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Ist es Mord?

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12.02.2004
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Ist es Mord?

Das Haus war eine zweistöckige Jugendstilvilla in einem stillen Teil der Stadt mit ruhigen Wohnstraßen und gepflegten Rasenflächen. Am hinteren Teil, der auf den weitläufigen Garten blickte, entstand ein Anbau nach Art der Passivhäuser, ein Gebilde mit Ziegelfassade und großen Glasflächen. Einstweilen ragten noch hohe Gerüste über den Blumenbeeten auf und verdeckten den Blick. Einige Arbeiter werkten dort mit mäßiger Geschwindigkeit. An diesem Sonntagvormittag war nur ein Maurer anwesend.

Die alte Dame war seit dem Tod ihres Mannes Alleininhaberin der Firma und Besitzerin des Hauses. Sie war eine kleine und zierliche Person mit blau schimmerndem grauem Haar und energischem Auftreten. Sie trug ein geblümtes Kleid, das sich angenehm auf ihrer geröteten Haut anfühlte. Ihre nackten Füße steckten in Birkenstocksandalen, und dennoch war sie unverkennbar eine Dame, als sie aus dem Haupteingang ins Freie trat. Das Haus hatte auch eine Hintertür, aber die war seit Jahren nicht benutzt worden, und ließ sich nicht mehr öffnen. Sie drehte sich um, und fragte: „Was gibt es denn, was Sie mir so dringend zeigen müssen?“

Hinter ihr trat ein kräftiger Mann in den Dreißigern ins Freie. Der Gärtner. Er trug eine grüne Latzhose. Bis auf mehrere Meter Entfernung konnte die alte Dame den Geruch nach frisch gemähtem Gras an ihm wahrnehmen. Er war ein gutaussehender Mann, etwas servil, und es kam ihr manchmal so vor, als hätte er Angst vor ihr. Er sagte: „Bitte, Frau Chefin, kommen Sie mit zu den Rosen!“
Sie besah sich im vorbeigehen wohlwollend die gepflegten Blumenbeete. Dicht bei dem Gerüst am Anbau rankten sich schöne rote Heckenrosen empor. Die Arbeiter hatten strengste Anweisungen, sie nicht zu beschädigen. Die meisten Blüten waren schon voll entwickelt. Die alte Dame führte sorgfältig eine davon zu ihrer Nase und sog den Duft ein. Sie bemerkte flüchtig, dass der Rasen zu ihren Füßen an einer Stelle aufgerissen war. War es das, was ihr der Gärtner zeigen wollte?
Er sagte heiser: „Die Rosen! Sehen Sie sich doch die Rosen an!“
Dann rief er: „Sehen Sie genau hin!“
Die alte Dame wandte sich überrascht zu ihm. Im nächsten Augenblick spürte sie einen gewaltigen Schlag auf den Kopf. Es folgte ein Lichtblitz, und dann Dunkelheit. Als sie zu Boden sank, war sie schon tot. Neben ihr und dem erschrockenen Gärtner lag anklagend ein Ziegelstein. Er musste vom Gerüst gefallen sein...

Ein gewisser Hauptkommissar Kurz, ein kahlköpfiger kleiner Mann mit ausgesprochenem Spürsinn, bekam den Auftrag, diesen ungeklärten Todesfall zu untersuchen. Ein junger Inspektor namens Meyer begleitete ihn. Stunden nach dem Tod der alten Frau machte sich die Spurensicherung an die Arbeit. Kurz ließ seinen Blick durch den Garten wandern, bis er an dem toten Körper hängen blieb. Zu Meyer sagte er: „Kein schöner Anblick, nicht wahr?“
Dem jungen Mann war sichtlich übel.

Die Leute, die sich zum Zeitpunkt des Todesfalls in der Nähe aufgehalten hatten, mussten sich zur Verfügung halten. Da war einmal der Gärtner, der alles aus nächster Nähe mitangesehen hatte. Er schien verstört zu sein, stand aber nicht unter Schock.
Die Schwiegertochter hatte in einem anderen Teil des Gartens gearbeitet, bevor sie um die Ecke gelaufen kam. Sie hatte Schrammen an den Unterarmen und an den Schenkeln, und sie schwitzte. Sie schien mit den Nerven völlig am Ende zu sein.
Der Sohn der Toten hatte sich in seinem Arbeitszimmer im ersten Stock aufgehalten. Er trug es gefasst, und gab bereitwillig Auskunft. An ihm war keine Spur von Angst.
Im Erdgeschoss hatte die alte Köchin das Mittagessen vorbereitet, als es passiert war, und ein Nachbar hatte in einem angrenzenden Garten die Hecke gestutzt.
Die siebenjährige Enkelin wurde von einer Psychologin der Polizei betreut.
Ein Maurer in blauer Montur stand schüchtern im Hintergrund und sah den Beamten von der Spurensicherung bei ihrer Arbeit zu. Er hatte Mittagspause gemacht, als es passiert war.
So lauteten die Antworten auf die Frage: „Wo sind Sie gewesen, als es passiert ist?“

Der Kommissar beschloss, sich erst ein wenig umzusehen, bevor er jemanden genauer befragte. Er spazierte über den Rasen und bewunderte die vielen gepflegten Blumenbeete. Das Haus grenzte von zwei Seiten an den Garten. Diejenige, auf der es passiert war, konnte von einigen Nachbargrundstücken eingesehen werden. Und ein Nachbar war ja auch Zeuge des Todes der alten Dame geworden.
Die Fenster im Erdgeschoss und im ersten Stock waren vergittert. Es war vielleicht möglich, aus einem Fenster im zweiten Stock auf das Gerüst zu klettern. Er besah sich dieses Gerüst, das den Anbau umschloss, von unten, und kletterte anschließend ächzend hinauf. Grüne Sicherheitsnetze sollten verhindern, dass Gegenstände hinunterfielen. Sie machten es schwierig bis unmöglich, zu erkennen, ob jemand bei den Rosen stand. Einige Ziegel lagen hart an der Kante des Gerüsts. Sie sahen nicht so aus, als hätten Arbeiter sie leichtsinnigerweise dort abgelegt.
Der Kommissar balancierte auf dem Gerüst um die Ecke. Auch an dieser Seite grenzte das Haus an den Garten, an den schattigen Teil, in dem die Schwiegertochter der Toten Gemüse angepflanzt hatte, das nicht richtig gedieh. Diese Fassade wirkte ungepflegt. Auf ihr waren unzählige Flecken von Vogeldreck. Für das Gerüst gab es keinen Abstieg. Es gab auch keine Leiter in Sichtweite. Eine klobige alte Dachrinne ging vom Dach gerade nach unten. Sie war verbogen und schmutzig. An ihr waren Vogeldreck, weiße Flecken wie von schlampigen Malerarbeiten und einige dunkle Spritzer. Einige Schritte von der Ecke des Gebäudes entfernt stand eine große Regentonne aus Plastik. Sie war leer, soweit er das von hier aus sehen konnte. Kommissar Kurz drehte sich um, ging um die Ecke und machte sich an den Abstieg. Zu den Leuten von der Spurensicherung sagte er: „Ich will, dass Sie das Gerüst so genau wie möglich untersuchen! Dort oben muss der Täter gestanden haben, wenn es denn Mord war.“

Am nächsten Morgen fuhren Kurz und Meyer erneut zum Haus der Toten. Der Kommissar wollte die Köchin vernehmen. Je mehr er überlegte, desto mehr wurde ihm klar, dass sie eine Schlüsselstellung in diesem Fall einnahm. Sie wirkte ängstlich. Bei einer Tasse Tee erzählte sie, wie sie den Tod ihrer Chefin erlebt hatte: „Ich hatte den Braten im Rohr und habe die Nachspeise vorbereitet. In der Küche war auch der Maurer. Der hat sich schön Zeit gelassen mit dem Essen. Plötzlich höre ich den Gärtner schreien. Ich gehe ans Fenster, und sehe die Chefin draußen liegen. Ich laufe hinaus, und im nächsten Moment kommt der Junior-Chef die Treppe herunter. Wir finden die Chefin tot auf dem Rasen. Der Gärtner steht da, und weiß nicht, was er tun soll. Die Schwiegertochter kommt um die Ecke und kann es nicht fassen. Ein Nachbar, der Herr Berenkamp, hat es auch gesehen. Und dann, ja, dann haben wir eben die Rettung und die Polizei verständigt.“

Bei einer Zigarette im Freien stöhnte Meyer: „Das wird ein harter Tag mit Vernehmungen und vielen Berichten.“
Der Kommissar antwortete: „Das glaube ich nicht. Wir haben fast alles was wir brauchen.“

Sie suchten die Firma auf, und sprachen mit einer Buchhalterin, die die Familie seit zwanzig Jahren kannte: „Die Chefin hat die Zügel fest in der Hand gehabt, und wollte die Firma einfach nicht an den Junior-Chef abgeben. Sonst haben sich die beiden immer gut verstanden. Tragisch, dass es so enden musste! In den letzten Jahren hat sich auch die Schwiegertochter fürs Geschäft interessiert. Aber die hatte erst recht keine Chance.“

Zu diesem Zeitpunkt war Kurz sich fast sicher, den Fall gelöst zu haben, wenn es denn einer war...

Sie fuhren noch einmal zurück zum Haus der Toten, und die erste interessante Neuigkeit, die sie erfuhren, war, dass die Schwiegertochter den Gärtner für zwei Wochen in Urlaub geschickt hatte. Angeblich hatte ihn die ganze Sache sehr mitgenommen.
Die junge, dunkelhaarige Frau trug einen Trainingsanzug, der ihre Formen vorteilhaft betonte. Wieder arbeitete sie im Garten, „um auf andere Gedanken zu kommen.“
Meyer flüsterte: „Ich hätte nicht gedacht, dass Trainingsanzüge so kleidsam sind.“
Der Kommissar sagte: „Sie sind vor allem langärmelig.“

Die Spurensicherung hatte, wie erwartet, Fingerabdrücke von den Arbeitern und dem Kommissar selbst auf dem Gerüst gefunden.

Der Maurer beteuerte, dass er niemals die Ziegel so auf dem Gerüst ablegen würde, wie der Kommissar sie vorgefunden hatte. Kurz glaubte ihm. Der Mann wirkte niedergeschlagen. Die Familie machte seine Nachlässigkeit für den Tod der alten Dame verantwortlich.
Die beiden Eheleute gingen betont rücksichtsvoll miteinander um, doch in ihrer Haltung war etwas Distanziertes. Der Mann war der Liebling seiner Mutter gewesen, hieß es. Die Frau hatte erst in diesem Jahr angefangen, sich für die Gärtnerei zu interessieren.

Kurz schlenderte noch einmal durch den Garten, und in seinen Gedanken nahmen die Ereignisse Gestalt an, wie sie sich tatsächlich zugetragen hatten.
Meyer fragte: „Was meinen Sie? Ist es Mord?“

 

Noch eine kleine Anmerkung: Nur ungelöste Rätsel sind wirklich interessant. ;)

 

Hallo Fritz,

ich tippe auf die Schwiegertochter. :)

Nette kleine Geschichte, recht zügig in der Wortwahl geschrieben, wenn auch kein besonders spektakulärer Plot. Die Auflösung nicht dem Leser anzubieten, hat einen gewissen Reiz und gibt der Geschichte dadurch eine quasi posthume Spannung. Diese Idee ist also nicht schlecht, aber auch nicht innovativ, falls du das annehmen solltest. ;)

Nicht gefallen hat mir, dass du dich nicht durchgängig für eine einzige Perspektive entscheiden konntest, da wird mal aus der Sicht des Erzählers geschildert, mal die Gefühle der Toten dargestellt.
Z.B. dieser Satz hier hat mich irritiert, weil er inhaltlich da nicht hingehört, einmal abgesehen davon, dass er keinen informativen, für die Geschichte notwendigen Inhalt hat.

"Sie trug ein geblümtes Kleid, das sich angenehm auf ihrer geröteten Haut anfühlte." Dieses Empfinden kann nur deine Protagonisten haben, nicht der Erzähler. Ich würde es ändern.

Hier passt es auch nicht richtig: "Die alte Dame wandte sich überrascht zu ihm. Im nächsten Augenblick spürte sie einen gewaltigen Schlag auf den Kopf. Es folgte ein Lichtblitz, und dann Dunkelheit"
Dass sich die alte Dame überrascht jemandem zuwendet, mag man noch durchgehen lassen aus der Sicht des Erzählers, das kann er ja so erblickt haben, aber die nachfolgenden beiden Sätze können nur von ihr so gespürt und gefühlt worden sein.

Dann würde ich den Satz mit der Enkelin völlig weglassen, er besagt nichts wichtiges Inhaltliches und, ob das Ehepaar nun ein Kind hatte oder nicht, macht den Fall weder nebulöser, noch spannender. Ich habe auch mal irgendwo gelesen, dass es nicht so gut ist, wenn man innerhalb einer Kurzgeschichte jede Menge Leute mit ins Spiel bringt.Das verwirrt nur. Hier hast du ja schon sehr geschickt nur einen Maurer auf der Baustelle belassen und nicht einen ganzen Trupp. Aber die Enkelin würde ich aus demselben Grunde weglassen, wegen der Übersichtlichkeit.

Tja, ansonsten ist mir nichts aufgefallen, bis auf, dass du an manchen Stellen etwas geschliffener formulieren könntest, aber das fällt dir garantiert selbst in ein paar Wochen auf, wenn du dir deinen Text nochmals laut vorliest.

Bekomm ich einen Hinweis, zur Not via PM, ob ich richtig lag mit der Täterin? :)

Lieben Gruß
elvira

 

Liebe Elvira,

danke erstmal, dass Du Dir die Mühe gemacht hast, die Geschichte zu lesen!

Warum die Schwiegertochter? Wie hat es sich Deiner Meinung nach konkret zugetragen? Die Hinweise lassen zwei Lösungen zu, von denen eine sehr unwahrscheinlich ist... Die Existenz einer kleinen Tochter gibt übrigens einen wichtigen Hinweis.

Nehmen wir einmal an, es war Mord. Wäre ein Täter oder eine Täterin allein in der Lage gewesen, das Verbrechen auszuführen? Wenn ja, wie?

Was den Stil betrifft, hast Du Recht. Ich werde das ganze "schöner" schreiben, wenn ich mal Zeit habe.
Zu den Perspektiven: Wer sagt, dass man eine einzige Perspektive einnehmen muss? Meine ursprüngliche Absicht war, einen Zeitraum von einigen Minuten mehrmals zu erzählen, jeweils aus der Perspektive einer anderen Person, und in diesen Beobachtungen alle Hinweise unterzubringen. Vielleicht mache ich das ja noch, wenn ich die Geschichte überarbeite.

Die Sätze, in denen ich beschreibe, wie die alte Dame sich fühlt, sollten eine Beziehung zwischen ihr und dem Leser herstellen, bevor sie aus dem Leben scheidet. *schluchz* :p

meint der mitfühlende

Fritz

 

Mitfühlender Fritz,

dass du meine Kritik nicht berherzigen, aber auf jeden Fall lesen würdest war klar, mich freut jedoch, dass du so schnell drauf reagierst. :)
Meiner Meinung nach sollte ein Autor mit dem Leser mitfühlen, nicht mit dem Protagonisten. Ich mag als Leser auch nicht so gerne manipuliert oder gar zu etwas erzogen oder noch unverschämter gezwungen werden. Auch wenn es nur im Stadium des Versuchs steckenbliebe, ich fühlte mich als Leser nicht ernst genommen.
Nunja, genug der süffisanten Spitzenausteilerei.

Ich werde jetzt einen Teufel tun und dir verraten, welche Gedankengänge mich zu der Annahme veranlasst haben, die Schwiegertochter als Täterin zu wählen. Denk doch selbst nach. :klug:

Hihi...ok, das mit der Enkelin wiederum gibt mir zu denken...*grübel*Sie hat entweder selbst auf dem Gerüst gespielt und so ein Ziegel flog dann runter, oder hat miterlebt wie ihre Mutter den Mord verübte oder war schon eh labil und ihre Lieblingsomi war ihr das Wichtigste auf der Welt oder in ihr schlummerte eh eine verborgene psychische Erkrankung, die jetzt wie eine durch den Tod der Oma ausgelöste Initialzündung ausgebrochen ist. Dies sind meine kurzwelligen Gedanken vorerst dazu. Aber bitte glaube mir, dass ich ein wenig froh bin, dass nicht jeder Autor hier auf KG seine Geschichte zur Rätselratestunde gestalten möchte.

Liebsten Gruß
sendet die gefühllose
elvira

 

Ein weiterer Hinweis: Die Enkelin ist minderjährig, und daher nicht voll geschäftsfähig. :)

 

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