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Irgendetwas ist passiert

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07.10.2005
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Irgendetwas ist passiert

„Ich finde mich wieder auf einem Ball: Lächelnde Gesichter schweben über zuckenden Körpern. Die Band spielt schlecht und Menschen freuen sich, sind höflich zueinander, freundlich. Ich freue mich auch über die vielen schönen Kleider, Frisuren, Accessoires und den Schmuck. Ich bin fasziniert von der Vielfalt, von den Unterschieden: Prinzessinnen mit weit ausladenden Röcken und hochgestecktem, lockigen Haar; Vamps zeigen Dekoltee und Bein; stilvolle Elegance; mädchenhafte Minis mit hohen Stiefeln; die Unscheinbaren; die Extravaganten mit Federschmuck und Gesichtsbemalung; die Scheiß mi nix-Partie in Hosenanzug & Bluse – „passt schon; die können mich mal!“; junge Herren fallen durch Rusters und Strickmütze auf, während einige kurz vor einem wichtigen Geschäftsabschluss zu stehen scheinen. Am besten gefallen mir die schillernden Vögel, die in sich selbst verliebt für sich selber tanzen.

Amusement amüsiert, und es ist ganz leicht. Parfüm, Schweiß und Körperwärme - ich lehne mich an, ich schmiege mich an, ich schmeichle mich ein und stolpere deinem Rhythmus hinterher, der bald unserer wird, einverleibt deinen Rhythmus, dein Rhythmus mich. Es ist ganz leicht –

(Normalerweise bin ich eingeschlossen in Sätzen, die Bescheid wissen über dich, wer immer du sein magst. Eingeschlossen wie in einem Turm – nein, kein Gefängnisturm! Ich habe mich bequem eingerichtet in meinem Turm. Wenn ich nach oben sehe, sehe ich den Himmel: die Sterne, den Mond, die Sonne, Wolken. Gegen ein Dach sprach ich mich entschieden aus. Ich halte mich für naturverbunden und freiheitsliebend, besonders, wenn der Wind durch die Lücken pfeift.)

Deine Stimme geht mir unter die Haut, deine Berührung, dein Lächeln, das deine Augen, die mich an einen Waldboden erinnern, golden färbt. Goldene Punkte tanzen in deinen Augen und ich vergesse, was ich weiß.

Heute habe ich meine guten, festen, wasserdichten und vor allem bequemen Bergschuhe gegen Ballschuhe eingetauscht, gegen schwarze, schmale, spitze, Stöckelschuhe. Ich bin reingeschlüpft und fand, dass meine breiten Füße mit dem hohen Rist gut Platz hätten in den Pumps, wie meine Mutter sie nennt. Ich habe sie mir von ihr anlässlich des Balls ausgeliehen. In meinem Schuhregal gibt es keine entsprechenden Schuhe für dergleichen gesellschaftliche Ereignisse. Meine Mutter hat in diesen Schuhen vor fünfzig Jahren geheiratet, in einem schönen Kleid aus schwerem, schwarzem Satin, dessen Dekoltee ein florales Muster ziert, welches sich am oberen Rand der Schuhe wiederholt. Heute leiht sie mir Kleid und Schuhe und freut sich, dass mir beides so gut passt, obwohl sie damals etwas schlanker gewesen sei als ich jetzt. Die Schuhe drücken nicht – noch nicht! Das Oberteil des Kleids schmiegt sich an meinen Körper wie angegossen, der weitschwingende Rock umschmeichelt meine seidenbestrumpften Beine. Ich doupiere sogar mein feines, dünnes, kurzgeschnittenes Haar und festige die Frisur mit einem Haarspray. Wimperntusche, Kajal, Lippenstift – weder Selbstverständlichkeit noch Geschicklichkeit zeichnen meinen Schminkversuch aus. Dir gefällts. Du machst ein Foto. Ich fühle mich unsicher und mache ein Foto von dir: auf Hochglanz polierte Lackschuhe, schwarze Jeans, die Bügelfaltenhose ist dir zu eng geworden, weißes Hemd, schwarzes Sakko, Krawatte – frisch rasiert bis auf den ergrauten Schnauzbart, schön frisiert und parfümiert:

Ein junger Herr fordert das Fräulein Roserl auf zum Tanz und lächelt, lächelt unverschämt. Als Fräulein Roserl den Grund für sein breites Lächeln wissen will, meint er, den könne er ihr nicht verraten, wobei er den Blick senkt und sich in sein Lächeln vertieft. Noch einige Male ergeht es dem Fräulein Roserl ebenso. Allmählich fällt dem Fräulein Roserl auf, dass die Herrn mit Vorliebe auf ihre neuen Lackschuhe starren, und in ihr keimt der Verdacht, sie werde wegen der Schuhe ausgelacht. Am nächsten Tag schon eilt sie erbost in das Schuhgeschäft, in welchem sie die Schuhe erstand, um zu erfahren, was die Herrn angesichts ihrer Schuhe zum Lächeln veranlasse, woraufhin sogar des Schuhverkäufers Mund sich in die Breite zieht und er meint, er könne den Grund nicht sagen, aber wenn das Fräulein Roserl ihm die Adresse aufschriebe, würde er ihr schreiben. Nach einigen Tagen schon flattert ein Brief ins Haus mit folgendem Inhalt:
Mein liebes Fräulein Roserl, sie tragen ja kein Hoserl, das Ding, es spiegelt sich im Lack. Mit freundlichen Grüßen: Schuhhaus Prack –

Wir lachen. Es war die Lieblingsgeschichte deines Onkels. Das Schuhhaus Prack habe es tatsächlich gegeben, damals - in Innsbruck. Wir gehen, laufen, eilen zur Bushaltestelle. Am Straßenrand liegt der Schnee zu Hauf. Der Gehsteig ist eisig, die Sohlen der Schuhe dünn, meine Füße binnen Kurzem Eisklötze. Im Bus stelle ich sie auf die Heizlüftung und mache mir Sorgen, wie weit wir wohl zu gehen hätten, dann in Innsbruck, wo der Ball im Kongresshaus stattfindet. Einige Fahrgäste überlegen mit uns gemeinsam, wo wir am besten aussteigen sollten, dass der Weg sich möglichst verkürze. Ich staune über das Interesse und die Teilnahme. Augenblicklich scheint es für einige Menschen nichts Wichtigeres zu geben, als ein möglichst kurzer Weg von einer Haltestelle zum Kongresshaus. Ein Herr meint dann, dass es für dich ein Leichtes wäre, mich zu tragen. Die Fahrgäste im Umkreis lachen. Es bildet sich eine kleine Verschwörung, die außerdem beratschlagt, wie wir nach dem Ball nach Hause kämen; wie oft, wann, von welchen Haltestellen aus Busse in der Nacht verkehren würden, bis sich der Busfahrer einmischt und allesamt durch klare Informationen aufklärt. Nur du, du weißt es noch eine kleine Weile besser, weil du ein Detaill der Sachlage überhört hast. Deine Erfahrungen über den nächtlichen Busverkehr gehen auf einen Tag unter der Woche zurück, während der Busfahrer uns übers Wochenende aufgeklärt hat. Schließlich findest auch du dich in dem Wissensstand ein, der die an der Verschwörung Beteiligten zufrieden stellt. Irgendwie lächeln alle, während der Bus durch die Winternacht schaukelt. Eine sanfte Frauenstimme sagt die nächsten Haltestellen durch. Der Bus ist sehr lange. Er hat eine Drehscheibe in der Mitte, um die er sich in den Kurven dreht. Einem leisen Klingelton, den die Menschen auslösen, indem sie einen der roten Knöpfe drücken, die sich in Brusthöhe auf den metallblanken, senkrechten Stangen, die wiederum waagrechte Stangen unter dem Busdach tragen, befinden, folgt die Feststellung in roter Leuchtschrift: Wagen hält - Er hält das Versprechen bei der nächsten Haltestelle. Die Türen pfauchen, während sie sich zur Seite falten. Menschen steigen aus, Menschen steigen ein. Ein Kopfnicken, ein Lächeln, die Türen pfauchen erneut, während sie sich wie von Geisterhand schließen. Der Bus fährt an. Ein leichter Ruck lässt die neu Zugestiegenen rasch einen Sitzplatz finden. Laternenschein, Nacht – Spiegelbilder in den Scheiben: blasse Gesichter, die in der Dunkelheit schweben. Ich suche deine Hand, deine immer warme Hand.

(Du hast Krebs. Ich weiß es, du weißt es, wir lieben uns - vielleicht -
ich habe Angst.
Wir lieben uns, vielleicht nicht einmal verzweifelt, gelassen aneinander, du und ich, zerbrechlich und schon etwas müde. Unsere Liebe ist noch ganz neu und behutsam.)

der moloch frisst unsere zeit – heute inszeniert er einen ball, der jene feiert, die bald neu zusteigen werden, weil sie demnächst die reifeprüfung abgelegt haben werden –

Sie sind schön, die jungen Damen und Herren, sehr schön, voller Erwartungen und wissen Bescheid und sagen uns Bescheid freundlich und höflich, aber das Leben im Ärmel. In der großen, weiten Welt: Mexiko, Mexiko-City, Australien und überall schon erfolgreich der groß gewachsene, junge Mann mit seiner Lockenpracht, charmant und begehrt ohne sein Zutun, einfach durch seine Anwesenheit. Ein anderer findet uns cool, weil wir schon so alt sind und immer noch verliebt, nicht so wie seine Alten.

dünn sind heute die wände – dünn wie eine membran – es wäre ein leichtes, ein loch zu bohren mit den stöckeln oder den spitzen der eleganten schuhe, dass sie platzt – dazugehören – einfach mal dazugehören – leicht, federleicht - mich anvertrauen – dem fremden rhythmus, deinem arm, der mich führt durch die woge lächelnder gesichter, klirrender gläser, durch den tanz auf der seite des lebens, wo es was zu feiern und zu scherzen gibt – bedenkenlos – wo dinge wirklich wichtig sind – ein busfahrplan – die entfernung von haltestelle und kongresshaus – die frisur, das kleid, der duft – die schuhe – die aufrichtung im gehen – die fröhlichkeit – der nächste witz – die biermarke – der preis der weißwürste und die geschmacksrichtung des senfs – süß oder scharf –

Du tanzst gut. Du steigerst dich rein. Du singst mit, gehst in die Knie, um mit dem Rücken schier den Boden zu berühren. Die Leute schauen, und ich lächle, weil ich dazugehören möchte. Mein Rock schwingt. Ich zucke verzückt mit dem Becken, tripple im Kreis, bis ich dir den Rücken zuwende. Du gehst auf das Angebot ein, tanzst aufreizend um meinen Hintern herum – auf und ab, dass der glatte Stoff sanft meine Rundungen streichelt. Ich drehe mich um mich selbst, mein Rock schwingt und fällt zärtlich wieder an den Beinen herab.

Die Schuhe schmerzen. Ich setze mich hin, streife mir die Schuhe von den Füßen, trinke Wein, biete der Frau mir gegenüber eine Zigarette an. Sie zupft an den Fingern ihrer langen, weißen Handschuhe, zieht sie von Unterarmen und Händen und greift zu. Sie lächelt schief. Sie hat langes, blondes Haar, ein blasses schmales Gesicht. Kummervoll wandert ihr Blick zur Tanzfläche. Ihr Mann tanzt dort mit irgendwelchen, jungen Frauen – ekstatisch. Er schwitzt und glüht vor Freude, während sie vornehm ein gewohntes Leid verbirgt, erträgt, um es ihm später an den Kopf zu werfen, später im Auto, das sie lenkt, nach Hause lenkt, weil sie dem Alkohol entsagt hat den ganzen Abend, um nach Hause zu fahren. So war es vereinbart, während er sich den ganzen Abend um die jungen Frauen gekümmert hat. Einmal hat er mit ihr getanzt. Da hat sie ihm ihr schweres Leid auf die Schultern gehängt, mit ihren weißbehandschuhten Armen um den Hals geschlungen. Wir sind dann jeglicher Sorgen um verkehrende oder nicht verkehrende Busse, weite oder weniger weite Wege zu irgendwelchen Haltestellen ledig mit ihnen mitgefahren. „Hans kümmert sich um alle“, sagt sie mit dem Unterton, der uns wissen lässt, dass er sich um sie zu wenig kümmert. Er ist den Vorwurf gewohnt, steckt ihn weg, indem er von was anderem redet und weiß, dass er sich nie genug um sie kümmern wird. Unsere Liebe ist noch jung. Du bist noch immer gut gelaunt, studierst einen Prospekt, den du im Auto gefunden hast, irgendein Funpark. Immer wieder huscht Licht durch das Innere des Autos, wenn wir eine Straßenlaterne passieren, und du erhascht ein paar Worte der Beschreibung und Versprechungen des Funparks, die du dann laut vorliest.

Die Füße schmerzen in den Schuhen, die Strumpfhose klebt an den Beinen, juckt und schnürt den Bauch ein, das Kleid nimmt mir den Atem. Bei deinem Häuschen angekommen, stürzen wir aus dem Auto, durch den Garten über vereiste Wege ins Haus. Ich stürze aus den Schuhen, aus dem Satin, aus dem Nylon in einen weiten Frotteepyjama, Schafwollpullover, in Schafwollsocken – in einen großen, bequemen Sessel. Auch du bald in ausgeweiteter Jogginghose mit ausgebeulten Knien, die zum Himmel schreien. Ich liebe dich schon wieder. Wir sind ziemlich betrunken und schlafen bald ein; du in deinem Sessel, ich in meinem. Später rappeln wir uns auf, gehen zu Bett und schlafen weiter.

(Ich stelle mir vor, dass du meine Möse liest wie ein Buch, sie erforschst wie eine Pflanze, den Duft ihrer Blüten, den Geschmack ihrer Früchte kostest und für gut befindest; langsam versenkst du dich in ihr, um dann immer schneller werdend hochzupeitschen die schäumende Gischt am felsgewordenen Schwanz, bis er bricht und sich vermengt mit dem Meer – )

Du atmest leise und gleichmäßig.

dünn wird die haut der dinge, die sie voneinander unterscheidet, während sie im wesentlichen sich gleichen: in ihrer sehnsucht nach sich selbst –

ein adler landet vor meinen füßen, legt seine flügel an den leib, legt den kopf schief und schaut mich an mit goldenen augen – er trippelt im kreis auf dem von der gestrigen mittagssonne ausgefransten eis, bis er mir den rücken zuwendet – goldbestäubt ist sein gefieder und ich lege mich hinein – er schwingt seine schwingen, dass mir die ohren sausen, hebt ab, steigt auf, durchpflügt die beharrlichkeit des winters mit den rufen, die raubvögeln eigen sind, auf der suche nach den lauen winden –

über den bächen schweben nebel, leicht wie feen, die mit zauberhand bäume verwandeln in schimmernde geschichten, die sich spinnen von rand zu rand -

Dann gefriert das Bild.

Der Adler stürzt zu Boden, ich stürze in die Wärme eines Geschäfts. Preise und Waren stürzen auf mich ein, Sonderangebote allenthalben, lächelnde Gesichter - schon wieder. Ich kenne mich nicht aus!

der moloch – der moloch schreit –

Dazugehören, einfach dazugehören; Preise vergleichen – selbstsicher, bedächtig, wählerisch– aber wie? Ich raffe hastig zusammen Essbares für das Frühstück. Die Angst vor dem Moloch treibt mich zur Eile. Er haut mir seine Preise um die Ohren. Er hat deine Zeit gefressen, die du bei deiner schwangeren Frau verbringen wolltest. Noch heute, nach mehr als dreißig Jahren, ist dir die ungläubige Erschütterung ins Gesicht geschrieben, wenn du erzählst, dass der Moloch dich zur Verteidigung deiner Heimat einberufen hatte, wo doch deine junge Frau ein Kind von dir erwartete und du bei ihr sein wolltest, euch ein Nest zu bauen. Stattdessen: Uniform, Waffen und deren Pflege, Schlamm und Grenzüberwachung. Er hat deine Träume gefressen, deine Liebe. Du trinkst Bier und wirfst ihm deinen Krebs zum Fraße vor. Den kann er haben, während du über Schaltplänen grübelst und kaputte Geräte wieder ganz machst. Deine Sehnsucht, Dinge zu reparieren, Funktionen zu verbessern, haben der Moloch und seine Frauen missverstanden – du solltest Zahlen schreiben im schwarzen Bereich.

der moloch frisst die zeit, die ich bei dir sein möchte, während du über schaltplänen grübelst und kaputte geräte wieder ganz machst –

Ich möchte fliehen. Ich bezahle mit unmerklich zitternden Händen, erschrocken über die Höhe der Endsumme. Ich fliehe, ich fliege –

vor dem geschäft liegt der adler – ich lege mich in seinen gefiederten rücken – er ist tot – heute ist der adler tot – morgen wird er wieder fliegen – oder übermorgen – vielleicht - heute gehe ich zu fuß nach hause – in meinen guten, festen, wasserdichten und vor allem bequemen bergschuhen – naturverbunden und freiheitsliebend – verunsicherungen aufgeklärt und abgehandelt – nur die angst bleibt – die angst, dass irgendetwas nicht stimmen könnte - mit mir - oder mit dir –

die angst treibt meine gratwanderung voran zwischen dir und mir – zwischen anpassung und poesie – zwischen moloch und eigenmacht – die geschwindigkeit hilft mir, das gleichgewicht zu halten auf dem schmalen grat – immer öfter gerate ich außer atem – bin ich erschöpft – muss ich stehen bleiben, wobei mich sofort schwindel erfasst, ob der höhe des schwindels, die mir im stehenbleiben sofort bewusst wird – dann kommt die angst, dass ich irgendwann fallen könnte auf eine seite und die andere mir dabei abhanden kommt –

Ich möchte dich spüren, jetzt. Ich beschleunige meinen Schritt. Die Griffe der Einkaufstaschen schneiden mir in die Finger, die schon abgefroren und taub sind.
(Deine Haut an meiner hungrigen Haut, deine rauen Hände an meinem Rücken, an meinen Brüsten, an meinem Bauch, deine kurzen, dicken Finger in meiner Möse – Voyeur meiner Lust; ich – Voyeurin deiner Lust – )

Dein Atem geht noch immer ruhig und gleichmäßig.
Ich breite das Frühstück im Bett aus. Dein Lächeln schwimmt golden in deinen Augen, die die Wälder spiegeln und die Himmel und die Schatten deiner Wimpern…“

Hier bricht die Erzählung ab.
Sie sei gestürzt, hätte sich den Kopf angeschlagen und dabei eine Hirnblutung erlitten, wurde im Nachhinein vermutet.
Der Sohn hat sie gefunden, der jüngste ihrer Kinder, der noch bei ihr gewohnt hat. Sie ist im Schaukelstuhl gesessen und hat geschaukelt und dabei geradeaus geschaut mit starrem Blick. Der Computer sei gelaufen, nach einem kleinen Ruck mit der Maus sei hinter dem Bildschirmschoner, der sterne speiht, unendlich viele sterne über den rahmen hinausspeiht, ihr Text zum Vorschein gekommen.
Zuerst hat der Sohn geglaubt, sie sei betrunken, da er eine halbe Flasche Wein in der Küche gefunden hatte. Dann wurde ihm die Sache unheimlich und er rief seine Geschwister an. Die holten einen Arzt, der schaute mit einer kleinen Taschenlampe in ihre Augen, in ihre Ohren, in ihren Hals und schüttelte den Kopf. Blut wurde ihr abgenommen, ergebnislos.
Seither sitzt sie in dem Schaukelstuhl und schaukelt, knüpft endlose Schnüre, die niemand brauchen kann und schweigt. Eine Einweisung in eine geschlossene Anstalt konnten ihre Kinder verhindern, indem sie sich abwechselnd um sie kümmern. Morgens trinkt sie zwei Schalen bitteren Kaffee und raucht zwei bis fünf Zigaretten dazu. Mittags isst sie ausschließlich Berner-Würstel und Salat, abends Mozarella mit Tomaten, Knoblauchbrot und zwei, drei Gläsern Wein und mehr als fünf Zigaretten. Ihren Platz im Schaukelstuhl verlässt sie nur, um auf die Toilette zu gehen, ein Bad zu nehmen - sie nimmt oft zwei, drei Bäder am Tag - oder einen Spaziergang zu machen in dem nahe gelegenen Wald, bei dem sie ausdrücklich allein sein will. Man hat beobachtet, dass sie im Wald oft heftig gestikuliere und dabei ihre Lippen bewege, ohne, dass ihnen ein Laut entkäme.
Der Mann, den sie in ihrem Text mit „du“ anspricht, ist nie aufgetaucht. Niemand weiß, ob es ihn überhaupt gegeben hat. Das ist Schade, denn er, der Freund, Geliebte und Bruder, er würde wissen, dass sie schlicht und einfach die Schnauze voll davon hatte, dem Moloch erst als Mutter, später als Lehrerin, von Politik, Medien und Gesellschaft verachtet und ungewürdigt, zu dienen; dass sie schlicht und einfach die Schnauze voll davon hatte, sich verarschen zu lassen. Die Pisa-Studie ist ihr in den Kopf gestiegen und hat dort eine geistige Umnachtung angerichtet, der sie sich durch geistige Umnachtung entzieht, die sie fortan daran hindert, Kinder für einen Moloch zu funktionalisieren, der das Gemeinwohl schon lange verwechselt mit dem Wirtschaftswachstum, dem Wirtschaftswachstum, dem Wirtschaftswachstum, dem Wirtschaftswachstum......................die sie Gott sei Dank daran hindert, Kinder zu tüchtigen, leistungsfähigen ArbeiterInnen und zahlungsfähigen KonsumentInnen heranzubilden, die sich nahtlos in den Einen Wirklichkeitskanon „Wirtschaftswachstum & Amusement“ eingliedern, der im Gewand der Chancengleichheit daherkommt. Aber: Nachdem ihn niemand kennt, niemand von ihm weiß, wird er für immer schweigen, und die Vermutung mit der Hirnblutung ist Erklärung genug.

 
Zuletzt bearbeitet:

hallo,

Diese Geschichte hat mir gut gefallen, obwohl ich gar nicht so genau weiß, warum. Deine Sprache gefällt mir, eine, die sich flüssig liest und sich doch die Freiheit nimmt, ausführlicher, stellenweise vielleicht sogar plappernd zu erzählen.

Insgesamt fand ich das Ganze ein wenig verwirrend, vor Allem die Bedeutung der verschiedenen Formatierungen wie kursiv und in Klammern konnte ich nicht so recht entziffern.
ab der Szene mit dem Adler fand ich es dann ziemlich anstrengend, weil mich die schiere Lawine von Worten beinahe erschlagen hat. Ich habe die Szene als Traum interpretiert, der mit dem Absturz plötzlich abbricht und mir kam der Gedanke, dass die ganze Geschichte vielleicht nur in einem Traum spielt, oder die Welt darstellt, in die sich die Protagonistin zurückgezogen hat, nachdem ihr Mann gestorben ist (wenn ich das richtig gedeutet habe). Dazu hat aber dann die anfängliche Episode mit dem Ball nicht richtig passen wollen, jedenfalls nach meiner Ansicht, denn sie wirkte so lebhaft und nicht wie ein Traum.

jetzt, wo ich meine Gedanken niederschreibe, fällt mir noch eine andere Variante ein. Sind die in kursiver Schrift verfassten Sätze eventuell Gedanken der Protagonistin und die in Klammern gesetzten Passagen Überlegungen zu dem Text, den sie gerade aufschreibt? Wenn aber die Geschichte von Angehörigen entdeckt wird, können die kursiv geschriebenen Absätze keine nicht niedergeschriebenen Überlegungen sein.

Du siehst, der Text lässt mich etwas ratlos zurück, aber ich konnte einfach nicht mehr aufhören, bis er fertig gelesen war. Die melancholische und auf eigenartige Weise zerstörerische Stimmung hat mich gefesselt.

Herzliche Grüße,
Georg

Edit:
jetzt ist mir gerade das Anführungszeichen am Anfang aufgefallen. Das mach meine obigen Überlegungen irgendwie obsolet, aber nicht völlig. Meine Ratlosigkeit ist noch größer geworden.

 

Danke, Georg, für deine Rückmeldung! Wenn es mir tatsächlich gelungen sein sollte, eine Geschichte zu schreiben, die das Verstehen mittels Verstand austrickst, aber eine Gefühl zurücklässt , eine Stimmung...na dann!
Das ist es, was ich anstrebe. Unser Verstand bekommt genug Nahrung - ich schreibe aus der Intuition für die Intuition (um das Wort "Herz" nicht zu strapazieren)
Zur Bedeutung der Formatierungen:
In "......." steht der Text, den die Prot. geschrieben hat, den der Sohn am Bildschirm des laufenden Computers vorfindet -
Außenwelt
(Innenwelt)
zwischenwelten
innenwelt, die in die zwischenwelt kippt
Am Ende kommt der/die "allwissende ErzählerIn" (ist tatsächlich ein literaturwissenschaftlicher Terminus für eben diese Erzählperspektive) zu Wort.
Und wenn dich gegen Ende hin, die Wortflut schier erschlagen hat, dann ists dir beim Lesen so ergangen wie der Protagonistin, die verwirrt aufgibt.
krissy

 

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