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Irre
Irre
I
Es ist Samstag. Ein Tag, an dem Frau Schweiger ihren morgendlichen Kontrollgang zu früher Stunde zu vergessen scheint. Trotzdem wache ich bereits um halb sieben auf, nun schon an die frühe Zeit gewöhnt. Regen. Ich stelle mich ans vergitterte Fenster und schaue zu, wie Wasser aus dem Himmel fällt. Wuchtig klatschen die Tropfen auf den Boden, springen hoch, bevor sie sich in den Pfützen verteilen.
Was tue ich hier? Ich stehe vor dem Fenster und schaue auf den niederprasselnden Regen. Nicht aus Sentimentalität. Nicht aus Freude am romantischen Moment. Nicht aus Langeweile. Nicht, um wach zu werden. Es gibt einfach nichts anderes zu tun. Ich stehe hier – in einem Gebäude, das für schwachsinnige und komplett bekloppte Menschen gedacht ist. Ich steh‘ hier in einer Irrenanstalt. Meine Gedanken sind grau und düster wie der Himmel und das ist zum Kotzen.
Ich kriege leicht einen Sonnenbrand, weshalb mich schlechtes Frühlingswetter eigentlich nicht stört. Aber in diesen Wochen gibt es zuviel Regen. Und bei Regen ist es schwer, zuversichtlich zu sein. Besonders, wenn man zu früh wach geworden ist.
Heute stört der Regen auch auf andere Weise. Für die Mittagsstunde ist ein Spaziergang um den See angesetzt. Als kleine Appetitanregung oder weiß der Geier. Aber bei diesen Wetterverhältnissen wird der Ausflug mit Sicherheit eine Katastrophe, wenn er nicht gleich abgesagt wird. Alle müssen Regenmäntel anlegen. Gummistiefel müssen angezogen werden. Ebenso Kapuzen. Doch die werden nach spätestens der Hälfte der Strecke im Gebüsch verstreut sein und die ganzen Irren werden in Socken und Unterhemden durch den Regen springen, in Pfützen baden, Schlammschlachten veranstalten. Die Wärter werden rigoros durchgreifen – und doch keine Ordnung schaffen können. Die Schwestern – total mit der Situation überfordert – werden konsterniert herumwaden und nur noch mehr Chaos kreieren. Und ich, ich stehe dann leicht abseits, unfähig, den skurrilen Geschehnissen zu entgehen.
„Morgenkontrolle. 6 Uhr 51. Zimmer 213. Sperling? Wetzel? Anwesend.“
Welch herzliche Begrüßung am Morgen. Frau Schweiger hat den Kontrollgang doch nicht vergessen. Nur verspätet hat sie sich. Ich bin gespannt, welche Erklärung die Tratschtanten im Aufenthaltsraum für ihren ungewöhnlichen Anflug dezenter Verantwortungslosigkeit haben werden.
„Machen Sie sich bereit für Frühstück. In wenigen Minuten wird aufgetischt.“
Mein Zimmergenosse Karsten Wetzel ist nun auch wach und holt aus einem Versteck hinter dem Kopfende seines Bettes den Jack Daniels hervor. Von, mir unbekannten, Freunden eingeschmuggelt. Hastig schraubt er den Verschluss ab, halb auf dem Bett liegend, halb auf dem Boden kauernd, um ja nicht gesehen zu werden. Welch Lächerlichkeit. Mit unstillbarer Gier nimmt er einen monströsen Schluck des Delirium verheißenden Destillats und packt anschließend die Flasche schnell wieder ins Versteck. Dabei braucht er sie sowieso gleich wieder.
Währenddessen habe ich mich angezogen und bin nun auf dem Weg zum Waschraum. Ich öffne die quietschende Tür; wie lang wollen die noch mit dem Ölen warten? Kaum auf dem Gang fallen mir sofort „Memme“ Rugel und Martin Densch auf, die angeregt flüstern. Ich beschließe, mir vor der Morgenwäsche die Neuigkeiten anzuhören.
„Hey Sperling, die Schweiger wurde zusammengestaucht.“
Das ist der erste Satz, der mir entgegen getuschelt wird. Sind es Gerüchte oder sachliche Informationen? Rugel ist nie für voll zu nehmen, doch was Neuigkeiten angeht, ist er sehr zuverlässig.
„Die Schweiger hat sich wegen irgendwas aufgeregt und wurde daraufhin von der Meiling so richtig schön angeschissen.“
Oh nein, ein profanes Wort. Martin Densch kann nicht an sich halten und lacht lauthals los. Immer wieder wiederholt er das Wort „angeschissen“ und jedesmal bricht das gekreischte Lachen aus ihm heraus. Die genervte und missmutige Miene, die mir Rugel entgegen wirft, sie ist mir gern zu Befehl. Kraftvoll halt ich meine rechte Hand auf Denschs Mund, presse seine dicken Backen zusammen und lasse jeden Ton verstummen. Mit schockierten Augen schaut er mich gebannt an. Ich lege meinen Zeigefinger auf meinen gespitzten Mund und zische leise und bedächtig. Langsam entferne ich meinen Griff. Martin äfft zwar grinsend meine Geste nach, verzieht sich aber ruhig.
„Also. Anscheinend hat sich die Schweiger aufgeregt. Sie ist nicht damit einverstanden, dass du wieder Einzelgespräche mit Dr. Meiling führen darfst. Sie ist über diese Sonderbehandlung verärgert und hat stattdessen sogar dafür plädiert, dich in Einzelhaft zu stecken. Kann es sein, dass sie dich nicht leiden kann? Hehe, naja, auf jeden Fall hat ihr die Meiling dann mit recht schroffem Ton verklickert, dass dies nicht ihr Fachgebiet sei. Sie solle sich ihren Aufgaben widmen und die Entscheidungen die Patienten betreffend denen überlassen, die die nötige Fachkompetenz haben und zu eben diesen Entscheidungen befugt sind...“
Ich höre dem Sprechdurchfall Rugels schon lange nicht mehr zu. Ich darf wieder zu Sophia? Wann wurde das entschieden? Egal. Wann ist es soweit? Morgen? Übermorgen. Dann ist Montag, in zwei Tagen. 48 Stunden, dann ist Sophia wieder hier. Bei mir.
II
„Xavier Sperling!“
Erschrocken schnelle ich hoch. Der Aufruf der Krankenschwester lässt mich aus meiner lethargischen Träumerei erwachen. „Xavier Sperling“, hallt es erneut durch den gewölbeartigen Aufenthaltsraum, dieses Mal mit bedeutend mehr Nachdruck. Rasch husche ich quer durchs Zimmer zur Ausgabestelle und melde mich zur Stelle. Erstaunt erblicke ich Frau Schweiger, wo normalerweise Karl seine Arbeit verrichtet. Wahrscheinlich sitzt er mal wieder im Waschraum der Wärter und masturbiert.
„Hier, Herr Sperling“ – mit diesen Worten streckt Frau Schweiger mir einen winzigen Pappbecher mit einer Vielzahl bunter Pillen entgegen. Verwundert starre ich Frau Schweiger an, was ihrer Stimmung offensichtlich nicht sonderlich zugute kommt.
„Haben wir ein Problem, Herr Sperling?“
„Ähm, ich... argh!“
Ein gezielter Stoß in meine Seite raubt mir die Luft und lässt meinen Erklärungsansatz in Gestammel enden.
„Du hältst den ganzen Betrieb auf“, schnauzt mich Memme von hinten an. Memme, so wird Christian Rugel von den anderen Insassen genannt. Er wird schon immer so genannt, aber anfangs war er keine Memme. Neben seinen geistigen Problemen – er ist notorischer Lügner – leidet er an Myelomalazie. Rückenmarkerweichung. Die anderen Insassen fanden es lustig, ihn als Anspielung auf sein geschwächtes „Rückgrat“ Memme zu taufen. Nun ja, das dauernde Anprangern hat ihn sehr mitgenommen; jetzt ist er eine Memme.
Außerdem bekommt er keine Luft mehr, denn mein Schlag in die Magengrube hat gesessen. Während er sich kriechend entfernt, geifert er noch, dass sein Bruder bei den Navy Seals sei und der mich ganz leicht platt machen könnte.
„Herr Sperling, ich darf doch sehr bitten. Jetzt nehmen Sie endlich Ihre Medizin ein und gehen auf Ihr Zimmer.“
Ah, da kommt ja Karl getrottet. Er sieht erschöpft aus. Anscheinend hat sein rechter Arm hart arbeiten müssen. Ein Schmunzeln kann ich mir nicht verkneifen, was aber die Schweiger erneut auf den Plan ruft.
„Finden Sie es lustig, mich und die anderen warten zu lassen?“
„Aber ich dachte, ich müsste keine Pillen mehr einnehmen. Ich darf Dr.Meiling zitieren: Sobald sich der Patient längere Zeit ruhig verhalten hat und einen stabilen Eindruck macht, kann man von zusätzlicher Medikation wie der Verschreibung von Valtex10 absehen. Also was soll ich mit diesem Cocktail?“, frage ich mit durchaus ehrlicher Verwunderung.
„Nun, Herr Sperling, die Frau Doktor Meiling gibt zwar ihren Beobachtungen entsprechend Empfehlungen für die Behandlung der Patienten, letztlich entscheidet aber Dr.Nowitz. Und Dr.Nowitz hat nichts an der Medikation für Sie ändern lassen. So. Und jetzt schlucken Sie die Pillen. Heute ist kein guter Tag, um mir auf die Nerven zu gehen, also schlucken Sie sie. Anderenfalls wartet die Blackbox auf Sie. Ich lass‘ mich doch nicht verarschen.“
Meine Augen weiten sich, mein Herz schlägt schneller. Ein Adrenalinstoß jagt den nächsten. Blackbox? Für einen kurzen Moment vergesse ich mich und meine Umgebung und denke nur noch an die Blackbox. Mir wird kalt, und ich habe Schmerzen. Mein Innerstes wird von tausenden, winzigen Nadeln durchstochen. Die Angst lässt mich hastig den Pillenbecher ergreifen und rasch eine Kehrtwende machen.
„Stopp, stopp, stopp! Sie werden die Tabletten hier vor mir einnehmen. Los!“
Erschrocken zucke ich zurück. Frau Schweiger scheint mir nicht zu trauen, was mich aber zum Glück auf andere Gedanken kommen lässt. Nachdem ich mich kurz gesammelt habe, schlucke ich die Ekel erregenden Pillen.
„Mund auf, Zunge raus.“
Bereitwillig lasse ich Frau Schweiger die Einnahme kontrollieren, um endlich auf mein Zimmer zu gelangen.
„Christian Rugel!“
Die Medikamentenausgabe wird fortgeführt, während ich konsterniert den Gang entlang blicke. Sophia, sie ist wieder da. In ihrem langen, weißen Mantel schlendert sie mir entgegen, den konzentrierten Blick auf ihre Akten gerichtet. Sie sieht wie immer wunderschön aus – und das vollkommen ungewollt. Für ihre Arbeit hier will, soll und muss sie sich ja auch nicht herausputzen. Üblicherweise trägt sie ihre blonde Mähne hochgesteckt, ihr Hemd zugeknöpft und anstatt ihrer Kontaktlinsen eine Brille. Ein stummes „Sophia“ entschwindet meinem Mund, ich kann meine Blicke nicht von ihr nehmen. Als sie an mir vorbeigeht, hebt sie ihren Kopf, schaut mich an. Und geht unbeeindruckt ihres Weges. Ich rufe ihr hinterher, rufe „Sophia“. Erfolgreich, denn der Engel dreht sich um. Wenn auch mit ernster Miene. Sie räuspert sich, rückt mit dem kleinen Finger ihre stilvolle Brille zurecht. Dann verbessert sie mich mit den Worten „Frau Dr.Meiling wäre wohl angebrachter, Herr Sperling“ und geht ins Schwesternzimmer. Ein Engel bleibt sie. Nur was bin ich? Wohl nicht himmlisch. Sicher nicht von höherer Art. Sie hat Recht. Was bin ich schon? Ich bin Herr Sperling. Nein, ich bin der Patient mit der Aktennummer 27-xs-314. Ich bin der Verrückte, der in sein Zimmer trottet und auf sein Bett fällt.
III
„Kannst du nicht anklopfen?“, werfe ich der Schweiger entgegen.
„Dr.Meiling will Sie sprechen“, verklickert mir dieser Drache gelangweilt und doch tadelnd. Wie sie es nur immer wieder schafft, mich gegen sie aufzubringen. Ich lege mich wieder auf mein Bett und decke mich zu.
„Das ist aber schön für die Frau Doktor“, zische ich, „sagen Sie ihr, dass ich heute auf ihre Laberstunde verzichten kann.“
Zur Wand gedreht warte ich darauf, dass die Schweiger die Tür schließt, doch ich vernehme kein Zufallen der Tür. Etwas verwundert wende ich mich ihr wieder zu und blicke sie ebenso verwundert an.
„Herr Sperling, Sie sollten jetzt zu Dr.Meiling mitkommen.“
Sollte ich? Was meint sie? Ich folge ihr. Was meint sie? Grübelnd merke ich nicht, wie die Zeit vergeht, und vernehme überrascht, dass wir bereits da sind. Ich stehe vor der Glastür mit der Aufschrift „Dr.Meiling – Psychiater & Psychotherapeut“. Bei beiden großen P’s fehlt der untere Teil. Sieht das bescheuert aus. Belustigt trete ich ein.
„Herr Sperling, setzen Sie sich. Frau Schweiger, ich danke ihnen. Sie können dann aber auch wieder gehen.“
Der Schweiger-Drache faucht noch kurz, schließt dann die Tür und ich schleiche an Sophias Schreibtisch heran. Mit einem Schmunzeln beobachtet sie meinen Bewegungsablauf. Auch ich schaue sie an und bemerke, dass sie ihr Haar offen trägt. Sie sieht bezaubernd aus.
„Hallo Xavier.“
„Wäre Herr Sperling nicht angebrachter, Frau Doktor?“
„Ach komm, Xavier.“
Sophia steht auf und schlendert langsam um den Schreibtisch herum.
„Offiziell bist du nichts anderes als mein Patient, und ich bin nicht mehr als deine Ärztin.“
Grazil nimmt sie auf meinem Schoß Platz und legt ihre Arme um meinen Hals.
„Doch inoffiziell...“
Der Rest ihrer Worte verstummt ob unserer küssenden Lippen. Entschlossen drücke ich sie von mir.
„Ich weiß das, Sophia. Aber... Weißt du... Verdammt, du warst über einen Monat lang weg und bei unserem Wiedersehen ist alles, was du zu sagen hast, Dr.Meiling wäre wohl angebrachter?“
Sie weiß, dass ich die Situation verstehe. Das tue ich tatsächlich. Aber ich liebe es, sie zu necken.
„Xavier, vorhin, das war unser Wiedersehen als Patient und Arzt. Das hier jetzt ist unser Wiedersehen.“
Ich kann mich nicht länger verstellen und ein Schmunzeln wächst auf meinem Gesicht. Wir küssen uns leidenschaftlich. Sie schmeckt so gut. Sie tut so gut.
„Siehst du, Xavier, ich habe es geschafft.“
„Du hast es tatsächlich geschafft“, stimme ich enthusiastisch zu. Sophia nickt, grinst, lacht wundervoll. Geradezu euphorisiert werfe ich mich ihr um den Hals. Die Wucht wirft uns um und aufeinander liegend bedanke ich mich bei mir.
IV
Sophia schläft. Ich decke sie zu, denn die Nacht durchs offene Fenster ist kühl. Die Wärme, so scheint es, beruhigt sie, so dass sie trotz des Lärms draußen schlafen kann. Obwohl das Dorf ein gutes Stück entfernt liegt und hier in der Anstalt üblicherweise Totenstille herrscht, hört man heute, wie irgendjemand durch die Straßen heizt. Ein frisierter BMW, diese Diagnose erlaube ich mir, der einen halbstarken Straßenrowdie durch die Nacht kutschiert. Im Leerlauf heult er auf, dann schalten und Kavalierstart. Immer wieder dreht er Runden durch das Dorf, stoppt ab und setzt jedesmal wie zu einem Rennbeginn an. Der Motor dröhnt bis hier und es bleibt kaum drei Minuten still. Dann neuerdings Hupen, Stop mit quietschenden Pneus, Vollgas auf Leerlauf, blechernes Dröhnen. Sinnlose Lausbüberei. Ich werde immer wacher.
Einen kurzen Moment der Ruhe nutze ich, um Sophia sanft über die Wange zu streichen. Vorsichtig, ohne sie in ihrem Schlaf zu stören. Leise sowieso, ohne Aufmerksamkeit zu erregen, schließlich ist es nicht unbedingt Karriere förderlich, wenn die aufstrebende Ärztin nachts in den Armen ihres Patienten liegend entdeckt wird. Und mir droht die Blackbox. Doch das Risiko hat sich in jedem Fall gelohnt. Selten habe ich mich in den letzten Monaten so zufrieden und beruhigt gefühlt. Selten habe ich mich in den letzten Jahren so geborgen gefühlt. Ich liebe sie. Und sie liebt mich. Keiner darf es wissen, doch wichtig ist nur, dass wir es wissen. Mein Gott, lass diesen Moment ewig andauern.
Dann wieder Hupen. Entnervt will ich das Fenster schließen, muss mich aber zunächst bedächtig aus Sophias Armen befreien. Vorsichtig hebe ich ihren Kopf an, gleite aus ihrer Umklammerung und stehe auf. Behutsam lege ich sie wieder zu Boden, so dass sie bequem weiter schlafen kann. Dann schleiche ich in Slow Motion zum geöffneten Fenster und blicke nach draußen. Ich schaue zum Himmel. Eine weite schwarze Fläche. Bestückt mit einzelnen strahlenden Sternen. Es sieht schön aus. Kaum zu glauben, dass manche von ihnen gar nicht mehr existieren. Sie sind schon lange tot. Nur sehen wir es nicht. Das Licht braucht einfach zu lange bis zur Erde. Am Horizont sieht man die Alpen. Man erkennt sie nur als düstere Gebilde, sie sind dunkler als der Himmel. Da, das Scheinwerferlicht, das den ruhestörenden Proleten durch das Dorf leitet. Sofort schließe ich das Fenster – mit einem gut hörbaren Klacken. Innerlich klatsche ich mir an die Stirn und hoffe, dass niemand mein unvorsichtiges Handeln gehört hat. Doch es wurde bemerkt. Sophia wacht auf und rollte sich von der einen auf die andere Seite, bevor sie sich schließlich doch in eine aufrechte Sitzposition begibt. Ich halte ihr meine Hand hin und helfe ihr beim Aufstehen. Beschützend lege ich meine Arme um sie und blicke in ihre Augen. Ihre wunderschönen Augen. Ihre Augen, die einen Lichtstrahl widerspiegeln. Einen Lichtstrahl?
Ein Wärter hat etwas bemerkt und kommt von seiner Taschenlampe geführt auf die Milchglastür des Büros zu. Sophia und ich rühren uns keinen Schritt. Wir atmen synchron, so flach wie nur möglich, stets die dunkle Silhouette des Wärters im Blick. Dann senkt sich die Türklinke. Ich schaue Sophia in die Augen und wünsche uns von hier fort. Der Wärter öffnet die Tür und schaltet sofort erschrocken das Licht an.
„Wer ist da? Dr. Meiling, sind Sie das? Und... Was macht denn der Patient hier?“
Mit der Situation überfordert zieht der Wärter hastig seine Elektropistole und hält sie mit zitternder Hand vor sich. Sophias feuchte Augen, voller Schock, was ich nur mit fragendem, hilflosem Blick erwidern kann. Dann endlich ihre Antwort. Markerschütternde Sätze.
„Sie kommen keinen Moment zu früh. Dieser Patient hat sich hier unerlaubt Einlass verschafft und sich mir genähert. Führen Sie ihn sofort auf die Station zurück, ich werde den Vorfall melden.“
Ich lasse ab von ihr und meine Arme baumeln kraftlos nach unten. Es fällt mir schwer, mich auf den Beinen zu halten. Ich kann keinen klaren Kopf bewahren. Das Schwert des Verrats durchbohrt mein Herz mit grausamster Brutalität. Am liebsten würde ich die Klinge greifen und sie gegen die Menschheit führen.
V
„Ich glaube, dass wir einen Funken jenes ewigen Lichts in uns tragen, das im Grunde des Seins leuchten muss und welches unsere schwachen Sinne nur von Ferne ahnen können. Diesen Funken in uns zur Flamme werden zu lassen und das Göttliche in uns zu verwirklichen, ist unsere höchste Pflicht.“ – Johann Wolfgang von Goethe
Erloschen. Der Funke ist dahin. Nun endgültig, wie mir scheint. Schon viele Male war er bis auf ein Minimum reduziert. Oft wurde die ehemals lodernde Flamme durch Ereignisse absurder Skurrilität bis hin zu unvorstellbarer Grausamkeit gelöscht. Bei jeder solchen Erschütterung meines Lebens hatte ich am Ende irgendetwas gewonnen, etwas an Freiheit, an Tiefe, aber auch an Einsamkeit, an unverstanden sein. Von der gesellschaftlichen Seite her gesehen war mein Leben, von jeder solchen Erschütterung zur anderen, ein beständiger Abstieg, eine immer größere Entfernung vom Normalen, Erlaubten, Gesunden gewesen. Mit der Zeit war ich arbeitslos, familienlos, heimatlos geworden. Ich stehe außerhalb aller sozialen Gruppen, allein, ungeliebt, in ständigem Konflikt mit der öffentlichen Meinung, mit der Meinung meiner nächsten Mitmenschen, der gemeinhin geltenden Moral, nicht zuletzt mit mir selbst. Und egal wie sehr ich mich bemühe, inmitten dieser Welt scheine ich nun für immer ein Fremder zu sein.
Nun sitze ich hier in Raum 61, der Blackbox, ihrem Folterraum, was ich aber auch nur Dank Karls Mitleid oder Unfähigkeit oder Willkür begreife. Die fällige Injektion, die selbst Elefanten in Trance versetzen würde, hat er weggelassen. So hocke ich nun in dieser stockdunklen Zelle und döse gelangweilt dahin, hadernd mit meinem Schicksal.
Der Gedanke an Flucht kommt gemächlich und schleichend. Aus Neugier und Langeweile stehe ich auf und beginne, den stockdunklen Raum abzutasten. Die Länge schätze ich auf drei Meter ab, ebenso die Breite. Die Decke ist zu hoch angelegt, als dass ich sie mit einem Sprung erreichen könnte. Nachdem ich die Raumabmessungen bestimmt habe, mache ich mich daran, die Tür zu ertasten. Aufmerksam streiche ich mit meinen Händen über die Wände, alle Höhen überprüfend.
Da ist sie. Ich fühle eine Erhebung. Es könnte ein Scharnier sein. Aber an einer so hohen Stelle? Ich muss mich strecken, um es zu berühren. Es muss sich um ein Fenster handeln. Eine Art Luke. Das ist die Chance. Ich taste weiter, strecke mich, springe. Ich erfühle einen Halt, einen Henkel. Mit einem entschlossenen Satz hupfe ich hoch, verfehle allerdings das Ziel. Erneut springe ich. Diesmal bekomme ich den Henkel zu fassen und halte mich daran fest. Die geringe Größe des Griffs erschwert mir den Halt und es fordert einige Anstrengung, aber mit der gefundenen, optimalen Position als Basis, beginne ich, mich mit den Füßen von der Wand abzustoßen. Und nach ein paar kräftigen Rüttlern ist es geschafft – die Fensterluke ist aufgebrochen und ein seichter Lichtstrahl fällt in den Raum. Rasch ziehe ich mich an der Kante empor und schlüpfe durch die enge Öffnung in die Nacht. Mit schnellen, aber vorsichtigen und leisen Schritten husche ich zielsicher über das Anwesen in Richtung Südmauer.
Wie im Rausch überwinde ich die Gemäuer und bin im Nu in Pulling angelangt. Eine Glocke über dem Dorf, kein Mond, keine Sterne mehr, stattdessen Finsternis. Nur eine einsame Straßenlaterne hinter der nächsten Ecke. Ich meide den Lichtsee, den sie auf die Straße spült, schleiche vorbei an Fenstern, hinter denen das Leben pausiert. Auf der großen Straße nähert sich ein Auto dem Dorf. Ich verharre, lausche, ob es abbiegt. Der Fahrer bremst, schaltet einen Gang tiefer und rollt um die Kurve, die am Dorf vorbei führt. Durch das offene Seitenfenster poltert ein Bassgewitter in die Nacht. Der Fahrer gibt Gas, schaltet runter und bringt den Motor auf ungesunde Drehzahlen. Welch ein Prolet.
VI
Erleichtert lasse ich mich in den Sitz fallen und wische mir sogleich den Schweiß von der Stirn. Endlich bin ich im Flugzeug angekommen, ohne auf dem Weg, oder besser auf der Flucht, aufgehalten oder kontrolliert worden zu sein. Nicht einmal skeptische, prüfende Blicke von der Seite musste ich ertragen. Alles lief reibungslos. Die Welt scheint mich vergessen zu haben.
„Hallo. Mein Name ist Petter. Hermann Petter.“
Und da reicht mir der Mann, dessen Körperumfang eindeutig die Norm übertrifft, auch schon seine Wurstfinger entgegen. Ist das Schokoladensoße in seiner Handfläche? Wohl Einbildung. Trotzdem geekelt schüttel ich seine Hand und begrüße ihn mit einem knappen „hallo“. Anschließend platziert sich Hermann auf dem Nachbarplatz. Er hat sichtlich Mühe, eine bequeme Sitzposition zu finden. Schnaufend rutscht er hin und her, hüpft wie ein Walross nach vorne und hinten, und ich bete, dass er schnellstmöglich zur Ruhe kommt.
Während sich die restlichen Plätze des Airbus füllen, wendet sich Hermann zu mir.
„Na, Sie fliegen auch nach Rumänien, was?“
Mir fällt sofort Michael Mittermeier ein. Nein, nein, ich spring‘ vorher ab, mit‘m Fallschirm. Ich sage nichts.
„Ich bin ja nicht das erste Mal auf dem Weg nach Bukarest. Ich muss dort Geschäftliches erledigen. Wissen Sie, ich bin in der Systemadministration einer großen deutschen Firma beschäftigt und muss ein Netzwerkproblem in einer rumänischen Zweigstelle beheben.“
Natürlich. Der quasselnde Specki arbeitet am Computer. Was auch sonst? Der Rest seiner Lebensgeschichte bleibt mir glücklicherweise vorerst erspart, da er nach der Meldung „Fasten your seatbelt“ unbeholfen mit dem Sicherheitsgurt herumexperimentiert. Zur Überraschung meinerseits reicht der Gurt sogar um seinen Bauch, doch ist es ihm unmöglich, den Verschlussmechanismus zu durchschauen. Eine vorbeigehende Stewardess erbarmt sich seiner und hilft ihm. Sie ist blond, schlank, hat lange Beine und sieht Sophia mehr als ähnlich; mein Adrenalinaustoß erhöht sich sprunghaft.
Seine Tolpatschigkeit scheint Hermann peinlich zu sein, denn bis zum Lunch hält er seinen Mund geschlossen. Doch kaum eine Sekunde nachdem das Plastikgehäuse der LTU, gefüllt mit Essensattrappen ohne nennenswerten Nährwert, die Ablage vor seinem Wanst berührt hat, steht Hermanns voluminöser Mund sperrangelweit offen, bereit, Unmengen Magen füllender Pampe aufzunehmen. Ich bin noch zu aufgeregt und habe daher auf meine Ration verzichtet. Na, Herr Petter wird wohl genug für die ganze Sitzreihe futtern. Vor allem schlingt er schnell. Bemerkenswert, in welch rasanter Geschwindigkeit der Flugzeugfertigfraß der Kau- und Schluckmaschinerie zum Opfer fällt. Da mich scheinbar die Hälfte seiner Portion in Form von Krümeln mit der Intensität eines Artilleriebeschusses trifft, stehe ich entnervt auf und zwänge mich an Hermann vorbei, der deswegen eine für ihn sicher unerträgliche Esspause von 20 Sekunden einlegen muss. Auf der Flugzeugtoilette angekommen beginne ich ein rigides Reinlichkeitsritual. Als ich das fliegende WC wieder verlasse, steht mir neuerlich diese Stewardess gegenüber. Sofort fällt es mir wieder ein. Dieser Patient hat sich hier unerlaubt Einlass verschafft und sich mir genähert. Führen Sie ihn sofort auf die Station zurück, ich werde den Vorfall melden. Ich balle meine Faust bis das Zittern der Muskeln unerträglich wird. Zurück am Platz quetsche ich mich an den Fettmassen namens Hermann vorbei.
„Na, Sie waren ja recht lang auf Klo, was? Ha, wohl seekrank. Oder luftkrank. Oder will der kleine Freund nicht mehr, wie er soll, hm? Muahahaa.“
Hermann klopft mir auf die Schulter, steht dann auf und geht selbst auf die Toilette. Als er fertig ist und die Tür öffnet, presse ich ihn zurück in die WC-Kabine und verschließe die Tür. Mein Handballen schnellt gegen Hermanns Nasenbein, mein Knie in einen seiner Mägen. Dann halte ich seinen Mund zu, um jeglichen Ton zu unterdrücken und fahre fort mit Schlägen in den Bauch. Nach einer Weile fasse ich den Riesenschädel und knalle ihn gegen den verdreckten Spiegel, so dass dieser zersplittert. Immer wieder hämmere ich den Kopf gegen das zersplitternde Glas und Hermanns Blut versaut die weiße Plastikspüle. Ich spucke Speichel als ich ihm alles entgegen schreie, was ich habe. Wer ist hier der Patient, du fettes Schwein? Wer ist hier der verdammte Irre?
cdx.maxinho.2007