Erstbegegnung sein sollte und das tat ich auch. „Tricky Dick“, wie der Cheeseburger-Fan aus Louisiana hieß, der mir die Tipps gab und sicher zweihundertzwanzig Kilo auf die Waage brachte und ebenso sicher noch nie von einer Dawn oder Montana oder auch nur banalen Jenny angesprochen worden war, meinte „Das klappt am ehesten! Wenn deine Dawn echt eine von dieser korrupten geldgeilen MicroNipple-Fraktion ist und nur Werbung macht, dann haben die die Anweisung, alle dreißig Minuten einen anzuquatschen. An den immer gleichen Orten, die gehen ihre Aufriss-Strecke mit der Stechuhr ab und laden so Typen für zukünftige iRaves ein!“
Gesagt, getan! Ich wartete also bei allen drei iRaves am Eingang zur Halle, in der Hoffnung, Dawn würde sich mit anderen Opfern auch auf dem Parkplatz treffen. Doch nichts! Weder beim ersten noch beim zweiten noch beim dritten iRave. Stattdessen nutzte ich die Gelegenheit des nicht so ausgelassenen Abtanzens, um mir mal so einen iRave anzuschauen. Ich sag Ihnen, wenn man so stundenlang herumsteht, zwar tanzt, aber doch immer wie ein im Dienst befindlicher Wachmann eine bestimmte Stelle im Auge behält, dann kommt einem die ganze Szenerie irgendwie merkwürdig vor. Bizarr. Da stehen über tausend Leute in einer heruntergekommenen Fabrikhalle und tanzen teils ekstatisch und auf Drogen, zumindest aber ordentlich abgefüllt, vor sich hin. Alle ihre Ohrenstöpsel pluged-in, die meisten trugen die neuen kultigen EPs mit den blauen Leuchtdioden, die im Ohr glimmerten; dazu keine Musik zu hören, der DJ, der ja eigentlich ein VJ ist, macht Musik, die für Nicht-iPodder nicht bestimmt, weil nicht hörbar ist. Übertragen durch leistungsstarke Datensender in der Halle, empfangbar mit jedem für diesen iRave freigeschalteten iPod ab Generation 7, also mit WLIVE-Feeder. Alles, was für Menschen ohne iPod oder eben Typen wie mich zu hören war, war das verschwitzte, übermüdete, ausgepowerte Stöhnen der Tanzenden, das Mitkrakehlen zur Festplattenmusik, das Quietschen der Sneaker-Sohlen am Boden und das Reden jener Leute, die an der Bar standen, etwas tranken und sich unterhielten. Ins rechte Licht gerückt durch zigtausend Watt an Scheinwerfern und Effektlichtern, Strobo und Schwarzlicht sowie Vidiwalls mit fraktalen Mustern und Videoeinspielungen, die zum Unterhaltungsprogramm des VJs gehörten. Dazu tanzte und wogte ein Menschenmeer in Wellen, deren Brandung ohne iPod unhörbar war; das alles schien irgendwie surreal. Aber das fällt einem jungen Menschen kaum auf. Da spielt man nur zu gerne den Star seines eigenen, individuellen Musikclips, Happy Ending inklusive. Was ja okay ist, meist sind Musik und Lifestyle ja tatsächlich nur Musik und Lifestyle. Manchmal aber eben auch mehr. Viel mehr. Lebensanschauung, Lebensverweigerung. Utopie, Dystopie. Highway und Sackgasse... Aber davon später mehr. Kommen wir zurück zu Dawn.
Ich dachte damals nach, ob es für mich einen Unterschied machte, wenn Dawn nun eine von MicroApple engagierte PR-Elfe war oder einfach nur ein übermenschlich hübsches Mädchen mit einem ausgeprägten Hang zum Spaß. Dabei kam ich für mich zum Entschluss, dass es mir egal war. Ich meine, wenn sie tatsächlich vom Veranstalter oder gar von den Gottobersten bei MicroApple bezahlt wurde, dann war sie zwar im weitesten Sinne ein Gogo und im engeren Sinne vielleicht gar eine Nutte, aber ich entschied mich in diesem Fall einfach in ihr ein Spitzen-Callgirl zu sehen. Da ich sie aber ohnehin für sehr jung hielt, zu jung, eher siebzehn als zwanzig, glaubte ich an die Callgirl-Variante nicht wirklich. Sie war wohl bloß ein Mädchen, das zu viel Werbung konsumiert hatte und das ganze „Dawn, die MicroApple-Elfe“-Märchen ein wenig zu ernst nahm – aus! MicroApple hatte in seiner genialen Marketingabteilung den Mythos kreiert und der inspirierte viele Menschen. Burschen und Männer, wenn sie alleine waren und Mädchen und Frauen, wenn sie nicht länger alleine sein wollten. Sie orientierten sich einfach an einem unreale Mythos, der so immer realer wurde. Ja, schon lange war es her, dass die Kunst die Realität imitierte. Ich vermute mal, spätestens seit den 1980ern war es gänzlich umgekehrt: die Realität imitierte die Kunst. Oder besser, die Werbung. Und das ausschließlich! Aber ich kann’s nicht beurteilen, ich hab diese Zeit ja knapp verpasst. Nicht verpasst hab ich an jenem Morgen jedoch Dawn. Tatsächlich erschien sie fast zur gleichen Zeit wie beim ersten Mal, wieder verließ sie die Halle des iRave um sich vom inspirierenden Sonnenaufgang erwärmen zu lassen. Langsam trat ich von hinten an die heran, doch sie schien mich erwartet zu haben, drehte sich genau im richtigen Moment um und strahlte mich an. Ihren blonden Wuschelkopf noch immer im Rhythmus der Musik wiegend, verführerisch auf ihrer Unterlippe kauend. Atemberaubend, kokett, wie auch ihr Outfit. Total trendy. Weiße hautenge 0,70er, also eine Hüfthose im Dreiviertelschnitt von Guess, Gürtel von CAT, Y-Sneakers von Converse, weißes Bustier von DKNY, dazu eine überdimensionale Suunto an ihrem zierlichen rechten Handgelenk, und im Unterschied zu den anderen Jungschlampen, die um uns herum ihren heutigen Aufriss abknutschten, trug sie Unterwäsche. Auch wenn es nur ein knapper Tanga war.
Wir begrüßten uns, ich stellte mich vor. Sie wollte wissen, ob ich tatsächlich nur wegen ihr gekommen sei. Und ob ich auch die beiden letzten Male hier gewesen bin. Wegen ihr. Ich bejahte, was sie verzückt quieken ließ. Dann nahm sie mich bei der Hand, zog mich Richtung Parkplatz. Als sie seitlich vor mir ging, musste ich ihr einfach auf ihren Knackarsch starren, wie er keck hin- und herhüpfte, scheinbar mit jedem Schritt lauter meinen Namen rief. Will. Will. Will! Will dich! Dazu diese beiden kleinen Flecken makelloser brauner Haut zwischen den Tangabögen und der extrem tiefsitzenden Hüfthose, die wie zwei Schlitzaugen hervorlugten, mich fixierten, hypnotisieren. Ja, ich war in Dawns Bann. Sie schien ein rundum glückliches Mädchen zu sein, kannte nur Lachen, Leichtigkeit, Lebenslust. Lust!
Schließlich stellte sie sich am Parkplatz an einen etwas älteren Murano. Fragte mich, was ich so machte, wer ich war, wie ich lebte. Was für Pläne ich hätte. Für heute Morgen und den Rest meines Lebens. Dann zog sie mich näher zu sich, berührte mein Shirt, streichelte über meine Brust und blickte mir mit tiefblauen Augen auf den Grund meiner Selbst. Ich ertrank in ihrem Blau. Eine kurze Pause entstand, dann meinte sie „Frag mich! Frag mich, was du wissen möchtest. Frag eine Dawn, was du wirklich von ihr wissen willst!“
Ich überlegte kurz, aber nur zum Schein. Ich wusste, was sie meinte und sie wusste, dass ich es wissen wollte.
„Bist du eine MicroApple-Dawn? Oder bist du... du? Echt?“
Erneut schenkte sie mir eines ihrer den Weltfrieden bringenden Lächeln, erneut nahm sie meine Hand und erneut durchschaute mich. Als hätte sie telepathische Fähigkeiten gehabt.
„Schau, Will, es geht nicht ums Vögeln, es geht ausschließlich um das...“
Mit ihrer rechten Hand griff sie mir an die Brust.
„...dein Herz! Deine Leidenschaft, deine innere Freiheit!“
Was wollte mir dieses Küken da erzählen? Sollte jetzt ein großer Vortrag kommen, über die grenzenlose Freiheit der Gedanken, die Unfassbarkeit des Geistes, die Unbezähmbarkeit der Leidenschaft? Und das von einem Mädel, das vielleicht gerade mal sechzehn war oder bestenfalls gleich alt wie? Nein, was folgte war ein unbeschwerter und gänzlich unphilosophischer Quickie im Inneren des Murano. Aber gerade in dieser Unbefangenheit, die einer schier außerordentlichen geistigen Aufgeräumtheit, Spontaneität und Geradlinigkeit entsprungen schien, lag tatsächlich Weiterführendes.
„Will, lebe dein Leben offen, bewusst, ständig bereit für Neues. Life is random! Aber habe im Hinterkopf immer eine alternative Playlist parat, die dir Schutz bietet, Geborgenheit. Nur so kannst du wahre Freiheit erlangen. Das ist mein Lebensmotto. Es hat mir auf meinem bisherigen Weg schon so oft geholfen, dass ich diese Freiheit mit der ganzen Welt teilen möchte. Will, ich bin keine dieser Generation Y-Tragödinnen oder eine der No-Future Gangsta-Shit-Hoes... nein! Ich möchte die Welt nicht ficken, ich möchte mit der ganzen Welt Liebe machen. Darin liegt der Schlüssel des Lebens und unsere wahre Bestimmung!“
Es war schön, dass Dawn tatsächlich dieses ganze New/Old Age Gefasel, auch unter dem Namen iPhilosophy bekannt, zu glauben schien. Immerhin hatte sie wenigstens etwas, dass ihr was bedeutete. Ich hatte eigentlich nichts an das ich glauben konnte. Ich hielt mich zwar an viele Regeln und Schemata und Moden und Trends, aber hatte ich damals etwas, an das ich wirklich glaubte? Ich denke nein. In jenen Momenten jedoch, angesteckt von Dawns boomender Fröhlichkeit, begann ich nachzudenken. Ich war wohl nicht nur in Dawns Körper, sondern auch in ihre knallbunte Gedankenwelt eingedrungen. Zumindest ein paar Zentimeter... ;-) und hatte erkannt, dass die iPod-Community, der ich zwar angehörte, aber eher aus Modebewusstsein heraus denn aus Überzeugung, mehr war als nur eine Ansammlung von kopfhörertragenden und zu ihrem eigenen Soundtrack des Lebens grinsenden, mitwippenden und sich geschmeidig bewegenden Berufsjugendlichen. Es war eine Lebenseinstellung und ich hatte soeben von dieser strukturellen Leichtigkeit, die anscheinend nicht ganz hohl war, ein Stück abbekommen. Ein Stück, dass mehr in mir stimulieren sollte, als bloß meinen Schwanz.
Jetzt will ich aber doch etwas weiter ausholen, ab ovo beginnen. Damit Sie das Geschehene besser verstehen, sollte ich eher von meiner Familie, Kindheit und Jugend erzählen. Ja, das ist gut! Denn wenn ich es mir recht überlege, dann war Dawn wohl doch nicht der Anfang, sie war bestenfalls eine entscheidende Etappe. Ich war nämlich durch und durch ein eheliches Kind meiner Zeit. Perfekt integriert, freute mich ebenso wie meine Eltern, ein Teil des Systems zu sein, glaubte aber auch wie sie, autonom und clever genug zu sein, um trotzdem ein Stück außerhalb zu stehen. Uns individuelle Äquidistanz und Freiraum erhalten zu können. Wir dachten wohl, wir wären Scheiß-Kenny-Rogers – „Islands in the (Main)stream“, Sie verstehen? In Wahrheit verwechselten wir unsere Pseudo-Freiheit bloß mit relativem ökonomischem Wohlstand. Verkannten, wie sehr das System uns in seinen Rädern rennen ließ. Wie kleine Hamster hielten gerade Leute wie meine Eltern und ich das miese System am Laufen, maßgeblich. Wir waren, ohne es zu merken oder zumindest wahrhaben zu wollen, zu Kollaborateuren des Untergangs geworden. Da fällt mir wieder iBuddha ein, der immer sagte: „Jeder Einzelne kann etwas bewirken. Er muss es nur wirklich wollen. Dann kann jeder die Welt verändern, er braucht nur bei sich selbst zu beginnen! Doch das Wollen setzt Überzeugung voraus und diese gebiert sich aus der Selbsterkenntnis, der vermutlich schwierigsten Lektion von allen.“
Tja, wohin einen Überzeugung und Glaube bringen können, dass sehe ich ja gerade, wenn ich in den Spiegel vor mir schaue. Eine gebrochene Nase, vermutlich einen gebrochenen Wangenknochen, aufgeplatzte Lippe, ausgeschlagener Zahn. Dazu meine Klamotten... sie waren so schön, so trendy, so teuer. Und jetzt? Alles blutbesudelt, voll Dreck, kannst du nur mehr wegschmeißen...
Egal. Für meine Familie bedeutete Normalität das, was für viele ein kaum erreichbarer Traum blieb. In Wahrheit waren wir aber genauso arm waren wie die armen Schweine in South L.A. oder am Grenzwall zu Mexiko. Wir merkten es nur nicht, weil wir uns mehr und bessere Ablenkung leisten konnten. Immerhin hatten wir ein schönes Haus, neue Autos, genug Klimpergeld, zweimal pro Jahr Urlaub, im Winter meist Park City oder Vail, im Sommer auch auf andere Kontinente, vor allem Europa, dazu die entsprechenden Markenklamotten, gutes Essen, gelegentliche Gartenpartys... mein Eltern konnten es sich leisten, vor allem aber, sie mussten es sich leisten. Dad war Regionalleiter eines Vertriebs für medizinische Geräte und belieferte etliche Schönheitschirurgen im Umland der Traumfabrik bis runter nach San Diego und Mom war Personal Trainerin für unförmige, unausgeglichene und reiche Berufsehefrauen, die mehr Geld als Verstand hatten und irgendwann doch bei den Geschäftspartnern meines Vaters landeten. Familiär lief alles normal, meine Mutter hatte zwischendurch mal einen anderen und es wäre fast zur Scheidung gekommen, aber darüber sahen meine Eltern ganz upperclass-like hinweg. Und auch gesundheitlich ging’s uns gut, nur mein kleinerer Bruder hatte früher mit schwerem Asthma zu kämpfen, welches wir jedoch durch eine Wohnungssanierung in den Griff bekamen. Sie sehen also, ich lebte in einer Familie, die beste Bedingungen vorfand. Dennoch fehlte was. Aber das erkannten wir nicht, weil wir uns nur selten selbst hinterfragten. Was sind das auch für Fragen?! Was könnte einen glücklich machen? Oder glücklicher? Was will man? Was will man wirklich? Was könnte man überhaupt wollen? Absurde Fragen, oder? Daher wollten meine Eltern, mein Bruder und auch ich einfach das, was Menschen in unserem Milieu und unserer Steuerklasse halt so zu wollen haben. Das Schlimme dabei war nur, dass wir nicht mal wirklich reich waren. Bestenfalls gehobenere Mittelklasse. Wären wir Autos gewesen, wir wären wohl Lexus oder Mercedes gewesen. Aber M-Klasse, nicht CLX. Auf keinen Fall Ferrari oder Lamborghini, geschweige denn Fuore GT. Letztlich verkauften wir uns recht billig, finden Sie nicht? Das begann ich langsam zu durchschauen, auch dank Dawn. Ich traf sie nie wieder.
Sie sehen schon, ich war ein echtes Kind meiner Zeit. Mit jeder Faser meines Körpers und, noch schlimmer, jeder Mikrosekunde meines Denkens dem gehobenen konsumativen Mainstream verpflichtet. Ich war der Prototyp jener Generation Mensch, die sich nicht über Ideologien oder politische Überzeugungen definierte, sondern ausschließlich über die Marken seiner Schuhe, Hosen, Jacken und letztlich auch MP3-Player. Das Leben als Lifestyle und dieser wiederum als private Corporate Identity, sponsored by Hilfiger, Nestle and DaimlerChrysler.
So wuchs ich schließlich mit all den Segnungen des modernen Lebens auf, die man einfach zum Wohlfühlen braucht – vor allem zum Wohlfühlen der Manager und Investoren diverser Großkonzerne. Mein Bruder und ich beispielsweise hatten alles, was wir wollten. Vor allem materiell, aber auch emotional ging uns nichts ab. Zumindest fragten wir uns nie, ob es da noch mehr geben könnte, als das gemeinsame wochenendliche familiäre Mittagessen, den Kinderhort für Besserverdiener oder die ghanesische Putzfrau, die dreimal die Woche hinter uns herräumte. Selbst wertvolle Gespräche gab es in unserer Familie. So redeten unsere Eltern regelmäßig mit uns, in der Regel mehrmals täglich, wenn auch nur via Handy. Und wenn es mal nicht so klappte und unsere Eltern erkannten, dass sie zu wenig Zeit für uns hatten, na, dann gab’s schon mal ein kleines Präsent. Ganz ohne Geburtstage, Weihnachten oder Namenstage. Einfach so, weil uns unsere Eltern lieb hatten. Entsprechend sammelte sich in unseren Zimmern der Krempel an wie in einem Museum für zeitgenössisches Spielzeug. Guter Krempel, schöner Krempel, teurer Krempel. Ich hatte jede Spielkonsole, die man als Kind haben musste plus einen Computer. Alle zwei Jahre neu. Oder waren wir länger mit dem Auto unterwegs, hatten wir einen tragbaren DVD-Player dabei, damit uns nicht langweilig wurde, auf unseren Weltreisen von den Palisades nach Burbank. Oder Handys? Na klar, meist die neuesten, auch wenn sie in unserer Kindheit nur prepaid waren. Tja, und da mein Vater ganz verrückt nach Musik war, vor allem dem Zeug aus den Achtzigern, bekam ich auch bald meinen ersten iPod geschenkt. Es war ein iPod mini in Silber mit einer Gravur auf der Rückseite: Mögest du deinen Rhythmus im Leben finden!
Kreativ, was? Und so ganz und gar nicht zynisch, wenn man an die Jahre danach denkt, nicht wahr? Aber der Reihe nach... verdammt! Meine rechte Wange ist dermaßen zugeschwollen, ich sehe nur mehr die Hälfte auf der Seite. Der Rest ist von einem höllisch brennenden Berg aus dunkel unterlaufener Haut und geschwollenem Fleisch verstellt. Ein Insekt müsste man sein und seine Augen ausfahren können. Apropos ausfahren. Irgendwann muss ich auch wieder aus diesem Scheißhaus heraus, kann ja nicht ewig hier herinnen bleiben. Auch wenn ich das gerne würde. Wäre einfacher...
Aber kommen wir wieder zurück zu mir und meinen iPods. Ich sage bewusst iPods, denn ich hatte sie alle, hab die ganze Evolution mitgemacht. Na ja fast alle, bis auf die ersten eben, da war ich ja noch zu jung. Wie auch für die damalige Diskussion, ich kenne sie nur aus den Berichten im Internet. Da gab es tatsächlich einige Soziologen, die vor möglichen Gefahren durch die De facto Einengung des geistigen und sozialen Blickfelds im Zuge der steigende Verbreitung der iPods im öffentlichen Raum warnten. Narzistische Ich-Welten wurden da heraufbeschworen mit sozialen Zombies, die gerade soweit in die Zukunft dachten, wie der Akku hielt. Der Untergang der Zivilisation befürchtet, wie seit je her, nur dieses Mal eben untermalt mit komprimierter Musik von der Festplatte. Anfangs tat man das noch als Negativprophetie ab, übertrieben dramatische Prognosen technologie- und spaßfeindlicher Intellektueller, die in ihrer Jugend wohl auf zu wenig Partys eingeladen worden waren. Man hielt ihnen entgegen, dass es eine ähnliche Diskussion schon gut fünfundzwanzig Jahre vorher gegeben hatte, damals unter dem Titel „Walkman“ von Sony. Und was war passiert? Nichts! Der Walkman hatte die Welt nicht verschlechtert, keine Kriege ausgelöst, ja bestenfalls sogar welche verhindert, weil ein paar Millionen Teenies endlich überall ihre Lieblingsmusik laut bis zum Anschlag hören konnten, ohne ihre Umwelt damit zu belästigen.
Wie die meisten Vergleiche hinkte aber auch dieser. So war der Walkman ja nicht ansatzweise mit dem iPod vergleichbar, es war wie das Duell zwischen einem Vorderlader aus dem Unabhängigkeitskrieg auf der einen und einer FN Herstal F2000 Vollautomatik mit integriertem Granatenwerfer auf der anderen Seite. Sowohl in Punkto Qualität als auch Quantität der Musikstücke. Hier bestenfalls ein paar Audio-Kassetten, die man ständig bei sich hatte, dort ganze CD-Sammlungen mit Hunderten Stunden akustischen Zeitvertreibs, die man in einer halben Zigarettenschachtel mit sich herumtrug. Aber das war ja nur der erste Schritt in der langen iVolution. Größerer Speicher, Farbdisplay, Fotospeicher, iTrip, die simplen RSS-Feeds, die psychedelisch-bunten Skins; leistungsstarke Funkkopfhörer im Miniformat, semitautomatischer formatungebundener Datentransfer, Videoplayer mit den iVR-Brillen, Filmbibliothek, Netzwerktauglichkeit zu anderen iPods, das Alpha-Pod-Prinzip mit einem Leitgerät, das den Takt vorgibt; kabelloser Netzwerkbetrieb mit immer mehr Geräten des Alltags wie Handy oder Organizer; elektronische Geldbörse, e-Tickets und letztlich die ultimative Weiterentwicklung der RSS-Feeds – WLIVE und iProdcasting. Von nun an ohne zeitversetzten Download von MP3s, die ohnehin zum qualitativ hochwertigeren MPX wurden, jetzt sogar in Echtzeit und dank modernster Funknetze fast überall in der zivilisierten Welt empfangbar. iRadio eben.
Tja, und ich machte diese ganze Entwicklung mit, wurde mit ihr und durch sie sozialisiert, bekam so meine Werte vermittelt. Nicht über Tageszeitungen, Nachrichten oder das Internet, sondern primär durch zwei Kopfhörer. Über Musik. Ich war eines der später von Psychologen als „Heavy User“ klassifizierten Kinder. Durch die rasante iVolution wurde das Gerät zu meinem besten Freund. Umso mehr Funktionen es bekam, umso mehr wuchsen wir zusammen. Eine beinahe kybernetische Einheit. So hatte ich meinen iPod fast zehn Stunden am Tag auf, ich stand auf, suchte mir eine meiner Stimmung passende Playlist oder ließ das Gerät selbst eine intelligente Liste zusammenstellen, entsprechend der Spezifikationen, die ich in wenigen Sekunden in iMood, den intelligenten Playlisteditor eingab, schaltete ein und nahm das Gerät nicht mehr runter. Okay, in der Schule trug ich es nicht, und auch nicht unter der Dusche. Aber bei normalem Sport, sofern nicht ein Mannschaftssport mit Kommandos, trug ich ihn, meinen iPod. Beim Essen, Spazieren, Mitfahren in Autos, Bussen, Radfahren sowieso. Beim Lernen, Aufgaben machen, Lesen auch, ja selbst beim Zähneputzen hatte ich meinen iPod auf. Ist übrigens praktisch, du putzt ein Lied lang, damit werden die Zähne sauber und die Zeit vergeht wie im Flug. Nur beim Fernsehen trug ich meinen iPod nicht, aber ich hab nur mehr wenig ferngesehen zum Schluss, ehrlich. Fernsehen verträgt sich nicht mit dem iPod, also musste ich mich entscheiden. Selbst beim Sex hatte ich oft den iPod auf, zumindest bei Mädels, die ebenso iPodophil waren wie ich. Da legten wir los, sobald wird unsere „Fuck“-Playlists synchronisiert und auf „alternierenden Austausch“ gestellt hatten und schon wurden wir von unseren gegenseitigen musikalischen Vorlieben beim Vögeln überrascht und angeturnt. Oder auch nicht, denn es war nicht immer lustfördernd, wenn einem plötzlich nach einem geilen Hypehop-Song von der eigenen Playlist eine tragische Celine Dion entgegenweinte oder ein schmalziger Mister Barry White beinahe gefühlsecht vom iPod der Puppe herunter-tuntete. Aber was soll’s, als junger Bursche, der so cool war wie ich, hatte man immer einen Steifen. Selbst bei jenen akustischen Grausamkeiten, die man selbst nie auf die eigene Festplatte kopiert hätte.
Als die iPods letztlich ganz reale gesellschaftliche Implikationen zeigten, weil die kritische Masse an Benutzern überschritten war, kam es zur Explosion. Obwohl, dieser Vergleich mit einer gewöhnlichen Atombombe nicht ganz passend ist, denn es kam ja nicht zur Mega-Detonation, sondern eher zu einer heimtückischen Verstrahlung. Einem gefährlichen und sozial vieles verseuchenden Fallout, ähnlich dem Einsatz einer Neutronenbombe. Als es nämlich alleine in Amerika knapp fünfzig Millionen iPod-User gab, waren die Veränderungen in der soziologischen Struktur unseres Landes bereits zu weit fortgeschritten, um noch gegensteuern zu können. Sogenannte „Heavy User“ und „iPaddicts“ wurden zu einem vielfach untersuchten Phänomen, aber wie gesagt, der Zug war abgefahren. Doch ehe es soweit kam, sei noch ein anderes nicht ganz unbedeutendes Ereignisse in der iVolution erwähnt: die Mega-Fusion mit dem größten, mächtigsten und umstrittensten Softwarekonzern der Welt mit Sitz bei Seattle.
War der kalifornische Erfinder der kultigen iPods und anderer innovativer Computer- und Softwareprodukte Anfang des 21.Jahrhunderts dank seines kleinen tragbaren Musikplayers alleine schon sensationell erfolgreich gewesen, kam es spätestens nach dem Zusammenschluss mit den Dollars aus Redmond zum absoluten Siegeszug der neuen digitalen Lifestyleprodukte. Nun, wir alle können uns ja noch an die Demonstrationen damals erinnern, die gekränkte Apfelbauern gegen die Cashcow aus dem Norden veranstalteten. Oder die alibimäßigen Auflagen der Wettbewerbsbehörde, die Anhörungen im Senat und natürlich dem von einem oscarprämierten Regisseur inszenierten Treffen der beiden Konzernchefs inklusive Shakehands und Vertragsunterzeichnung vor dem Weißen Haus. Aber wir Amerikaner waren das gewohnt, ja fast stolz darauf, dass wieder einmal Wirtschaft, Macht und Geld gesiegt hatten. Ach, wir sind wirklich das Land der unbegrenzten Möglichkeiten!
Na, immerhin etwas Gutes hatte der Megadeal: Die kalifornischen Kreativ-Genies übernahmen Marketing und Softwaredesign des neuen Konzerngiganten MicroApple mit dem Effekt, dass wenigstens das fensterreiche, in Wahrheit aber ziemlich aussichtslose, nichts desto trotz marktbeherrschende Betriebssystem rasch durch einen Nachfolger ersetzt wurde. „Gates“, besonders gerne mit „Our Software – Open Gates“ beworben und namentlich sicher nicht vom Firmengründer in Redmond inspiriert, wurde zu einem echten Meilenstein in Punkto Benutzerfreundlichkeit, Stabilität und Funktionalität und stand dank der enormen Marktmacht und –penetration somit auch der Masse der Dummie-User zur Verfügung.
Aber okay... ich hoffe, Sie verzeihen mir, jetzt bin ich wohl wieder zu sehr in die iVolution abgetaucht, das alles wissen Sie ohnehin. Eigentlich wollte ich ja erzählen, wie ich hierher kam. In dieses stinkende Loch einer öffentlichen Toilette. Blutverschmiert, mit gebrochener Nase und weiteren Läsionen. Soeben einem Bombenanschlag in der U-Bahn entkommen. Mitten im Big Apple. Hm, Apple scheint wahrlich mein Schicksal zu sein, was?
Jedenfalls, die verschiedenen iPod-Modelle wurden zu den ersten echten digitalen Mode-Accessoires der Geschichte, von Handys vielleicht mal abgesehen. Obwohl, bei Handys gab es eine viel zu große Fluktuation, ständig neue Modelle, sodass keine Firma oder Modell wirklich dominierend wurde – anders beim iPod. Wer ein tragbares Mediacenter erstehen wollte, konnte entweder zur Quasi-No-Name-Konkurenz von Sony oder Philips oder Nokia greifen und sich eine Kopie des Kults zulegen oder eben gleich das Original kaufen, auch wenn das ein paar Dollar mehr kostete. Aber was war das schon, wenn man zum Beispiel für 499 Dollar die Mitgliedschaft in einer Kultgemeinschaft erwarb und sich mit dem Mythos von Jugend und Dynamik umgeben konnte? Man kein Gerät, sondern eine Philosophie kaufte? Und quasi gratis dazu ein tragbares Mediacenter wie den iPod Ultra G2 bekam. Förmlich geschenkt! Ein guter Deal, nicht?
Weil das die meisten Menschen so sahen, ritt MicroApple dank ständig neuer Designideen mit dem iPod als Surfbrett auf einer Welle des Erfolges direkt in den Musik-Olymp. Von den Forbes 100 ganz zu schweigen...
Tja, und ich glaubte ebenfalls auf dieser Welle mitzureiten, einen Platz an der Sonne der modernen Spaßgesellschaft zu haben. Nur ich, Strand, Sonne, warmes, blaues Meer und mein Surfbrett. In Wahrheit aber war es das Heer der iPodder, das die unzähligen kleinen Tropfen der Welle bildeten und Milliardenschwere Wallstreet-Investoren saßen am Strand, tranken ihre verdammten Martinis und legten trotz ihrer hohen Stirn Giga-Models flach.
Warum ich das damals alles nicht sah, wollen Sie wissen? Nun, vermutlich weil ich mit dem iPod groß geworden bin. Die Musik in meinen Ohren hat vieles übertönt, warnende Stimmen ebenso wie liebende Menschen, die sich eigentlich nur um mich gesorgt haben. Sich um mich kümmern wollten, mir helfen. Die Augen wurden mir erst vor etwa drei Jahren geöffnet, dank iBuddha.
„Sehen ist besser als Hören. Aber Handeln ist besser als Zusehen!“, war einer seiner Leitsprüche. Auch wenn ich diese mittlerweile legendären Sätze von iBuddha schon länger kannte, verstand ich unter Handeln nur, die Lautstärke meines iPod hochzufahren. Und dank diverser Vorgänge in der Welt, der Politik, der Gesellschaft, ja selbst meiner Familie, war mein iPod fast immer bis zum Anschlag aufgedreht. Passte mir die Welt nicht, dann suchte ich mir ganz einfach ein passenderes Musikstück. Dank zigtausender Songs auf meinem iPod MC, meinem MediaCenter, war das ja kein Problem. So konnte ich bald nicht mehr ohne iPod leben. Nein, ich spreche nicht davon, ohne Musik nicht mehr leben zu können. Ich meine wirklich meinen iPod! Wieso?, fragen Sie jetzt? Wie kann es so etwas geben? Ganz einfach, der iPod bietet etwas, was kein Radio oder eine noch so gute Surround-Anlage bietet, nämlich konstante Lautstärke auf Schritt und Tritt! Diese Kleinigkeit ist wohl das Ausschlaggebende. Bald vergisst man, dass man das Gerät und die kleinen Funk-Kopfhörer, die wie Mini-Hörapparate oder In-Ears sind, trägt und schon ist es, als käme die Musik direkt aus dem Kopf. Hat man dann noch auf „Zufallsbetrieb“ gestellt, erscheint es, als käme die Musik direkt aus dem eigenen Unterbewusstsein. Und vielleicht, wenn man ganz genau hinhört, findet man in einer solchen, angeblich zufälligen Playlist eine Botschaft des Unterbewusstseins, des Schicksals, ja vielleicht sogar Gottes. Der offenbart sich ja oft als Stimme im Kopf. iPod, iGod!
Das ist kein Scherz, das wissen Sie! Denken Sie nur an die unzähligen Blogs im Internet, in denen an sich vernünftige Menschen schildern, wie die Musik, die sie zufällig hörten, im Nachhinein betrachtet, durchaus als eine Art Wink des Schicksals gedeutet werden kann. Die warnende Stimme höherer Instanz, einem digitalen Orakel gleich. Diesmal aber nicht bloß weich umrissener Esoterik entsprungen, sondern direkt von dem kommend, worauf unsere moderne Zivilisation fußt – Technologie.
So hatten wir unseren neuen Gott gefunden und entsprechend waren die Propheten und iPostel auch nicht weit. Im Zuge der iVolution entwickelten sich ja sehr rasch die RSS-Feeds, jene auf „Really Simple Syndication“-basierende Technologie, die es beinahe jedem ermöglichte, eigene „Radiosendung“ via Netz unkompliziert der ganzen Welt zum Download zur Verfügung zu stellen. Anfangs nur aus gesprochenen Worten bestehend, ohne Musik, um Klagen der Plattenindustrie zu entgehen. Doch gerade in jene Anfangsjahren, so ab der Mitte des ersten Jahrzehnts im neuen Jahrtausend, wurden die späteren Stars der Branche empfangen, ausgetragen und in den Folgejahren geboren. iBuddha war einer von ihnen. Und er verwandelte wie die meisten Berufenen Schwächen in Stärken, Wasser zu Vodka. So war es gerade die Not, keine Musik verwenden zu dürfen, die diese modernen Prediger wortgewaltiger und witzreicher werden ließen als alle abgehalfterten Late-Show-Moderatoren und Stand-up-Comedians im Hauptabendprogramm zusammen. Sie setzten sich mit der Reinheit ihrer Stimme und der Klarheit ihrer Gedanken gegen einen schier endlosen Kanon an komprimierter Musik durch. Sicher, es dauerte einige Jahre, aber als sie später, in meinen Teenagerjahren, über die Abrechnungssoftware iCash auch Musik verwenden konnten, war ihr Siegeszug nicht mehr aufzuhalten. Viele von ihnen verkauften sich schließlich an die Industrie, wurden zu hochbezahlten iProdcastern und Moderatoren. Aber gerade jene, die auch dann noch im Untergrund blieben und fast nur auf das gesprochene Wort setzten, sie waren die wirklichen Stars, genossen die Mythen um ihre Person, ihre zumeist unbekannte Identität. iBuddha blieb sich selbst und der Sache wohl am längsten treu. Aber anscheinend ist gerade das ein Zeichen für anrollende Gefahr.
So war gerade er es, der mit immer neuen Ideen Er-iGnisse und iVents initiierte, jene für Nicht-iPodder scheinbar spontanen und skurrilen Veranstaltungen, die uns iPoddern aber so viel Gemeinschaft und Kommunität suggerierten. Sinn stifteten. Wir bekamen endlich das, was meiner Generation so lange vorenthalten wurde und was angeblich schon längst überholt war, vermutlich aber noch nicht in Tausend Jahren zu tiefst in uns drinnen stecken wird, nämlich das Bedürfnis nach Spiritualität. Nach Tiefe, einem Glaubensgeheimnis. Jenem Geheimnis, das mit bloßem Verstand nicht zu fassen ist, den großen Weltreligionen aber seit Urzeiten zugrunde liegt. Da wir, die Generationen ab den Achtzigern etwa, stattdessen im Glauben an die Überlegenheit der Technologie und die alleinige Herrschaft des Intellekts erzogen worden waren, fehlte uns dieses primitive und scheinbar antiquierte Element des Lebens vollständig. Nur um schließlich von einem unnatürlichen Surrogat ersetzt zu werden, dem iPod. Genau wie beim Essen. Anstatt sich gesund und biologisch zu ernähren bevorzugen die meisten Menschen es, zweimal am Tag ihre künstlichen Vitamine in Pilleform zu einzunehmen. Als ob das ein gesundes Leben, ob nun körperlich oder geistig, ersetzen könnte...
Nun, wenn Sie mich anschauen, sicher nicht. Immerhin, ich bin gerade einem Terroranschlag entkommen der in direktem Zusammenhang mit missverstandener iPhilosophie steht. Zum Glück bin ich mit dem Leben davon gekommen, aber das nur, weil etwas schiefgegangen ist. Der Faktor Mensch wieder versagt hat. Tja, ich werde mich dann bald mal auf die Socken machen, wieder raus. Mal schauen, ob da noch Hilfskräfte draußen sind. Und Cops. Aber keine Sorge, zuerst erzähle ich Ihnen meine Geschichte fertig, versprochen!
iBuddha war der wohl wichtigste iPostel von allen, seine Show, oder besser, sein iVangelium war emotional und einprägsam, durchaus philosophisch und dennoch schlicht. Aber ist die Wahrheit nicht immer schlicht? Oder sind es nur schlichte Gemüter, die die Wahrheit für simpel halten? Wie dem auch sei, iBuddhas Sendungen regten zum Nachdenken an. Über die wahren Werte des Lebens. Er setzte einem Flausen in den Kopf, kleine unscheinbare Ideen pflanzten sich über die Ohrenhörer direkt in unser Gehirn fort und nisteten sich in jeder einzelnen Zelle unseres Geistes ein und machten viele aus meiner ankerlose Generation, die nur für Trendlisten und unkomplizierte Unverbindlichkeiten lebten, tatsächlich tiefsinniger. Viele erkannten, dass es eben mehr gab, als nur die Mediafiles auf der Festplatte des eigenen iPod. So waren gerade die iVents Veranstaltungen, die einen tatsächlich an die Errettung des Menschen vor dem Menschen durch den Menschen selbst glauben lassen mochten. Zumindest, wenn man dabei war. Es war wahrlich überwältigend. Zum Beispiel das erste große iMeetU in New York, am Times Square. Ja, ich war damals, vor sechs Jahren, live dabei. iBuddha hatte nur zwei Sendungen vorher dazu aufgerufen. Er wollte wohl herausfinden, wie viele Menschen er mobilisieren konnte. Wie viele würden kommen? Wie viele Menschen würden dem Aufruf eines Unbekannten aus dem Internet Folge leisten, nach New York fahren und sich spontan an einem festgelegten Ort zu einer festgelegten Zeit zusammenfinden? Und gemeinsam einen einzigen Song anhören? Ich sag’s Ihnen: es kamen geschätzte zwölftausend. Zwölftausend iPodder, darunter nicht nur New Yorker, kamen um Punkt drei Uhr an jenem Freitag zusammen, genau zu jener Zeit, als die neue Sendung von iBuddha ins Netz gestellt wurde und hörten sich gemeinsam den ersten Song an. „Imagine“ von John Lennon. Und verstellten währenddessen mitsingend und mittanzend den Time Square. Also, die Straßen, nicht die Gehsteige. Sie brachten den Verkehr im Herzen Manhattans für diese drei Minuten und zwei Sekunden zum Erliegen. Alles stand still. Imagine, was diese Menschen noch alles erreichen konnten.
Der Trend war jedenfalls geboren, von nun an überschlugen sich die Ereignisse. In beinahe jeder großen Stadt gab es im Wochentakt spontane Zusammenkünfte von iPoddern. Gemeinsam verstopfte man für nur wenige Minuten, meist einen Song, Verkehrsschlagadern diverser Metropolen oder bildete Menschentrauben an Eingängen zu Bundesgebäuden und Ministerien, fing spontan auf großen Plätzen zu tanzen an oder bildete Menschenketten. Sie finden das lächerlich und kindisch? Nun, das war es vielleicht auch. Aber schließlich waren wir alle ja auch große Kinder. Menschen, die keine richtige Kindheit hatten und gerade deshalb nie wirklich erwachsen werden konnten, zumindest im Herzen und ihrer Seele, um iBudda zu zitieren.
Tun Sie diese iVents nicht vorschnell ab, nicht, wenn Sie selbst nie dabei waren. Ich war oft dabei, bin in der Gruppe marschiert, habe Hände von Menschen gehalten, die ich davor und danach nie mehr gesehen hab; hab endlos viele Freunde gewonnen und wieder aus den Augen verloren; spürte, wie der Geist einer größeren Sache, der heilige digitale Geist, uns erfasste und zu Werkzeugen des Glaubens machte. Und wenn Sie das immer noch für Blödsinn halten, dann waren Sie bestimmt nie der AlphaPod. Ich war es zweimal. Einmal in San Francisco vor vier Jahren. Ich führte für einen Song lang den iWalk an. Und hinter mir, in einer Reihe, die mir endlos lang erschien, Hunderte iPodder. Sie bewegten sich zu meiner Musik, akzeptierten meinen Rhythmus, meine Vorgabe. Die Passanten starrten uns an, die Cops konnten nichts tun, alle Augen waren auf uns gerichtet. Dutzende Touristenkameras und Webcams inklusive.
Doch das überragendste Ereignis war ein iRave vor drei Jahren. Mehr als dreitausend Menschen im Strawberry Canyon bei Berkeley, per Zufallsgenerator wurden AlphaPods ausgewählt. Ich kam nach fast fünf Stunden dran, vier grelle Scheinwerfer erfassten mich und meinen iPod. Genau einen Song lang. Es war überwältigend, wie ein Orgasmus im Kopf. Nein, nicht nur im Gehörtrakt wie sonst, wenn ich gute Musik hörte, diesmal war es das totale sensorische Erlebnis. Für alle Sinne! Mein Gott, sie waren doch noch da. Sehen, Riechen, Schmecken, Tasten. Nicht bloß das Hören, auf das ich mich selbst so lange reduziert hatte. In jener Nacht veränderte sich alles. Das laue Kühl der Natur vermischt mit dem Schweiß der iRaver, die bis zum Anschlag aufgedrehte Musik in unserer Kopfhörern, ansonsten nur die leise, ekstatische Spannung der Tanzenden spürbar, dazu das Meer an blauen LEDs, die in den Ohren der iRaver leuchteten. Als meine fünf Minuten Ruhm vorbei waren, drängte ich nach außen, an den Rand, erklomm eine Beleuchtungsrigg und blickte auf die iPodder zu meinen Füßen. Da fiel es mir wieder ein. Eine der ersten Sendungen von iBuddha, die ich heruntergeladen hatte. Er schien Recht zu haben. In jener Nacht, nur auf die amorphe Masse unter mir starrend, auf die Brandung aus blauen Lichtern, da erkannte ich es. Wie die einzeln, beinahe gespenstisch zuckenden Körper sich drehten und wendeten, wie zum Rhythmus eines Trommlers, der seinen Takt unhörbar für Außenstehende in ihre Schädel hämmerte. Sich jedes einzelne Individuum in ein großes Ganzes einzufügen schien. Ähnlich einem Vogelschwarm, der seine Flugbewegungen scheinbar durch einer übergeordneten Intelligenz koordiniert. Oder wie eine Imme, die zwar aus vielen Tausenden Bienen besteht, aber letztlich gerade daraus eine Art übergeordnetes Wesen wird, ein größeres Bewusstsein herausbildet, die Individuen in sich aufsaugt, vereint und damit mehr erschafft, als bloß die Summe seiner Einzelteile. Eine höhere Form von Leben, soziale Intelligenz. So war es auch hier. In Wellen, welche die einzelnen Tänzer nicht kontrollierten, formierten sich menschliche Gebilde aus Dutzenden homogen agierenden Clustern, die ihrerseits wiederum in einem größeren Ganzen Dynamiken hervorbrachten und miteinander kommunizierten. Zum ersten Mal erahnte ich jene übergeordnete Kraft. Atmend, schwitzend, keuchend, tanzend. Das war sie. Das war jene große Welle, von der ich und meine iPodophile Generation immer geträumt hatten. Anstatt wie bisher jedoch nur die einzelnen Tröpfchen zu sehen, zu denen auch ich gehörte, erkannte ich in jener Nacht erstmals das übergeordnete Ganze. Die große gigantische Welle, den gewaltigen Tsunami.
Von da an begann ich mich intensiver mit der Gedankenwelt von iBuddha zu beschäftigen. Las alles, was ich über ihn in die Finger bekam. Kurioserweise musste ich dazu noch viel mehr über die Dinge lesen, die nichts mit ihm, wohl aber der Welt um mich herum zu tun hatten. Der Gesellschaft, der Politik, der Wirtschaft, den wechselseitigen Verstrickungen. Ich hatte, so sah es aus, Sinn abseits des Konsums und des Lifestyle gefunden – kurioserweise durch das Lifestyleprodukt par excellence! Erst jetzt erkannte ich, welch wertvolles Instrument der iPod in Wahrheit war. Zu lange hatte bloße Musik mein Trommelfell und letztlich auch Gehirn penetriert und vernünftiges Denken mit lauten Beats übertönt. Jetzt endlich erkannte ich die wahre Macht des iPod: es war die Aufklärung des Menschen. Über die Ohren schienen mir endlich die Augen geöffnet zu werden! Plötzlich hatte ich persönlichen Zugang zu jenen Gedanken, die ich vorher von iBuddha zwar gehört, aber nicht wirklich begriffen hatte. Wenn er zum Beispiel predigte, dass wir die Finger von Drogen lassen sollten. Drogen wären ein Werk des Teufels in Kooperation mit unserer Regierung.
“Ihr alle kennt „1984“ und „Big Brother“? Ihr glaubt, das sei bloße Literatur, reine Fiktion? Ich aber sage euch, es ist real. Unsere Regierung steckt tief im Drogengeschäft drinnen. Es ist ja das einzige noch lohnende Geschäft. Also, nehmt keine Drogen, sonst unterstütz ihr euren Feind! Ihr wollt aufputschende Drogen für einen iRave etwa? Dann kauft ihr XTC, Wako oder ähnliches und es wird euch aufputschen. Aber es lässt auch euer Herz rasen, euren Körper austrocknen, eure Sinne blenden. Und powert euch letztlich aus! Damit ihr für die Wahrheit, die unsere Regierung vor uns verbirgt, keine Kraft mehr habt. Ja nicht mal die Kraft habt, Fragen zu stellen. Oder ihr wollt was Beruhigendes, Entspannendes? Ihr kauft ein bisschen Weed oder CDP? Auch dahinter steckt die Regierung und auch davon profitiert sie. Wie? Seid ihr zu müde oder zu zufrieden, dann stellt ihr auch keine Fragen mehr. Ergebt euch eurem Schicksal wie ein paar Lemminge. Und ehe ihr euch verseht, seid ihr schon über den Abgrund getreten. Drogen dienen nicht euch, sondern nur unserem Feind.“
Und endlich vermochte ich jene ersten Sätze von iBuddhas mittlerweile legendärer dreizehnten Sendung zu verstehen, die so anfing:
„Du fragst dich oft, ob es bessere Songs und Software für deinen iPod gibt? Woher du neue Powerpacks bekommst, hochwertigere Earphones? Ich aber sage, das sind bloß Fragen, deren Antworten bestenfalls die Nebensätze echter Wahrheiten sind. Die zentrale Frage ist vielmehr, siehst du deinen iPod als Bildnis des Lebens? Deines Lebens? Hörst du nur Popmüll oder benutzt du ihn, um deinen Horizont und dein Bewusstsein zu erweitern? Das Werkzeug ist da, du warst schon immer da. Nun liegt es an dir, es endlich zu nützen. Deine Zeit ist gekommen.“
Die Zeit schien wirklich gekommen. Und je mehr Menschen mit iPods herumliefen, desto mehr iVents und Er-iGnisse gab es. An einem Aktionstag vor zwei Jahren versammelten sich in über einhundert europäischen Städten fast zwei Millionen iPodder – quasi der Gründungstag der iRopäischen Union. Die Vereinigten Staaten von iMerika waren da schon längst gegründet, in unseren Herzen sowie Köpfen.
In jener Anfangsphase arbeitete auch ich aktiv mit, bereitete einige iVents vor, unter anderem den Durchmarsch von Laramie, wo wir friedlich vor der Konzernzentrale des namhaften Zigarettenherstellers demonstrierten. Knapp dreitausend iPodder aus der Umgebung konnte ich dafür mobilisieren, in einer über einen Kilometer langen Zweierreihe marschierten wir zum Rhythmus meiner „iDoLaramie“-Playlist durch den Ort bis zum Hauptquartier des Konzerns. Als die Cops auftauchten, löste sich unsere „spontane“ Zusammenkunft gleich wieder auf.
Doch wie das oft so ist, wenn viele Menschen „wir“ sagen, gibt es bald einige, die „ich“ sagen. Dort, wo viele gemeinsam marschieren, wollen alsbald wenige ausschließlich vorne marschieren, die Richtung vorgeben. So war es schon immer und so wird es wohl auch immer bleiben. Heute ist mir das klar, doch damals sah ich das nicht. Keiner sah es. Dabei war es so offensichtlich. Schließlich leben wir in einer iWorld mit all unseren iPods, iRaves, iVents und iFriends... im Wort „Team“ gibt es aber kein „i“!
Entsprechend bildeten sich auf Basis von iBuddhas Lehren bald kleine Fraktionen, die zunächst nur iVents organisierten. Da ein kurzzeitiges Abriegeln eines Regierungsgebäudes durch eine iPodder-Menschenkette, dort das Aufhalten des Verkehrs zur Rushhour; hier eine Gruppe, die im hunderte Meter langen Gänsemarsch durch Shopping Centers schritt und Kunden enervierten, da das Einfallen ganzer iPodder-Horden wie eine Heuschreckenplage in kleine Ortschaften. Auf den ersten Blick sorgten diese zunehmend politischeren iVents bloß für mehr Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit und in den von allen vergötterten Medien. Letztlich wurden so aber Millionen iPodder immer wieder mobilisiert und in Reserve gehalten. Was für die Masse ein Spiel war, ein wenig ziviler Ungehorsam, war in Wahrheit nur das Vorspiel, bestenfalls ein vorsichtiges Streicheln durch das Höschen.
Die iGeneration hatte erkannt, dass es mehr gab, als nur Konsum und Passivität. Trendlisten im InStyle Magazine und Werbung alle sieben Minuten im TV. iBuddha ordnete politische Aktionen aber niemals an, dazu war er zu clever, er regte sie höchstens an.
„Wie es wohl wäre, wenn man Konzernmanager, der ihre Mitarbeiter gewerkschaftlich ausbooten und keine Sozialleistungen zulassen, obwohl das Unternehmen seit Jahren fette Gewinne schreibt, endlich mal selbst am Leben hinderte? So wie sie es mit ihren Angestellten tun? Wenn man beispielsweise dafür sorgt, dass sie ihre Konzernzentrale nicht mehr verlassen können. Sollen sie doch die ganze Nacht bei und in ihrer Hure, der Firma, gefangen sein, weil sie ein Cordon eng tanzender iRaver am Verlassen hindert...“
Sie sehen, wohin das führte? Die anfangs aus reinem Spaß veranstalteten Er-iGnisse wurde immer mehr zu einem politischen Instrument. iBuddha zeigte uns Wege auf, er war eine Art Guerilla-Kämpfer mit dem iPod als Waffe und seinen WLIVE- beziehungsweise iProdcasting-Sendungen als Munition. Letztlich war und blieb er nur der Waffenlieferant, an der Front kämpfen mussten andere.
So wurden seine Sendungen im Internet bald zu dem, was wir Amerikaner so sehr an anderen Völkern hassten und weswegen wir sie, zumeist in ihrem eigenen Land verfolgten, jagten und aus ihrer Slums bombten. Sein iProdcasting war zum westlichen Ebenbild fanatisch-radikaler Koranschulen geworden. iProdcastings und iVents dienten dem Vertrautmachen mit der Botschaft, der Indoktrination, der Instrumentalisierung, der Vorbereitung auf Taten. „Handeln ist besser als Zuschauen!“ könnte eine Sure aus dem Koran der iPodder lauten. Und wie in Koranschulen wurden auch bei uns die Besten, die Elite, zum Kaderpersonal auserkoren. Sie waren die Auserwählten im Kampf für eine höhere Sache.
So gab es den makabren Scherz unter iPoddern, die trotz der Funktechnologie wieder auf die legendären weißen Kopfhörerkabel zurückgriffen, diese nur deshalb zu tragen, da man nur damit einen Feind erwürgen könne. Zum Erschlagen waren die Funk-EPs ja zu leicht...
Was folgte, waren immer mehr „Aktionen des Unfugs“, die später zu „Aktionen des Ungehorsams“ gesteigert wurden und letztlich die Vorstufe für den iTerror bildeten. Zu jener Zeit, so vor etwa zwei Jahren hatten sich die ersten Splittergruppen bereits etabliert. Überall im Land. Überall in der zivilisierten, vernetzten und globalisierten Welt. Keiner wusste wie viele es waren, keiner wusste genau, wozu sie bereit waren. Doch die Welt sollte es bald erfahren. So wie gerade eben in der U-Bahn hier in New York.
Zu jenem Zeitpunkt hatte man natürlich längstens versucht, iBuddhas Sendungen abzudrehen, aber probieren Sie das mal in einem dezentralen weltweiten Netzwerk. Keine Chance! Ganz davon abgesehen, iBuddha war ja nur einer von mehreren Radikalen. Er war nicht mal der radikalste, wohl aber der charismatischste.
„Manchmal muss Leid eine kleine Gruppe von Menschen heimsuchen, um eine größere zum Nachdenken zu bringen. Und letztlich zu einer Kurskorrektur!“, sagte er mehrmals, das erste Mal in Sendung Nummer 119. Die Zahl war kein Zufall!
Und schon wieder wurde in den kleinen radikalen Zirkeln und Zellen debattiert, was er damit anregen wollte. Sollte vielleicht mehr geschehen als bloß eine „Aktion des Unfugs“? Sollten Auslagenscheiben diverser Nobelboutiquen nächtens nicht mehr nur mit blutigen „$“-Zeichen und Abdrücken von Kinderhänden beschmiert werden? Oder die Nobelkarossen eines Luxusautohändlers nicht bloß zerkratzt? Worauf wollte iBuddha hinaus? Sollten man vielleicht die Scheiben der Boutiquen einschlagen? Oder gar Brandsätze in die Geschäfte geworfen werden? Oder dem Autohändler als Handlanger des Kapitals sogar aufgelauert werden? Ihm eine gehörige Abreibung verpasst werden? Menschen, nicht bloß Dinge attackieren, ja ging das überhaupt? Durfte das sein? Konnte das sein? Oder musste das am Ende gar sein?
Die „Aktionen des Unfugs“ wurden immer häufiger zu „Aktionen des Ungehorsams“ und „Aktionen der Zersetzung“. Schwere Sachbeschädigung stand bald an der Tagesordnung, selbst kleine Kids fanden es cool, Fensterscheiben teurer Autos einzuschlagen, während sie ihren iPod trugen. Doch das war nichts gegen das, was noch kommen sollte – den iTerror.
Es hatte mit jener Generation begonnen, die sich über Markenkleider, teure Autos und andere banale Oberflächlichkeiten definierte und sollte von eben dieser Generation, nachdem einige scheinbar sehend wurde wie einst Saulus, beendet werden. iTerror als letzter Trend für die trendgeschädigte westliche Gesellschaft.
Die Agitation von iBuddha und anderer Radikaler wie Muktada iSadre verschärfte sich. Die Frage war nicht mehr, ob eine kleine Gruppe Leid ertragen musste, um zum Umdenken im größeren Rahmen beizutragen. Die Frage war ausschließlich, wie viel Leid diese bestimmte Gruppe ertragen musste. Welche Gruppe es war, schien klar: es konnte nur das Establishment sein. Jene Menschen, die dank ihrer Familienzugehörigkeit, ihres Aussehens und ihrer wirtschaftlichen Position nie Sorgen hatten, sie mussten lernen, was es heißt, zu leiden. Denn nur, wenn jene, die an den Hebeln der Macht saßen, betroffen wären, würde sich etwas ändern. Man musste sie zwingen, selbst im Boot zu sitzen und auf den Abgrund zuzufahren, erst dann konnte man erwarten, dass sie auch wirklich mit allen Mitteln entgegensteuerten.
Aber wie das in gesellschaftlichen Transitionsphasen immer so ist, führten diese harten didaktischen Lektionen der iTerroristen anfangs nicht zum entsprechenden Ergebnis. Landesweit wurden Splittergruppen und Zirkel, denen man terroristische Aktivitäten unterstellte, ausgehoben. Nachrichtensendungen berichteten von Verhaftungen und landesweit suchte das FBI nach iBuddha, Muktada iSadre, iDi Amin, der iRA und iSama bin Ladens iKaida, vergebens. Der Versuch der Staatsgewalt alle iPodder zu dämonisieren führte nur dazu, dass Kinder keine iPods mehr geschenkt bekamen. Aber die Jugendlichen und Erwachsenen, jene, die zwar keine iTerroristen waren und dennoch einsahen, dass in unserem Staate etwas schief lief, kauften und trugen ihre iPods auch weiterhin. iPodder ist gleich iTerrorist! Das war zu simpel, selbst für unser Amerika.
Die Staatsgewalt versuchte fortan mit allen Mitteln seine Liebkinder, jene Menschen, die gleicher sind als andere, zu schützen. Eine Herausforderung für echte Radikale. Sowohl in der Wahl der Mittel als auch deren Drastik. Entsprechend agierten die radikalen Zellen noch geheimer, präziser, schneller und vor allem aggressiver. Letztlich, vor etwa einem Jahr, kam es zur ersten von mehreren Gruppen akkordierten „Nacht der Anarchie“. In sieben Städten von der West- bis zur Ostküste kam es zu Anschlägen. Anschlägen mit großem Sachschaden und ersten menschlichen Opfern. Spätestens jetzt kippte die öffentliche Meinung, echte Verbrechen waren begangen worden, womit der Schritt radikaler iPodder in den Untergrund vollzogen werden musste. In jenen fanatischen Kreisen galt mehr denn je: Staatsterror kann nur mit iTerror bekämpft werden!
„Ein großes Feuer kann vieles zerstören. Aber ich glaube an die Kraft der Herzen unserer großen Nation. Gerade wenn sie in Schutt und Asche liegt wird sie sich ihres wahren Charakters und ihrer wahren Stärke besinnen, die ökonomisch basierte Intoleranz aufgeben und sich in ungeahnter Anmut wieder erheben. Wie einst Phönix aus der Asche wird sie sich aufschwingen zu neuen Höhenflügen auf ihrem Weg in eine glorreiche Zukunft für uns alle! Es liegt an euch, diese Zukunft mitzugestalten.“, waren die letzten Worte der letzten Sendung von iBuddha, ehe er nach 451 Folgen aufhörte zu senden. Er wurde nie aufgespürt.
Dafür begannen die Mitglieder der fanatischen Kleingruppen, von denen es etliche Dutzend überall in den Staaten gab, seine Worte zu analysieren. Was wollte er damit sagen? Sollte iKaidas „Nacht der Anarchie“ kein einmaliges, tragisches Ereignis bleiben? War das bloß der Auftakt? Und wenn iBuddha vom Mitgestalten der Zukunft sprach, meinte er damit das Mitgestalten der Zeit nach der Revolution oder das Ebnen des Weges bis dahin? Durch iTerror? Ein reinigendes Feuer?
Eine Ironie der Geschichte war der iPod so gesehen schon. War er doch in den vorangegangenen Jahren zum Surfbrett des Markenfetischismus und Börsenerfolgs schlechthin geworden, wendete sich jetzt das Blatt komplett. Die iTerroristen begannen nun ihrerseits auf der Welle aus Angst, Unsicherheit und Paranoia zu reiten, kehrten die von George W. Push The Button so erfolgreich eingesetzten Mechanismen des Verfolgungswahns jetzt gegen das Regime selbst um. Höchst erfolgreich.
Wie? Also, abseits des ohnehin gewalttätigen iTerrors? Ganz einfach. Die iTerroristen hielten der Gesellschaft den Spiegel vor und brachten genau diesen zur Explosion. Die Opfer, jene, die so lange schier unstürzbar an der Spitze der Nahrungskette gestanden hatten, wurden angegriffen. Aber damit nicht genug, sie wurden auch zu potentiellen Tätern, Verfolgten stilisiert. Wie das? Nun, die Mächtigen, Hippen, Trendigen hatten ihre Uniformen, kleideten sich entsprechend omnipräsent beworbener Moden, eiferten Stilikonen nach. Und genau jene Schablonen griffen die iTerroristen auf. Oder besser gesagt, an. Sie schlugen das System mit seinen eigenen perfiden Waffen. So trieben die iTerroristen die Paranoia unter den Reichen auf die Spitze, indem sie verkündeten, sich auf dem Weg zu einem geplanten Anschlag genauso zu kleideten, wie es die neuesten Moden und Trends diktierten. Quasi den In&Out-Listen bis zum Tode verpflichtet. Sah man beispielsweise auf der Straße vor einem jemanden der aussah, als sei er einer Modezeitschrift entsprungen, an dem jedes kleine modische Accessoire stimmte, konnte er vielleicht ein iTerrorist sein, gerade auf dem Wege zum nächsten Anschlag. Und das sorgte für eine unterschwellige Stimmung der Angst. In seiner Umgebung, vor allem aber beim Träger diverser Nobelmarken selbst. Nun mussten sich die Modefetischisten und Etablierten abwertende Blicke gefallen lassen, wurden wegen ihres Äußeren abqualifiziert. Sie waren nun mit Schikanen konfrontiert und ihr Pilgerweg zum nächsten gesellschaftlichen Event wurde immer steiniger. Sehen und gesehen werden wurde zu einem problematischen Unterfangen, wobei die Metalldetektoren und Sprengstoff-Spürhunde vor so mancher In-Disko oder VIP-Club noch das geringere Übel waren.
Die iTerroristen hatten erfolgreich jenen fleischgewordenen übermodischen Abziehbildchen aus der Cosmo oder dem New Yorker den Stempel potentieller Terroristen aufgedrückt. Mit der Folge einer massiven Verunsicherung, ja eines echten Stilvakuums auf den Laufstegen Mailands und Londons bis nach New York. Jene, denen Mode alles bedeutete, wurde so der Lebensinhalt vermiest. Und zwar beträchtlich! Plötzlich war es nachteilig, sich jede Mode leisten zu wollen, zu können oder zu müssen. Eigener Stil schien wieder gefragt.
Ja, die Verunsicherung unter den Reichen und Mächtigen war der eigentliche iTerror. Diesen fetten Maden wurde das heimgezahlt, was sie so lange Zeit vorher so vielen Menschen, die in der Nahrungskette weiter unter ihnen stehen, angetan hatten. Sie wurden mit existentieller Unsicherheit konfrontiert. Also genau jenem Gefühl, das wohl jeder kleine Arbeiter und Angestellte kennt, wenn er sich seinem Chef stellen muss. Sofern er überhaupt noch eine Arbeit hat.
Trendlisten und In&Out-Charts wurden so zum Modeberater des iTerrors. Das gab dem Begriff des Fashion-Victims wohl eine neue Dimension, meinen Sie nicht auch? Wer genau dem Trend entsprach, konnte ein möglicher iTerrorist sein. An dieser plakativen These zerbrach unsere immer paranoider werdende Gesellschaft fast. Wie sollte man solche Terroristen aufhalten? Wenn sie sich doch genauso kleideten und gaben wie das Establishment? Genauso aufrecht gingen wie das Rückgrat der Gesellschaft. Rasiert und erhobenen Hauptes, in feinste Gucci-Klamotten gewandet, im geleasten BMW oder gemieteten Maserati zum Anschlag fahrend. In dieser Situation zeigte sich die wahre staatliche Ohnmacht, Großrazzien glichen verzweifelten Rundumschlägen, die viele Verdächtige iPodder in Bedrängnis, aber die wahren iTerroristen selten ins Gefängnis brachten. Dem Schutz der Opfer diente es aber keinesfalls.
Kommen wir aber nochmals zu den letzten Worten iBuddhas zurück. Als er von der Asche sprach und dem reinigenden Feuer. Es gab Anhänger, die diese Worte noch ganz anderes interpretierten. Vielleicht war das Feuer kein Symbol, sondern ein klarer Auftrag? Vielleicht sollten iTerroristische Anschläge nicht zum Tod der Handlanger des Systems führen, sondern diese nur zwingen, sich mit den Problemen der Nichtetablierten auseinanderzusetzen? Außenseitertum, Selbsthass, Unsicherheit. Vielleicht musste gerade die noble und schöne Park Avenue-Szene in das Boot der körperlichen Hässlichkeit gesetzt werden. Gezwungen, auf den Abgrund des persönlichen Leids zuzufahren, vielleicht würden sie dann zum ersten Mal wirklich um ihr Überleben rudern und mit ihrer mächtigen Sogwirkung uns alle mitretten? Sie sehen das nicht so?
Nun, ich sah das schon so. Ich nahm iBuddha wörtlich. Das reinigende Feuer bestehend aus Benzin und Orangensaftkonzentrat zu gleichen Teilen. Napalm. Zur Explosion gebracht während einer Modenschau für millionenschwere Bankergattinnen und verwöhnte Hotelerbinnen in einer extra für sie gesperrten New Yorker U-Bahn-Station. Coole Location, was?
Ich hätte mir anfangs nicht gedacht, dass ich es tatsächlich schaffe, durch die Sicherheitsvorkehrungen zu kommen. Aber wenn man sich als Lieferant des Gratis-5-Sterne-Fingerfood-Buffets ausgibt und einen diese ausgehungerten 5th-Avenue-Haie mit ihren Putzerfisch-Frauen schon erwarten, kommt man überall hin. Access All Areas dank Canapees! Toll, nicht? Was mich aber noch mehr wunderte war, dass ich nach dem Anschlag wieder rauskam. Dürfte wohl mit dem Chaos nach dem Ausbruch der Feuersbrunst zu tun haben. Überall der Rauch und der Gestank nach verbranntem Fleisch. Menschenfleisch. Eigentlich sollte ich auf meine Leistung stolz sein. Ich weiß nicht, ob tatsächlich jemand umkam, aber eines hab ich geschafft: durch das große Feuer müssen sich in Zukunft einige vormals schöne Menschen mit der Vergänglichkeit derselben auseinandersetzen. Ein schmerzhafter Prozess für sie. Dennoch kann ich mich nicht richtig freuen. Wie hab ich mir das im Vorfeld ausgemalt. Eine Website wollte ich gestalten und meine Erfahrungen haarklein schildern. Die letzten Augenblicke vor am Anschlag. Das Prickeln im Moment der Zündung. Mit einer Sammlung aller Medienberichte über den Anschlag. Und einer Liste der Opfer. Doch jetzt... hm... wenn du erst mal gesehen hast, wie Menschen um dich herum sich in lebende Fackeln verwandeln, sich ihre Haut ablöst, wie Zigarettenpapier kringelt, du ihre Schreie hörst, die Todesangst in ihren Augen heller lodert als die Napalmflammen auf ihrem Rücken, dann relativiert das die scheinbare Notwendigkeit zum Terror schon. Wenn man mitten drin ist, sieht man die Dinge plötzlich anders. Aber darüber will ich später nachdenken... ich will nicht ein weiteres Mal vergessen zu flüchten. So wie vorher, in der U-Bahn-Station. Hätte mich nicht die panische Masse mit ins Freie gedrängt, ich wäre vermutlich starr stehen geblieben und hätte mir mein Werk angeschaut. Der lodernde Catwalk, die brennenden Garderobenvorhänge, das menschliche Leid. Dante’s Inferno. Doch so... An der Oberfläche angekommen, musste ich mich neu orientieren. Klaren Kopf bekommen, mich meines Fluchtplanes besinnen. Bis plötzlich eine ältere Dame zu schreien anfing, dass ich einen iPod eingesteckt hätte. Tatsächlich, ein weißes Kopfhörerkabel hing mir aus der Tasche. Tja, und dann ging alles sehr schnell, da half nur noch rennen. Irgendwie schaffte ich es sogar vorbei an dem Schrank von einem Bodyguard, auch wenn ich mir dabei zwei Hiebe mitten ins Gesicht einfing. Aber in Panik mobilisiert man übermenschliche Kräfte. Und eben diese ließen mich rennen wie nie zuvor. Weg vom Tatort, meinen Häschern davon. Schließlich hierher. In diese verwaiste stinkende Toilette. Obwohl, vielleicht stinke ja nur ich. Verbrannt. Verkohlt. Wie Phönix aus der Asche. Als einer von neun Soldaten in neun amerikanischen Städten. Heute, bei der vierten „Nacht der Anarchie“.
Übrigens, der letzte Song vor dem Anschlag auf meiner „Terror“-Playlist war ein Klassiker. „Xplosion“ von Outkast. Hab ich gut zusammengestellt, nicht? Mal schauen, was jetzt kommt, wenn ich wieder hinausgehe. Vielleicht sind ja keine Cops mehr da, dann komme ich davon. So wie andere Gesinnungsbrüder vor mir. Und wenn nicht, nun, dann werde ich wohl auch ein M-iRtyrer werden.
Sollte iBuddha tatsächlich Recht haben und der iPod ein Symbol für das Leben und die Welt sein, dann werde ich mir jetzt meine Earphones aufsetzen, auf Zufalls-Betrieb schalten, ein passendes Lied zu hören bekommen und da rausgehen. Von diesem Scheißhaus in ein noch viel größeres. Mich der Welt und meinem Schicksal stellen. Und es wird für mich ein Happy Ending geben, ganz gewiss. Schließlich bin ich der Star meines eigenen Musikclips.


© April 2005 „Freaky“

 

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