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Irgendwas zwischen Experimenten und Suppe
Er hatte ordentlich Schuppen, aber das machte mir nichts aus. Die meisten meiner Freunde hatten schließlich Schuppen, manche sogar trotz akuter Haarlosigkeit. Er konnte sieben Hotdogs in unter zehn Minuten verputzen, dazu säckeweise Bier trinken und danach einen fahren lassen, dass sich die Tapeten in Streifen von den Wänden kräuselten. Er brach den Frauen reihenweise das Herz und unvorsichtigen Kötern das Genick, spielte besser Schach als dieser Russe und besser Gitarre als Mark Knopfler.
Er war dreißig Zentimeter groß, atmete Schwefel und spuckte Feuer. Außerdem konnte er fliegen - wenn auch nur kurze Distanzen unter zehn Zentimetern. Für weitere Strecken war Randolph der Sechzehnte vermutlich einfach zu faul.
...
"Ach, ist der aber niedlich", sagte Frau Hagedorn aus dem Parterre. "Wo haben Sie den denn her?"
"Ist mir zugelaufen. Vor ner Woche oder so."
"Einfach so zugelaufen? Da haben Sie aber Glück gehabt. Augenblick... ich habe doch bestimmt irgendwo ein Leckerli für den Kleinen. Was frisst er denn so?"
"Am liebsten Hundekekse, Hotdogs und Hund."
"Ei, wie knuddelig! Und wie niedlich er aus seinen großen Äuglein schaut."
"Ja, das macht er immer, wenns ans Fressen geht."
"Oh, jetzt juckt wohl sein kleines Näschen. Wie putzig, er muss niesen!"
"An Ihrer Stelle würde ich in Decku..."
In diesen ganzen Märchen und Sagen sind Drachen immer große, fiese Viecher mit tonnenweise Zähnen im Maul und einem unermesslichen Heißhunger auf Jungfrauen. Randolph hingegen war wohl das niedlichste Stück Biomasse, das jemals aus Mutter Naturs Genpool gekrochen kam. Machte auch irgendwo Sinn, Frauen lieben kleine Sachen und würden den Twingo auch jederzeit einem Panzer vorziehen. Und weil der Weg ins Herz einer Frau rein praktisch gesehen nun mal über ihre Brüste führt, kommt man da als kleines Streicheltier sicher am besten ran.
Ja, er war mir zugelaufen. Hatte eines Morgens einfach vor meiner Wohnungstür gestanden und mich treudoof angegrinst. Über seiner Schulter ein Lederriemen, an dem eine kleine Wandergitarre befestigt war. Weiß der Geier, aus welchem Baum er sich das Ding einst gezimmert hatte. Vermutlich war sie einfach irgendwann entstanden, als in einer dunklen und stürmischen Nacht die Götter gerade nicht hingesehen hatten und ein Blitz in eine viel größere Gitarre gefahren war. Ich nannte ihn Randolph, nach meinem Opa.
"Randolph, was habe ich dir über das Feuerspucken in geschlossenen Räumen gesagt? Mir ging die Alte ja auch auf den Keks, aber das ist kein Grund, ihr gleich die Bude... und jetzt guck mich nicht so an! Glaub ja nicht, dass du mich mit der Masche einlullen..." Ich glaube, kein frisch geschlüpftes Katzenjunges, kein noch so schutzbedürftiges Rehkitz kann es in punkto Herzerweichfaktor mit dem schuldbewussten Augenaufschlag eines kleinen Drachen aufnehmen. Sein Kinn bibberte, jede seiner Schuppen strahlte pure Liebenswürdigkeit aus. "Naja, ist ja auch eigentlich nix Schlimmes passiert, war ja nur ne Lampe und die war eh Schrott. Aber mach das nicht noch mal, hörst du?"
Er nickte. Keine Ahnung, ob er mich wirklich verstanden hatte oder es nur deshalb tat, weil er unterbewusst das in meinem Tonfall gekleidete Fragezeichen erkannt hatte, aber ich deutete die Geste als ein Ja. Wir gingen in den Park. Gassi.
Natürlich war Thorsten auch wieder da. Lungerte die meiste Zeit am Spielplatz rum, lässig über den Holzzaun gelehnt und wie selbstverständlich mit dem Ende seiner Hundeleine spielend, während sein schottischer Rehpinscher Jacques unbeaufsichtigt in irgendwelche Büsche pinkelte. Thorsten hatte selten Zeit, sich um den Hund zu kümmern, eigentlich gehörte das edle Tier auch seiner Mutter und wurde von ihm nur deshalb ausgeführt, weil es ein toller Gesprächsöffner zum Kennenlernen junger Mütter war.
"Siehst du die Blonde da?", begrüßte er mich auf seine ihm ganz eigene Art. "Ist mit ihrem Bengel hier. Der Kleine, der gerade auf der Schaukel sitzt."
"Dir auch nen guten Morgen."
"Jaja... meinst du, ich sollte mal zu ihr gehen, und ihr Jacques vorstellen?"
"Glaubst du, sie steht auf undichte Teppichratten?"
"Jacques ist nicht undi... okay, aber er ist keine Teppich... ach, leck mich doch."
"Kommst du nachher zur Probe?" Thorsten war nicht nur der nach Randolph zweitbeste Biervernichter unter dieser Sonne und Vorsitzender des Vereins zur Heiligsprechung Larry Flynts, sondern auch Schlagzeuger der besten unbekannten Band überhaupt, den Flying Muffels. Ich war Bassist. Probe nannten wir es, wenn wir uns nachmittags in Nobbes Keller trafen und uns solange volldröhnten, bis wir Musik hörten, ohne sie vorher spielen zu müssen.
"Logi. Hey, sag mal... was ist das denn?"
"Ach das... das ist Randolph. Ist mir vor zwei Wochen zugelaufen."
"Randolph sagst du, ja?"
"Er hat die gleiche Nase wie mein Opa, Gott hab ihn selig."
"Aber... das ist doch... also, wenn mich nicht alles täuscht, dann ist das doch ein... oder?"
"Ja, ich glaub schon. Ein echter, mit Flügeln, Feuerspucken und so. Das ganze Programm sozusagen. Außerdem spielt er Gitarre." Randolph interessierte sich währenddessen nicht sonderlich für uns und auch die Mutter mit ihrem gerade von der Schaukel gefallenen Sohn juckte ihn herzlich wenig. Stattdessen versuchte er erfolglos, Thorstens hässlichen schottischen Rehpinscher zu fangen. Als der Hund sich schutzsuchend unter einem Gebüsch versteckte, blähte mein Drache die Nüstern, holte einmal tief Luft und...
"Randolph, kein Feuer hier im Park. Spucken ist ein Mädchentrick, regel das wie ein Mann."
Naja, und dann wurde alles ein wenig komisch.
Nicht in dem Sinne komisch, wie der Anblick eines gerade von der Schaukel gefallenen Balgs, dem der verheulte Rotz aus dem Gesicht hing. Auch nicht so komisch wie ein kleiner Drache, der gerade einen ebenso großen Rehpinscher am Stück runterschlang, als wolle er das arme Tier inhalieren. Es war eher komisch im Sinne einfrierender Höllen oder lächelnder Goths, als die Mutter des ungeschickt auf der Schwerkraft gelandeten Kindes sich zu uns rüberdrehte und mir das strahlende Lächeln einer von Schmetterlingen und Rosenblättern umschwirrten Aphrodite schenkte. Das ganze Programm - Zeitlupe, singende Engel, Blütenduft in der Nase. Randolph rülpste und würgte an Jacques Hundeleine.
"Kenn ich dich nicht?" Sie nahm das Kind bei der Hand und schwebte elfengleich in unsere Richtung.
"Ich würde mich erinnern", sagte ich wahrheitsgemäß, während Thorsten sich auf die Suche nach seinem Hund machte.
"Zehnte Klasse, Kathrin. Du weißt schon, die immer mit Inge rumgehangen ist."
An Inge erinnerte ich mich. Scheiße, jeder würde sich an Inge erinnern. Aber Kathrin... ich kramte in den hintersten Ecken der Vergangenheit, suchte im verstaubten Fotoalbum meiner Erinnerung, bis ich das imaginäre Bild einer unscheinbaren Strohblonden vor mir sah, komplett mit Brille und Zahnspange. Ganz das Klischee des hässlichen Entchens, das nur deshalb mit den hübschen Mädchen spielen durfte, weil es gut in Mathe war und sie neben ihm immer noch ein wenig hübscher wirkten. Inzwischen war sie zu einem Schwan geworden.
"Kathrin... ja, ich erinner mich. Du bist jetzt ein Schwan, wie ich sehe. Hast dich echt ziemlich verändert."
"Du dafür umso weniger. Laberst immer noch totalen Müll." Sie lachte, ich auch. "Oh... das ist übrigens Karsten. Normalerweise heult er nicht."
"Du hast Familie?"
"Naja, ich..." In diesem Moment wurden wir unterbrochen, weil Thorsten mich lautstark für den Verlust seines Hundes verantwortlich machte und am Kragen packte, gleichzeitig Karsten von Randolph in die Hand gebissen wurde und zu allem Überfluss ein Raumschiff im Gras landete. Hätte ich auch mit rechnen können.
...
Eigentlich war alles wie immer. Okay, der Boden war offensichtlich steinhart und arschkalt. Es war auch dunkler als sonst. Und normalerweise hatte ich auch kein summendes Sirren im Ohr. Auch neu war, dass ich meine Hand ausstrecken und den Körper einer Frau berühren konnte. Eigentlich war überhaupt nichts wie immer.
"Wo sind wir?" Kathrin war offensichtlich ebenfalls aufgewacht.
"Keine Ahnung", sagte ich. "Ich seh nichts."
"Ist das deine Hand auf meinem Bein?"
"Ist das dein Bein unter meiner Hand?"
"Das hoffe ich."
"Ich auch. Vor allem, wenn man die Alternativen bedenkt."
"Ja."
"Hast du eben auch das Raumschiff gesehen?"
"Das große silberne mit der knallroten Kuppel unten dran? Das war ja kaum zu übersehen."
"Und mordsmäßig hässlich."
"Glaubst du, sie haben uns...", fuhr Kathrin nach einer Weile fort. Sie musste den Satz nicht beenden, ich konnte mir denken, wie sie die Zeit bis zum Fragezeichen überbrücken wollte.
"Möglich."
"Was, denkst du, machen sie jetzt mit uns?"
"Schätze mal, irgendwas zwischen Experimenten und Suppe."
"Ist eher unwahrscheinlich, dass sie uns zu ihren Anführern machen, oder?"
Als dann ein paar Minuten später das Licht anging, trug das zur allgemeinen Positivierung der Situation nicht wirklich bei, zumal Randolph sich an seine genetischen Urinstinkte erinnerte und Kathrin auf die Brust sprang, um sich hemmungslos von ihr knuddeln zu lassen.
"Einer von ihnen hat sich auf mich gesetzt! Hilf mir!"
"Nein, das ist kein Außerirdischer. Das ist Randolph, mein Hausdrache."
"Randolph, sagst du?"
"Er hat die gleiche Nase, wie mein Opa, Gott hab ihn selig."
"Mir egal, wie er heißt, er zerkratzt mir das T-Shirt."
"Ach, das macht doch nichts..." Ich grinste und ließ mir ein wenig mehr Zeit, als eigentlich nötig gewesen wäre, den liebeskranken Drachen von meiner Begleiterin zu ziehen. "Böser Randolph", sagte ich und tätschelte ihm den Kopf.
"Naja, so von weitem wirkt er eigentlich gar nicht so böse. Eigentlich eher niedlich. Ja, der ist richtig süß."
"Das sagen alle Frauen. Der gute Randolph ist der geborene Herzensbrecher." Der Drache sprang aus meiner Armbeuge und bewegte sich mit ein paar beabsichtigt unbeholfen aussehenden Hüpfern auf Kathrin zu. Der kleine Schlingel wusste echt genau, worauf es ankam.
Immerhin sorgte er dafür, dass Kathrin abgelenkt war, was mir wiederum die Chance gab, mich ein wenig in unserem Quartier umzusehen. Vier Wände, ein Boden, eine grell leuchtende Decke. Das wars. Wenig spektakulär alles in allem. Wäre die Gesamtsituation nicht so nervenzerfetzend skurril gewesen, hätte ich mich jetzt sicher zu langweilen begonnen.
"Wo hast du den her?", fragte Kathrin. Ihre Stimme klang ein wenig verzerrt, weil Randolph ihr mit unverschämt obszöner Beharrlichkeit das Gesicht leckte.
"Ist mir zugelaufen."
"Korrigier mich, wenn ich falsch liege, aber sind Drachen nicht nur Fabelwesen?" Ich wollte sie gerade korrigieren, weil sie offensichtlich falsch lag, kam aber nicht mehr dazu, da sich in diesem Moment aus einem von mir vorher unbemerkten Loch im Boden eine gallertartige Wurst schälte, sich mitten im Raum aufrichtete, die Gestalt eines Arnold Schwarzenegger nicht unähnlichen Kleiderschrankes annahm und mir eine Kopfnuss verpasste, die mich in Form und Intensität ein wenig an den Himalaja erinnerte.
...
Es war schon wieder dunkel. Irgendwie peinlich, da lässt man sich schon mal von Aliens entführen und dann haben die nicht mal genug Strom um ordentlich Licht zu machen. Diesmal lag ich nicht auf dem Boden, sondern stand aufrecht. Hinter mir irgendwas Raues, um meinen Körper Ketten.
"Ist das deine Hand auf meinem Bein?"
"Ich bin gefesselt."
"Sollte ein Scherz sein."
"Unter anderen Umständen bestimmt witzig", log ich. "Vermutlich kommt jetzt der Teil mit den Experimenten."
"Ja, vermutlich. Gut, dass es dunkel ist. Ich will gar nicht sehen, was uns erwartet." In einem guten Film wäre dies jetzt der perfekte Zeitpunkt, das Licht angehen zu lassen, damit man eben doch sehen kann, was einen erwartet. Das hier war natürlich kein guter Film, aber das Licht kümmerte sich herzlich wenig darum und ging trotzdem an.
Ich war tatsächlich an eine Säule gefesselt. Links neben mir eine zweite Säule, an der Kathrin hing. Zwischen uns eine deutlich dünnere, verziert mit einem schauderhaft wimmernden Randolph. Vermutlich um die Sache interessanter zu machen, standen wir nicht auf dem Boden, sondern waren in etwa zehn Metern Höhe über dem Fußboden an die Säulen gekettet. Letzterer war insofern interessant, da er aufgrund verschiedenfarbiger Blutflecken und exotisch anmutender Innereienkonstellationen nicht zu erkennen war. Direkt vor uns schwebte eine Art Plattform, auf der sehr schmerzhaft aussehende Werkzeuge lagen, die in mir allesamt seltsame Assoziationen an den Dremel und die Gartenkralle in Gold aus dem Teleshop weckten.
"Vielleicht sollten wir sie fragen, ob sie das Licht wieder ausmachen könnten..."
"Ich würde sie lieber fragen, ob sie uns gehen lassen könnten", sagte ich.
Und dann ging es los: eine weitere Wurst - vielleicht war es auch dieselbe - kroch aus der Decke, ließ sich an einem zähen Schleimfaden langsam nach unten baumeln und landete mit einem ekelerregend blubbernden Platsch mitten auf dem Tisch.
"Oh, mächtiger Gott allen Lebens, Erschaffer der Weisheit, Begründer des Alles und oberster Heerführer auf dem Kreuzzug gegen die Andersartigkeit, erhöre er meine Worte und leite meine Taten, auf dass ich mit meiner Mission Erfolg haben werde." Der Schleimpfropfen verwandelte sich in ein fünfarmiges Irgendwas und sortierte die Werkzeuge neu. Vermutlich nach Schmerzfaktor. Randolph wand sich in seinen Ketten, bäumte sich auf und verharrte plötzlich mitten in seiner Bewegung. Er warf mir einen fragenden Blick zu und ich nickte. Der Feuerstoß traf das Alien frontal und brachte es kurz aus dem Gleichgewicht, allerdings nicht lange genug, um es von der Plattform fallen zu lassen. Hätte vermutlich eh keinen großen Effekt gehabt.
"Ihr glaubt wohl, mit eurer lächerlichen Gegenwehr seid ihr mir gewachsen. Ich werde euch gleich zeigen, wozu ich fähig bin!" Einer der Tentakel des Aliens verlängerte sich, griff nach einer Art Säge und näherte sich meinem Drachen. "Oh, mächtiger Gott allen Lebens, Erschaffer der Weisheit, Begründer des Alles und oberster Heerführer auf dem Kreuzzug gegen die Andersartigkeit, siehe er nun meine Taten, auf das ich durch die Erfüllung seines Willens einen Platz in seinem Himmelreiche würdig werde."
"Nimms mir nicht übel, aber als die Religionen verteilt wurden, warst du da pinkeln?"
"Verspotte nicht meinen Gott, Unwürdiger!"
"Ich mein ja nur... Guck dir den Kleinen doch mal an, ist der nicht viel zu niedlich, um einfach so aufgesägt zu werden?" Als wolle er meine Worte bekräftigen, gab sich Randolph offensichtlich alle Mühe, unverschämt süß auszusehen, womit er Kathrin ein schamloses Seufzen entlockte.
"Naja... vielleicht hast du Recht. Ich sollte ihm vorher so was in die Nase bohren." Das Alien griff nach einem mit Widerhaken besetzten Stachelding.
"Aber du kannst doch nicht einfach dieses Wesen... ich meine, er ist der Letzte seiner Art. Glaube ich."
"Das ist gut. Ich diene dem Vernichter der Andersartigkeit und mein Gott wird mich für dieses Opfer sicher fürstlich belohnen."
"Er... er..." Ich rang verzweifelt nach Argumenten, um meinem Drachen ein Leben in zwei Hälften zu ersparen. "Er... ist der beste Gitarrenspieler der Welt." Das schien zu wirken. Das Alien hielt einen Moment inne in seiner Bewegung. "Besser sogar als Mark Kno..."
"Er ist Musiker? Ich mag Musik. Spielt er Trompete?" Randolph schüttelte verächtlich den Kopf. Vielleicht hätte er sogar auf den Boden gespuckt, wenn er nicht Gefahr gelaufen wäre, sich böse dabei die Füße zu verbrennen.
"Nein, anscheinend nicht", sagte ich. "Nur Gitarre."
"Ein Hippie also. Kein Grund, ihn am Leben zu lassen." Der Tentakel näherte sich wieder dem Drachen und die Sägezähne waren kurz davor, sich einen Weg durch den Schuppenpanzer seines Bauches zu fräsen.
"Er spielt Schach! Wie ein junger Russe."
"Schach? Das Spiel der Könige? Wie lange suche ich nun schon nach einem ebenbürtigen Gegner..."
"Randolph ist ein guter Gegner. Wie wärs mit einer Partie um unsere Freiheit?"
"Gut, so sei es. Er soll gegen mich spielen. Um eure Freiheit. Der mächtige Gott allen Lebens, Erschaffer der Weisheit, Begründer des Alles und oberster Heerführer auf dem Kreuzzug gegen die Andersartigkeit sei mein Zeuge. Wenn ich verliere, lasse ich euch gehen."
Wenig später saßen sich Randolph der Sechzehnte und das fiese Wesen aus dem All an einem Schachbrett gegenüber, beide in Denkerpose vertieft (das Schleimalien hatte die Gestalt von Bobby Fischer eingenommen), beide offensichtlich äußerst konzentriert.
"Bist du sicher, dass das gut geht?" Kathrin und ich waren immer noch an den Säulen festgekettet und beobachteten das skurrile Schauspiel von dort.
"Er ist gut. Verdammt gut sogar."
"Hast du viel mit ihm trainiert?"
"Wir konnten nur einmal spielen. Er neigt dazu, geschlagene Figuren aufzuessen." In diesem Moment verlor mein Drache einen Turm.
"Sieht nicht gut für uns aus", kommentierte ich. "Äh... ich weiß, das hier ist nicht der richtige Augenblick... aber hättest du vielleicht Lust... ich meine, falls wir das hier überleben... also, da gibt es ein nettes Café und... naja, ich hab mich halt gefragt, und jetzt frage ich auch dich, ob du... also... ich weiß, du bist verheiratet und hast Kinder, aber..."
"Kinder?"
"Kevin."
"Kevin? Ach so, du meinst Karsten." Sie lachte. "Nee, der gehört mir nicht. Gottseidank. Ich pass nur manchmal auf die kleine Nervensäge auf, wenn meine Schwester arbeiten muss."
"Oh, dann bist du also nicht..."
"Nein."
"Das heißt, wir könnten..." Ich bin sicher, mein Satz hätte als ein Stück romantischer Eroberungskunst in die Geschichte eingehen können, wenn denn nicht Randolph diesen Moment genutzt hätte, um dem Alien mit einem hasardistischen Meisterzug den König nicht nur Matt zu stellen, sondern diesen auch gleich zu verputzen.
...
Dunkel. Klar, was auch sonst. Man gewöhnt sich schließlich an alles. Ich tastete vorsichtig meinen Körper nach Löchern oder fehlenden Sachen ab, stellte dann aber mit Freude fest, dass das Alien alles dran gelassen hatte. Vermutlich hatte er sein Versprechen tatsächlich eingehalten und würde uns nun freilassen.
"Riechst du das auch?" Kathrin war also ebenfalls noch am Leben.
"Das ist nur Randolph. Er schämt sich sicher sehr dafür."
"Nein, das meine ich nicht. Es riecht nicht nur nach Drache. Eher wie schottische Herrensauna."
"Drachen riechen nach schottischer Herrensauna."
"In die jemand ein Rudel inkonintenter Waschbären geworfen hat?"
"Das weniger."
"Na also."
"Du willst also sagen, es riecht nach Drache und inkontinenten Waschbären?"
"Vermutlich, ja."
"Das kann nur eines bedeuten."
"Und das wäre?"
"Nein halt... doch nicht."
Als sich dann direkt unter unseren Füßen eine Klappe öffnete und wir mitsamt einigen alles in allem sehr übelkeiterregenden Dingen nach unten fielen, hatte ich zwar Zeit genug zu bemerken, dass ich mit meiner Vermutung tatsächlich Recht und wir uns im Abwasserbecken des Raumschiffs befunden hatten, ich gleichzeitig aber nicht viel Gelegenheit haben würde, mich über diese richtige Schlussfolgerung zu freuen, da der Boden sich zwar zunächst in beruhigender Entfernung von uns befand, uns jedoch beängstigend schnell näher kam. Kathrin schrie sich die Seele aus dem schönen Leib und ruderte mit den Armen, als würde das irgendwas ändern. Ich schrie ebenfalls, auch wenn ich hinterher gerne gesagt hätte, dass es anderes war.
Randolph hingegen tat nichts dergleichen. Er schien den freien Fall tatsächlich zu genießen und grinste über das ganze Gesicht. Drachen sind aufgrund ihrer Geschichte dazu bestimmt, durch die Luft zu fliegen und vielleicht erinnerte Randolph sich gerade an die Pointe. Als er dann aber merkte, dass es uns beiden im Gegensatz zu ihm an der nötigen Anatomie fehlte, spannte er seine Muskeln an, packte mich und Kathrin am Kragen und begann, hektisch mit den Flügeln zu schlagen.
Um es kurz zu machen, der Drache schaffte es tatsächlich, unseren Flug abzubremsen. Zehn Zentimeter über dem Boden fing er den Fall ab und ließ uns langsam und sanft auf dem weichen Gras des Stadtparks ab. Vermutlich hätte er es auch schon eher schaffen können, aber ich glaube, er war einfach zu faul gewesen, uns noch länger zu tragen.
"Wie zum Teufel hat der kleine Kerl das nur angestellt?" Kathrin hielt den sichtlich erschöpften, aber glücklich schnurrenden Drachen in ihren Armen und streichelte den schuppigen Kopf.
"Er ist ein Drache."
"Ja, das ist er."
"Äh... sag mal... nach allem, was wir jetzt durchgemacht haben, also die Entführung, das viele Gefesseltsein, die nervenaufreibenden Abenteuer... ich meine... hättest du eventuell Lust, also es muss ja nicht sein, aber wenn du Lust auf nen Kaffee hättest, ich kenne da ein tolles Café... wir müssten nur einen Weg nach Hause finden und dann könnten wir beide doch mal... also..."
Ich glaube nicht an Geschichten. Diese Dinge von wegen, dass Leute nach haarsträubenden Abenteuern ihr ganzes Leben verändern, unerhörte Lektionen lernen und am Ende merken, dass sie von Anfang an füreinander bestimmt waren. Das wirkliche Leben ist anders, es funktioniert einfach nicht so. Niemand lernt, niemand ist füreinander bestimmt. Es gibt keinen Platz für Happy Ends, weil das Leben einfach immer weitergeht.
Und so war es für mich auf eine gewisse Art beinahe eine Erlösung, dass nach all den unglaublichen Ereignissen der letzten Stunden endlich wieder Normalität einkehrte, als Kathrin sagte, dass sie keine Lust hätte.