- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 9
Irgendwo nur nicht hier...
Ich stand eingezwängt zwischen einem großen Doppelbett und einer früher weiß gewesenen Schrankwand. Das Schlafzimmer von ihr glich inzwischen eher einer Rumpelkammer. Farbe blätterte von den Wänden und Sachen lagen überall verstreut dort auf dem Boden, wo er nicht zugestellt war.
Ich hatte bereits unter dem Bett nachgeschaut und nicht mehr als einige verstaubte Bücher gefunden. Das gleiche Bild hatte sich mir hinter dem Bügelbrett geboten. Sollte ich mich wirklich geirrt haben? Sah ich nun schon Dinge, wo gar keine waren? Oder schlimmer, brauchte ich vielleicht einfach nur wieder eine Katastrophe in meinem Leben?
Ich drehte mich zu dem Kleiderschrank um, hörte auf die Geräusche der Wohnung. Nichts, nur das monotone Rauschen des Fernsehers. Wie jeden Tag. Hier wurde schon lange kein Wort mehr gesprochen, zumindestens keines, das eine Bedeutung gehabt hätte. Nicht für mich.
Mit einer entschlossenen Bewegung öffnete ich eine Tür der Schrankwand und blickte in das Innere. Wie in einem Altar stand dort das wonach ich suchte. Was ich allerdings nicht hatte finden wollen. Aber die Trauer, die eigentlich hätte einsetzen müssen wich einem anderen Gefühl, welches stärker war als sie: Wut.
Mit entschlossenen Schritten verließ ich das kleine Schlafzimmer, durchschritt den Flur und fand mich dann in der Tür zum Wohnzimmer wieder. Sie sah eine der vielen Seifenopern, manchmal gluckste sie ein Lachen vor sich hin, das ich früher geliebt und inzwischen hassen gelernt hatte.
Ich baute mich vor ihr auf, folgte ihrem Blick, sah zu wie sich ihre Augen verzweifelt weiteten, als sie den Gegenstand in meiner Hand sah, bemerkte, wie sie den Mund öffnete um zu erklären. Ich wollte keine Erklärungen hören. Nicht dieses Mal.
„Ich will gar nicht wissen warum du es dieses Mal getan hast. Aber ich will dass es aufhört.“, sagte ich mit fester Stimme.
Sie sah mich verzweifelt an.
„Seit wann geht Das schon wieder so?“
Ihr Blick wurde noch glasiger, als er ohnehin schon war. In diesem Moment wusste ich, dass es hier nicht mehr um sie ging, nicht darum, dass ich wollte, dass sie ihre Krankheit loswurde sondern einzig und allein um mich. Ich wollte nur die nächsten zwei Jahre einigermaßen überstehen, was danach folgen würde, für sie, war mir zumindestens in diesem Augenblick gänzlich egal.
„Das muss aufhören Mama.“
Sie nickte und folgte mir, als ich mich in Bewegung setzte und in die Küche ging.
Dort angekommen goss ich den Inhalt der Flasche, die ich vor wenigen Minuten im Kleiderschrank meiner Mutter gefunden hatte in den Ausguss. Der beißende Geruch von Weinbrand schlug mir ins Gesicht. Übelkeit stieg in mir auf, die ich aber schaffte zu unterdrücken bis ich die leere Flasche in den Mülleimer geschmissen hatte. Mit einem entschlossenen Schlucken verbannte ich das Würgen gänzlich. Danach wandte ich mich wieder ihr zu: „Ich habe Bedingungen. Ich will, dass Dad davon erfährt und dass du eine ambulante Therapie beginnst.“
Sie sah mich zweifelnd an doch bevor sie widersprechen konnte erhob ich wieder das Wort.
„ Du hast die Wahl: Entweder zu meinen Bedingungen oder gar nicht.“
Wir wussten Beide, was das bedeutete. Wenn sie nicht tat, was ich sagte, würde ich meine sieben Sachen packen und gehen. Dass ich das nicht vorhatte, weil ich mir nicht schon wieder meinen Alltag von ihr durcheinander bringen lassen wollte, wusste sie nicht und vielleicht war mir das zu diesem Zeitpunkt auch nicht bewusst.
Sie nickte und wich meinem Blick aus. Ohne dieser Geste Beachtung zu schenken griff ich nach dem Telefon.
Ich durchquerte die Wohnung und schloss, als ich in meinem Zimmer war die Tür hinter mir. Mein Zimmer war groß und in einem kräftigen Orange gestrichen. Dieser Raum strahlte nur so vor Glück. Er passte nicht zu mir, hatte es nie getan und würde es nie tun.
Nachdem ich mich umgesehen hatte, öffnete ich das große Fernster und ließ die kalte Luft des Abends herein. Auf der Straße vor dem weißen Haus, in dem ich lebte, fuhren noch einige Autos und ein Paar stand unter dem Lichtkegel einer Laterne, die Arme um den anderen geschlungen, nichts mehr von ihrer Umgebung wahrnehmend. Ich beneidete sie zutiefst. Wie schön es doch wäre, jemanden zu haben, dem man vertrauen konnte, der für einen da war und einen auffangen konnte, wenn man, wie ich gerade zu einem Höhenflug in die Tiefe ansetzte. Ich löste meinen Blick von der Einträchtigkeit dieser Menschen und sah in die Dunkelheit des Nachthimmels. In der Stadt sah man kaum Sterne. Auf dem Land war das anderes. Dort hatte ich schon die Schleier der Milchstraße gesehen. Früher hatte ich Stunden lang in den Nachthimmel gestarrt und immer neue Sterne gesehen. Damals war noch alles in Ordnung gewesen. Meine Welt noch geordnet. Natürlich war ich in Wirklichkeit damals nur zu klein gewesen, um zu verstehen, was tatsächlich geschah, um zu sehen, dass auch zu dieser Zeit nicht alles eitel Sonnenschein gewesen war.
Trotzdem war es besser gewesen. Unwissenheit ist ein Segen.
Aus dem Gedächtnis wählte ich die Nummer meines Vaters. Als auch nach dem zwanzigsten Klingen keiner an den Apparat ging wählte ich die zweite Nummer. Er meldete sich. Im Hintergrund hörte ich Geräusche von Maschinen und verschiedene Stimmen.
„Kannst du reden? Es ist wichtig.“
„Moment.“
Die Geräusche verstummten.
Nachdem ich ihm alles erklärt hatte, fragte er, ob er vorbei kommen solle. Ich lehnte ab, obwohl ich ihn zu gern gesehen hätte. Tränen traten in meine Augen und verdrängten den Hass. Ich schluckte schwer und legte dann auf. Draußen stand das Pärchen immer noch eng umschlugen unter dem Lichtstrahl. Moskitos schwirrten um sie herum. Wieder schaute ich in dem Himmel und suchte nach einem Stern. Nur einem, mehr nicht, fand aber keinen. Ich schloss das Fenster und lehnte mich gegen die kühle Scheibe.
Wie würde der morgige Tag aussehen? Ich wusste es nicht. Wenn ich ehrlich war, wusste ich nicht einmal, was ich jetzt tun sollte? Zur Tagesordnung übergehen und vielleicht den Fernseher anschalten? Eine neue Serie lief bestimmt auf irgendeinem der unzähligen Programme. Oder musste ich da wieder raus und mich mit meiner Mutter auseinandersetzen, die mir fremder war als irgendein anderer Mensch? Ich durchschritt das Zimmer und ließ mich auf mein Bett fallen, schnappte mir eins der Plüschtiere und starrte an die Decke. Tränen standen in meinen Augen, ich wusste nicht einmal, dass ich noch weinen konnte. Einen Moment ließ ich es zu, ließ sie über meine Wangen gleiten dann stand ich auf, schmiss das Plüschkaninchen in die Ecke und wischte mir die Tränen aus den Augen.
Als ich die Türklinke in meiner Hand hielt zitterte ich ein wenig, öffnete dann aber dennoch das Portal zur Außenwelt. Meine Mutter stand direkt vor mir, die Arme um sich geschlungen, das Gesicht rot von vergossenen Tränen. Sie tat mir Leid. Ich machte einen Schritt auf sie zu und umarmte sie, zog unweigerlich den Geruch von Weinbrand und Schweiß ein und wünschte mir irgendwo anders auf der Welt zu sein, nur nicht hier...