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Irgendwann
Glücklich seufzend drehte sich Talib auf den Rücken. Über ihm erstreckte sich der strahlend blaue, wolkenlose Himmel. Er könnte ewig so hier liegen bleiben, auf dem sandigen Steinboden, immer darauf bedacht, den spärlichen Schatten der hohen schlanken Palmen so gut es ging zu nutzen. Die unerträgliche Hitze störte ihn nicht. Er wusste, dass die heißeste Zeit des Tages für ihn die eine Möglichkeit war, mit Nefretari zusammen zu sein. Nefretari...
Beim Gedanken an sie breitete sich ein Lächeln auf seinem Gesicht aus.
Ein sachter Wind wehte durch seine tiefschwarzen Haare, die kurzgeschoren waren und ihn so als Sklaven auswiesen. Die Brise war warm , fühlte sich aber dennoch gut auf seiner Haut an.
In der Ferne sah er, wie die Frauen des Dorfes die Felder verließen, und hörte ihre leisen, unklar zu ihm herüberschallenden Befehle, mit denen sie ihre Kinder zu sich riefen. Jetzt konnte es nicht mehr lange dauern. Erfüllt von stiller Freunde, lehnte sich Talib an den kleinen Felsvorsprung und schloss die Augen, blinzelte jedoch ab und zu, um seine Ziegenherde nicht aus den Augen zu verlieren. Die Tiere waren dieses Jahr sowieso schon kränklich und schwach, wenn er noch mehr Tiegen an die Hitze verlieren würde, oder noch schlimmer, sie ihm einfach davonliefen, würde Hana ihn bestimmt wieder auspeitschen lassen. Bei der Erinnerung daran, durchzuckte ihn ein scharfer Schmerz und rieselte langsam die tiefen, blutigen Striemen an seinem Rücken herunter. In nächster Zeit musste er versuchen dieser Art von Bestrafung zu entgehen. Er wäre nicht der erste Sklave, der an den Entzüdungen gestorben wäre. Schnell schüttelte er diesen Gedanken ab und ließ seinen Blick wieder über das trockene Land vor ihm schweifen. Bald würde Nefretari auftauchen.
Leise summend ging Nefretari am Ufer des Nils entlang. Sie spürte den kühlen, weichen Schlamm unter ihren Füßen, und strich mit der Hand gedankenverloren über ihren gewölbten Leib, sie musste lächeln als sie die kleinen, aber doch schon energischen Tritte des Kindes spürte. Es konnte nicht mehr lange dauern.
Seit ihrer Schwangerschaft kam sie gerne hierher. Im letzten Drittel der Schwangerschaft wurden Frauen, besonders wenn es wie bei ihr die erste war, glücklicherweise von der Feldarbeit entbunden. Da es aber in der Lehmhütte ihrer Familie unerträglich heiß und stickig war, obwohl ihr Haus schon mit zu den größten im Dorf zählte, zog Nefretari ihre allmorgendlichen Nilspaziergänge vor. Wenn doch nur die Zeit schneller verginge... Erst wenn sich ihre Familie, vor allem ihre älteren Brüder endlich der Apathie der Mittagsstunde hingaben, konnte Nefretari es wagen das Dorf zu verlassen und zu ihrem geheimen Treffpunkt, zu Talib, zu den Felsen hinter den Hügeln laufen. Aber noch war es nicht soweit.
Talib ... Erneut strich sie sehnsüchtig über ihren Bauch. Wenn das Kind doch nur von ihm wäre. Mit Abscheu erinnerte sie sich an ihre Hochzeitsnacht, in der ihr Mann, Hana, wie ein wilder Hund über sie hergefallen war. Mit Talib war alles so anders.
Schuldgefühle überkamen sie. Erst gestern war er wieder ausgepeitscht worden. Hana ließ seit einigen Monaten keine Möglichkeit aus, ihn zu quälen, als ob er spüren würde, welches besondere Band zwischen ihm und Nefretari bestand. Wenn er nicht Eigentum von Nefretaris Vater gewesen wäre, hätte er ihn bestimmt längst weiterverkauft.
Wie sie Hana hasste. Wie sie ihr Leben hasste. Natürlich wusste sie, dass es nicht nur ihr so ging. Hana war für ihre Familie eine wichtige Verbindung. Aber wenn sie daran dachte, den Rest ihres Lebens mit diesem Mann zu verbringen, stieg ein dicker Klumpen Verzweiflung und Wut in ihr auf, so groß, dass sie dachte sie müsse daran ersticken.
Endlich ertönte die Glocke, die alle von der Arbeit auf den Feldern und im Dorf zur Mittagsruhe in die kleinen Häuser rief und riss Nefretari aus ihrem trüben Gedanken. Sorgfältig wusch sie ihre Füße, ihre Hände und ihr Gesicht im Nil, zog ihre Sandalen an und strich ihr Kleid glatt. Es war soweit, nun konnte sie sich endlich auf den Weg machen.
Wie immer hoffte sie inständig, dass ihre Familie der Lüge, sie würde die heißen Mittagsstunden im kühlen Tempel für das Wohl ihres Kindes beten, Glauben schenken würde.
In Wahrheit schickte sie jedes Mal nur ein kurzes Gebet zu ihrem Gott, wenn sie am Tempel vorbeilief, betete für ihr Kind und bat ihn, ihr wegen der Lüge nicht zu zürnen. Schnell hob sie ihren Lederbeutel auf und ging bedächtigen Schrittes den kleinen, lehmigen Weg am Ufer entlang, der sich erstaunlich rasch in einen staubigen, heißen Pfad verwandelte. Nefretari fing erneut an zu summen, als sie in der Ferne die kleine Ansammlung von Steinen erblickte, bei denen Talib auf sie warten würde...
Blinzelnd öffnete Talib die Augen. Er war doch nicht etwa eingenickt? Erschrocken sprang er auf, ließ sich aber sofort wieder in den kühlen Schatten der Palme sinken, als er feststellte dass seine Herde noch vollständig war. Nachdenklich betrachtete er die mageren gefleckten Ziegen, die mühsam das dürre, gelbe Gras aus den Spalten des felsigen Bodens zupften.
Ja, es war wirklich ein heißer Sommer, unerträglich heiß für alle. Besorgt dachte Talib an Nefretari, die auch noch das Gewicht ihres ungeboreren Kindes vor sich hertrug.
Wie gerne hätte er ihr den täglichen, beschwerlichen Weg über das kahle Feld zu ihrem Treffpunkt erspart, doch leider war das nicht möglich. Außerdem wusste er, dass sie es sich niemals nehmen lassen würde, zu ihm zu gelangen. Er musste lächeln, diese Dickköpfigkeit war etwas, was er besonders an ihr liebte. Er wäre fast daran zerbrochen, hören zu müssen, wie Nefretari in den Wochen nach ihrer Hochzeit Hana ihre eheliche Pflicht erwies, aber er war umso stolzer auf sie, wenn er sah, wie unnachgiebig sie ihn in Hanas Augen blickte, und ihn ganz genau spüren ließ, dass sie sich zwar ihren ehelichen Pflichten bewusst war, aber ihm so stumm erklärte, dass sie ihren eigenen Willen hatte.
Plötzlich sah er eine Gestalt am Horizont auftauchen. Nefertari! Langsam kam sie auf ihn zu, mit einer Hand hielt sie ihren Schleier schützend vor ihr Gesicht, damit der Wind ihn nicht davontrug und sie noch mehr der sengenden Sonne aussetzte. Die andere stütze ihren stark gewölbten Leib, was Talib einen Stich versetzte. Es hätte sein Kind sein sollen. Auch wenn das unmöglich war.
Aber wenn er in Nefretaris Augen blickte, und das Leuchten darin erkannte, und sie davon sprach bald Mutter zu werden, vergaß er seinen Gedanken. Dass sie glücklich war, war für ihn das Wichtigste. Bewundernd musste er erneut feststellen, dass Nefretari nichts von ihrem anmutigen Gang eingebüßt hatte, obwohl ihre Schwangerschaft schon so weit fortgeschritten war. Im Gegenteil: Wo andere Frauen kränklich erschienen und anfingen kleine watschelnde Schritte zu machen, schritt Nefertari anmutig aus, und ihr ganzer Körper strahlte vor Stolz, sie schien durch ihre Schwangerschaft nur noch schöner zu werden. Ihr weißes Trägelkleid hob sich deutlich von der dunklen, olivfarbenen Haut und den schwarzen Haaren ab und umspielte ihren Körper.
Endlich hatte sie ihn erreicht. Der Weg fiel ihr doch jeden Tag schwerer, als sie zugeben wollte, aber jedes Mal wenn sie ihn endlich erblickte, wie Talib sie schon sehnsüchtig erwartete, den Kopf stolz erhoben, verlieh ihr das neue Kraft.
Oh ja, er war unendlich stolz.
Behutsam nahmen sie sich in die Arme. Zärtlich strich er ihr eine feuchte Strähne aus der Stirn, bemerkte ihre heißen Wangen.
„Ich habe dich vermisst.“ Ihre Worte klangen sanft, aber ihre Stimme bebte doch ein wenig von dem mühsamen Weg durch die sengende Sonne.
„Ich dich auch, Nefretari, ich dich doch auch... Komm, setz dich in den Schatten.“ Dankbar nahm sie seinen Arm an und ließ sich langsam an der Felswand hinuntergleiten, die zwar nicht kühl, aber immerhin nicht ganz so heiß wie alles andere um sie herum schien.
Besorgt registrierte sie Talibs Zusammenzucken, als er es ihr gleichtat.
„Was ist los? Hast du noch große Schmerzen? Zeig mir sofort deinen Rücken, Talib.“ Widerwillig gehorchte er ihr, obwohl er ihr denn Anblick lieber erspart hätte. Da Talib aber wusste, dass sie nie lockerlassen würde, drehte er sich auf den Bauch und streckte sich flach auf dem Boden aus. Die Haut auf seinem kompletten Rücken brannte wie Feuer, er wusste es musste schlimm aussehen. Nefretari unterdrückte nur mit Mühe einen Aufschrei.
„ Oh Talib ... bei allen Göttern, wieso tut er das nur immer?“ Entsetzt entdeckte sie, dass sich die blutigen Striemen auf seinem Rücken entzündet hatten. „Ich werde dir wieder Salbe auftragen, hörst du? Das ist nicht viel, aber immerhin besser als nichts, und versuch deinen Rücken bedeckt zu halten, wenn ich ihn dir schon nicht verbinden kann.“
Talib seufzte und genoss die ruhigen, kühlen Berührungen ihrer Hände. Er biss die Zähne zusammen, als sie anfing die heilende Salbe auf seinem Rücken zu verteilen, er wusste es würde helfen.
Als sie damit fertig war, half sie ihm sich wieder aufzusetzen. Erst zögernd, dann immer leidenschaftlicher bedeckte sie sein Gesicht mit kleinen Küssen.
„Talib,“, murmelte sie, während seine Hände sanft ihre Hüften umfassten und sie langsam zu sich zogen, „Talib...“. Sie zog den hölzernen Haarkamm aus ihren Haaren, so dass es wallend und lang über ihre Schultern fiel. Er genoss jede ihrer vorsichtigen Berührungen. Nun trafen sie sich schon seit Monaten hier, aber jeder Tag erschien ihm neu und anders als die vorhergehenden. Seit sie im letzten Drittel der Schwangerschaft war, beließen sie es dabei, sich in den Armen zu halten, und gemeinsam zwischen ihren Palmen und Felsen zu sitzen.
Diese wenigen Stunden am Tag waren für sie die schönsten. Talib und Nefretari sprachen wenig, schauten nur aufs Land hinaus, auf die kahle, funkelnde Wüste, sie sahen die grünen und hellgelben Weizenfelder am Nil und das kleine Dorf, aus dem sie so oft wie möglich gemeinsam zu entkommen versuchten. Das waren ihre Stunden, voll von eng ineinander geflochtenen Fingern, leichten auf braune Haut gehauchten Küssen, wie bittersüßer Wein.
Die Zeit verging viel zu schnell, und als die Schatten immer länger wurden, und das Licht immer farbloser, wurde Nefretari unruhig. Es fiel ihr immer schwerer, sich von Talib zu verabschieden, in der Angst, dass es ihnen vielleicht schon morgen nicht mehr möglich sein würde, hier zu sitzen. Talib bemerkte ihre Unruhe und zog sie noch ein letztes mal an sich, die Sonne verschwand in den schönsten Farben hinter den Hügeln, und ein grauer Schleier legte sich auf die beiden Liebenden.
„Du musst zurück, bevor es ganz Nacht wird, Tari. Du warst heute schon wieder länger als gewöhnlich fort. So lange betet niemand im Tempel, nicht einmal eine werdende Mutter.“
Talib stand auf, langsam aber bestimmt half er auch ihr auf die Beine und legte ihr ihren Umhang um.
„Ich weiß“, seufzte sie, „ich liebe dich“. Talib zog sie in seine Arme, und kostete diesen letzten wertvollen Moment so lange er konnte noch aus. Schließlich löste er sich aus ihren Armen, strich ihr ein letztes Mal zärtlich über das Gesicht und trat entschieden einen Schritt zurück. „Geh jetzt!“, drängte er sie. Wortlos drückte sie eine Hand, und als sie ihm die ihre entzog, merkte er erst, wie kühl die Luft auf einmal war. Nefretari erschauderte, zog ihren Umhang fester um sich, und schloss die Augen. Als sie sie wieder öffnete erschien sie ruhig und gefasst. Langsam wandte sie sich ab und ging durch den grauen Wüstensand davon.
„Nefretari, irgendwann!“ Nefretari stockte.
Zögernd drehte sie sich noch einmal um, ihr Haar wehte sanft im leichten Wüstenwind und umgab ihr Gesicht wie eine Wolke, was sie hilflos und zerbrechlich aussehen ließ. „Ja“, brachte sie erstickt hervor, „irgendwann“.
Talib wurde innerlich von einer Woge tiefer Zuneigung fast erdrückt.
Er eilte noch ein letztes Mal zu ihr, und sie küssten sich langsam uns sanft.
Ihr liefen Tränen die Wangen hinunter als sie sich schnell abwandte und zügig in der Dunkelheit verschwand. Talib sah ihr nach, bis ihre Gestalt gänzlich mit den müden Schatten der Wüste verschmolzen war.
Geduldig wartete er noch einige Zeit, während er mit seiner Fußspitze Muster in den ausgekühlten, feinen Sand zog. Schließlich trieb er seine Herde zusammen und machte sich auf den Weg zurück ins Dorf. Oben auf dem Hügel drehte er sich noch ein letztes Mal um und blickte hinauf zu den Sternen, die klar und majestätisch über dem kleinen Dorf hingen.
„Ja“, dachte er, und war gleichermaßen von Hoffnung und Melancholie erfüllt, „irgendwann...“.