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Italienische Pizza
„Wie definierst du Angst?“, fragte mich Jens und sah mich von seinem Sitz aus tiefsinnig an.
„Hier neben dir zu sitzen, wo du dabei bist die dritte Dose Bier wegzusaufen, und nicht zu wissen, ob du nicht vielleicht vorhast, bei der nächsten Kurve deinen Mageninhalt über meinem Hemd zu entleeren“, lautete meine Antwort.
Darauf sah er mich verdutzt an.
„Du weißt doch, dass ich so was vertrage!“, er hörte sich gekränkt an, als ob ich ihm etwas Unerhörtes unterstellt hätte.
„Was ist mit Simones Geburtstag vor fünf Monaten?“, wollte ich fragen, überlegte mir es aber anders, „Warum fragst du denn so was?“
„Ach, keine Ahnung, kam mir bloß so in den Sinn…“, hörte ich seine geistesabwesende Antwort, als er sich wieder in sein Stephen King-Buch vertiefte – „Bag of Bones“ – las ich auf dem Umschlag.
Stephen King lesen und Bier trinken ist, genauso wie Schlaftabletten und Alkohol, eine gefährliche Mischung, beides führt zu Wahnvorstellungen. So war ich von seiner Frage nicht wirklich überrascht, abgesehen davon macht einen das Lesen von Stephen King-Büchern wirklich merkwürdig.
Ich wandte mich dem Fenster zu – die Regentropfen schnitten immer steilere Parabeln auf ihrem Weg nach unten durch das schmutzverschmierte Glas – der Bus wurde langsamer.
Na toll, schon wieder ein Stau. Das passte perfekt zum bisherigen Verlauf unserer Kursfahrt:
ständig Stau, die Welt grau, bedrückende Langeweile und Nichtstun.
„Hey, wir fahren nach Rom“, versuchte ich mich ständig aufzumuntern, „Die ewige Stadt wird doch wohl die Strapazen wert sein…“, aber in dem Moment würde ich liebend gerne die
ganzen Kolosseums und Petersdoms und alles, was da sonst so herumsteht, gegen den gemütlichen Fernsehsessel und einen guten Film bei uns im Wohnzimmer tauschen.
Dann drehte ich mich wieder Jens zu… und es fiel mir unheimlich schwer ein Lachen zu ersticken. Das Buch baumelte in seiner schlaffen Rechten, die leere Bierdose in der Linken, sein Kopf gegen den Vordersitz gelehnt, der Oberkörper mit den abgesunkenen Schultern wirkte gleichzeitig tragisch und urkomisch. Ein silbriger Speichelfaden fiel von seinen halb geöffneten Lippen auf die Knie herab.
Schnell aber leise – bloß nicht aufwecken! – holte ich meine Fotokamera und schoss einige Fotos von meinem schlafenden Freund, die dann eine kurze Zeit lang für Belustigung im Bus sorgten.
Das Hotel stellte, wie erwartet, keine angenehme Überraschung im Vergleich zu der Busfahrt dar. Freudlose Fenster schienen mich anzustarren als ich aus dem Bus stieg, abgefallener und
fahrlässig in kleinere Haufen gesammelter Verputz hinterließ tiefe Narben in der Fassade.
Als mir die große, dicke Frau an der Rezeption meinen Schlüssel übergab, warf sie mir den verachtendsten und missmutigsten Blick zu, den ich davor je gesehen habe. Ich machte einige Schritte Richtung Treppe, dann drehte ich mich wieder um, weil ich Depp meinen Reisekoffer am Tresen stehen gelassen habe, und da fiel mein Blick zufällig auf ihre linke Gesichtshälfte, die zuvor im Schatten versteckt war. Von ihrem linken Nasenloch über die Wange bis zum linken Ohr fraß sich ein eiterndes dunkelbraunes Gebilde, das nur ein bösartiger Tumor sein konnte, in das Gewebe. Ich wandte sofort den Blick ab, sonst müsste ich mich übergeben, und holte so schnell wie möglich meinen Koffer. Ich sah die Frau zwar nicht mehr an, aber trotzdem wusste ich irgendwie, dass sie sich an meinem Entsetzen erfreute.
Im Zimmer angekommen, warf ich den Koffer in die Ecke und mich aufs Bett. Jens, der hinter mir angetorkelt kam, tat das Gleiche. Ich starrte auf die gelbliche abbröckelnde Decke und sah einer fetten schwarzen Spinne zu, wie sie sich in einen Spalt etwa dreißig Zentimeter oberhalb der Tür verkroch.
Ich bin angzogen und in Schuhen eingeschlafen. Als ich aufwachte, war das Zimmer leer. Ich schaute auf die Uhr und schreckte hoch – halb Acht – na toll, Abendessen verpasst. Das war ja mal wieder typisch Jens, abhauen ohne mich zu wecken und bestimmt sogar noch meine Portion verdrücken. Ich lief schnell herunter – vielleicht konnte man in der Küche noch ein paar Reste zusammenkratzen. Jens kam mir auf der Treppe entgegen.
„Na, gut gegessen?“, fragte ich ihn. Sogar für Jens musste der Sarkasmus in meiner Stimme unüberhörbar sein, aber es schien ihm trotzdem nicht viel auszumachen.
„Hey, da hast du nicht viel verpasst“, nachdem, was ich hier bisher gesehen hatte, konnte ich ihm gut glauben, „Außerdem hast du so laut geschnarcht, dass der Putz von der Decke abfiel, ich dachte, wenn ich dich aufwecke, bringst du mich um.“
Jaja, die typische Ausrede, aber ich wollte nicht weiter nachbohren.
„Der Putz fällt hier doch sowieso von der Decke ab!“
Wir lachten beide und gingen wieder aufs Zimmer. Dort drückte mir Jens mit einer entschuldigenden Miene eine Keksepackung in die Hände. Als ich mich schon mit dem letzten Drittel der Kekse beschäftigte und er mittlerweile die zweite Literflasche Cola aufgemacht hatte, überflutete er mich auf einmal mit einem schnellen unerwarteten Wortschwall:
„Okay, okay, ich sag´s dir, ich kann es nicht mehr aushalten… Beim Abendessen heute habe ich die mit Abstand beste Pizza meines Lebens gegessen – einfach unbeschreiblich lecker!“
Vor fünf Minute hätte ich sicherlich ganz anders reagiert, aber inzwischen war mein Magen mit seinen Keksen zufrieden gestellt.
„Was war denn an ihr so besonders?“
Die Frage warf ihn irgendwie aus der Fassung. Es war so, als würde man einen gläubigen Katholiken fragen, warum Gott gut ist und der Teufel böse und nicht umgekehrt. Nach einer ziemlich langen Pause für eine solche banale Frage versuchte Jens es mir zu erklären.
„Na ja, ehrlich gesagt, wollte ich sie am Anfang gar nicht essen, denn sie sah nicht wirklich appetitlich aus…“, und das musste was bedeuten, dachte ich, denn Jens fraß wirklich jeden Scheiß, „…aber als ich erst ein Stückchen davon in den Mund nahm, das war… das war der geschmackliche Höhepunkt meines Lebens! Es war nicht nur der Geschmack, irgendwie wurde ich sofort zufriedener und glücklicher, mit meinem Körper im Reinen, verstehst du?“
„Äh, ja, klar doch“, ich verstand gar nichts. Hatte man denen Drogen untergemischt, oder was?
Weil ich den ganzen Nachmittag verschlafen habe, platzte ich am Abend vor Energie. „Gehen wir raus, gehen wir auf die Piste, machen wir Rom unsicher!“, versuchte ich Jens zu überreden, aber nichts davon kam bei ihm an. Er war blass, trank die ganze Zeit Cola und schien mit dem Geist ganz woanders zu sein. Wir einigten uns darauf, dass ich alleine in die Stadt gehe und uns beiden ein paar Getränke hole. Als ich mich im Flur befand, war ich überrascht wie still es überall war. Ich habe Lärm, Geschrei, Musik erwartet, Kissenschlacht, Sockenwerfen und was weiß ich – eben alles, was zu einer Kursfahrt dazugehört – aber es war still, totenstill. Ich ging herunter ins Foyer. Auf der breiten Couch war dort Herr Wolf, unser Geschichtslehrer, eingenickt. Sein Kopf war schlaff auf die Rückenlehne zurückgeworfen und Sabber floss auf den Lederbezug.
Schade nur, dass ich meine Kamera nicht dabeihatte. Aber als ich näher kam, verschwand meine Fröhlichkeit, denn von dieser Perspektive erschien er mir mehr tot als schlafend. Meine Nackenhärchen sträubten sich. Doch plötzlich zuckte er im Schlaf zusammen und ließ einen lauten anhaltenden Furz fallen – ja, die Pizza musste wirklich gut sein. Erleichtert verließ ich schnell das Hotel – ich wollte wirklich nicht die Dämpfe meines Lehrers genießen – und marschierte geradewegs zur nächsten Bar.
Eine Stunde später trabte ich fröhlich die Stufen des Hotels hinauf, mit einer 1,5-Liter Fantaflasche, gefüllt mit zwei Wodka-Lemon-Mixs. Das war ein alter Trick, den bei uns auf der Schule fast jeder kannte, so ließ sich an den Lehrern wunderbar Alkoholisches vorbeischmuggeln. Herr Wolf war immer noch da, jetzt war er wach, zumindest waren seine Augen offen, aber er schien an der weißen Wand gegenüber viel mehr Interesse zu haben als an der übrigen realen Welt. Als ich schon die Treppe hinauf wollte, sprach er mich plötzlich an, ohne aber den Blick von der Wand zu wenden.
„Hey, Julian, hast du etwas zu trinken?“
Ich wollte die Frage schon verneinen, aber ich bemerkte, wie sein Blick langsam von der Wand über das Foyer zu meiner Tasche wanderte, wo die rundliche Ausbuchtung der Flasche sich ganz deutlich unter dem dünnen Stoff kennzeichnete. Sein Blick war gierig, wie der eines Verschollenen.
„Äh… ja, eine Fantaflasche.“
„Kann ich einen Schluck davon nehmen? Ich habe schrecklichen Durst.“
Wollte er mich verarschen? Er galt als der pingeligste Mann an der Schule, ein Mann, der den Stuhl desinfiziert, bevor er darauf Platz nimmt, und jetzt wollte er auf einmal aus meiner Flasche trinken!
Widerwillig reichte ich ihm die Flasche. Er schraubte schnell den Deckel ab und legte seine Lippen – plötzlich bemerkte ich, wie stark sie zitterten – an den Flaschenhals.
„Jetzt ist es vorbei“, dachte ich, „Er schmeckt das Zeug und…“
Ich konnte meinen Augen nicht trauen. Seine Lippen, normalerweise schmal und blass, schienen sich um ein Mehrfaches vergrößert zu haben und schlossen sich begierig um die Flaschenöffnung – eine Schlange, die ein Kaninchen verschlingt, kam mir in den Kopf. Er trank nicht, er sog an der Flasche. Bei jedem Sog blähten sich seine Backen zuerst wie bei einem Frosch auf, dann fielen sie wieder so weit ein, dass die Wangenknochen ganz deutlich hervortraten. Jedes Mal verdrehte er die Augen so weit nach oben, dass das Weiße zu sehen war, jedes Schlucken begleitete das Geräusch der in seinen Schlund ratternden Flüssigkeit, als ob sie meterweit fiele. Ich erzitterte bei dem Gedanken daran, dass nur in einem leeren Körper solche Geräusche entstehen konnten, dass die Gedärme, die inneren Organe herausgenommen oder verfault sein mussten.
In fünf Anläufen sog er die Flasche leer. Er holte tief Luft und bedachte mich mit einem brüllenden Aufstoßen, der einen bissigen Hauch von Fäulnis in sich trug. Dann schmiss er die Flasche weg – einfach so, ohne zu fragen, ob es Pfand darauf gab – in einen Mülleimer, der wohlgemerkt gute acht Meter entfernt war. Er schaute mich wieder an und sein Blick machte mir deutlich, dass meine Präsenz nicht mehr erwünscht war. Ich wünschte sie auch nicht mehr und lief fast fluchtartig die Treppe hinauf.
Ich öffnete schnell die Zimmertür – aber nur so schnell, wie es mir das Zittern meiner Hände erlaubte – und brannte vom Wunsch über den Vorfall Jens zu erzählen, ich öffnete schon den Mund…
„Jens, du glaubst nicht was unten passiert ist“, war mir auf den Lippen,
…aber ich brachte keinen Ton heraus, weil Jens auf die gleiche Weise wie der Lehrer eine Colaflasche leerte.
Und dabei hatte ich bereits vier leere verstreute Eineinhalbliterflaschen um ihn herum gezählt.
Der Morgen traf mich wie ein Hammer auf den Kopf. Die halbe Nacht konnte ich nicht einschlafen, weil ich nachdenken musste, was gerade mit meinem Freund und dem Lehrer geschah. Nun… nein, es war nicht wirklich der Grund. Der wirkliche Grund war, dass ich befürchtete, dass das Wesen, in das sich mein Freund gerade verwandelte – so ein Blödsinn, das passiert doch nur in Horrorromanen, redete ich mir vergebens ein – sich, während ich schlafe, über mich stürzte. Die zweite Hälfte der Nacht plagten mich Albträume, in denen das Wesen, in das sich mein Freund verwandelt hatte, über mich stürzte. Außerdem glaubte ich leise sabbernde Geräusche aus der Ecke, wo sich das Bett von Jens befand, zu hören… aber ich konnte mich auch irren. Jedenfalls war es bei weitem nicht die angenehmste Nacht meines Lebens, und das Aufwachen war umso schlimmer. Denn schmerzvolle, erstickende Würgegeräusche weckten mich.
Bestürzt torkelte ich ins Bad. Dort traf ich Jens vor, zusammengekrümmt über der Kloschüssel zu einem zitternden Haufen Elend. Würgekrämpfe durchbohrten seinen Körper.
„Hey, alles in Ordnung mit dir?“, was für ´ne blöde Frage! Der Mann hatte den Mund voll Kotze und ich fragte, ob alles in Ordnung sei.
„Du hättest gestern eben nicht so viel Cola trinken sollen…“, oh, zeig bloß nicht zu viel Mitleid! Ich war eben ein Konversationsgenie.
Ich wusste nicht mehr, was ich sagen sollte. Ich warf einen kurzen Blick in die Kloschüssel und drehte mich sofort weg. Einen Moment länger und ich hätte meinen eigenen Brechreiz nicht unterdrücken können. Nicht dass ich besonders pingelig bin – ich war schon auf genügend Partys um mit dem Anblick von Erbrochenem vertraut zu sein – aber es schwammen kleinere und größere rötliche Gewebebröckchen da drin, umrundet von einer grünen schleimigen Flüssigkeit. Als ob er die Innereien auskotzte um… um Platz für neue zu schaffen.
Ein neuer Krampf überfiel ihn und ich fluchtete auf den Flur. Aber ich fand dort keine Zuflucht, denn von allen Seiten, von allen Zimmern, hallten die gleichen Würgelaute wieder, die ich vor dreißig Sekunden bei uns im Bad hörte.
„Das Frühstück wird wohl heute ausbleiben“, dachte ich.
Nicht gerade human, ans Essen zu denken, wenn sich die ganze Welt um dich herum die Seele aus dem Leibe kotzt, aber ich hatte gestern nur Kekse zum Abendessen, und der Hunger machte sich deutlich bemerkbar.
Ich ging in die Stadt, aß dort und verbrachte einen ziemlich schönen Tag. Sollen die doch im Hotel bleiben, selber Schuld, wenn man vergammelte Pizza isst. Ich besuchte das Kolosseum, den Petersplatz, das ganze Paket, das ich zuvor im Bus gegen meinen Sessel tauschen wollte, und kehrte gegen Viertel vor Sieben ins Hotel zurück. Vor dem Eingang, als ich die leeren mich anstarrenden Fenster und die Stille (Totenstille) bemerkte, bekam ich zum ersten Mal an diesem tag Schuldgefühle.
Vielleicht sind sie alle tot? Vergiftet, verwest, verfallen! Und ich war der einzige Mensch, der ihnen hätte helfen können!
Ich lief rasch die Treppe zum Eingang hinauf und durch das Foyer – kein Mensch (oder kein Wesen) zu sehen. Dann hörte ich Gesteck klirren. Unverständliches Stimmengemurmel, dann Lachen gesellten sich dazu. Ja klar – kurz vor sieben – Essenszeit!
Aber es fiel mir nicht wirklich ein Stein vom Herzen als ich vor der Tür der Kantine stand und das fröhliche Verteilen von Essen betrachtete. Vielleicht lag es daran, dass ich sie schon als tot abgeschrieben habe. Vielleicht waren sie mir zu fröhlich, zu gesund, zu lebendig. Alles schien so perfekt zu sein, keine Spur von der Sache heute morgen.
Kaum ich mich versah, war schon Jens bei mir, superfröhlich und putzmunter und… kräftiger? Maskuliner? Größer? Ich konnte es nicht fassen, erst gestern konnte ich beim Sprechen mit Jens auf ihn ein bisschen herunterblicken und jetzt wirkte er genauso groß wie ich! Ich hatte mal gelesen, dass Menschen während des Schlafes wachsen, und ich habe schlecht geschlafen, aber ob man durch Schlafen allein sechs, ja sieben Zentimeter nachholen kann…
Und schon schleppte er mich, fröhlich plappernd und anscheinend ohne etwas von meinem Zustand – ich grenzte an Ohnmacht – mitzukriegen, zu seinem Tisch, wo er für mich ein Plätzchen freigehalten hatte – wie nett. Er schien sich gar nicht an sein Elend heute Morgen zu erinnern!
Nach fünf qualvollen Minuten, in denen mir immer mehr Einzelheiten auffielen, die ich hätte besser nicht merken sollen (seine Hände waren bis zu den Fingerknöcheln behaart, wo er doch bis gestern noch kaum Flaum auf der Oberlippe hatte!) brachte man uns das Essen. Ich seufzte vor Erleichterung, weil ich hoffte, meine ganze Aufmerksamkeit dem Essen und nicht dem Studieren von Jens´ Mutation widmen zu können, sich in dem Essen zu verlieren, danach aufschauen und feststellen, dass die Welt doch in Ordnung ist… Aber mein Seufzer ging in ein Stöhnen über, denn sie brachten Pizza.
Ich starrte meinen Teller voller Pizza, wenn man das, was dort lag, Pizza nennen konnte, an und wagte kaum zu atmen, um die Dämpfe dieses ekelerregenden Gebildes nicht in meinen Körper zu lassen. Blutige Fleischklötze starrten mich aus den Tiefen der vergammelten Masse, die Käse sein sollte, wie hervorquellende Augen an. Feine grünliche Kanäle von schwammigem Irgendetwas durchzogen jene Masse. Ich wagte es mit der Gabel die Pizza umzudrehen und stellte fest, dass der Teig nur noch aus einer zentimeterdicken Kruste schwärzlichen Schimmels bestand. Ich ging sogar noch weiter – vorsichtig zog ich die Käseschicht auf den Tellerrand um zu sehen, woraus das Innere bestand. Und da musste ich meine gesamte Willenskraft einsetzen um nicht schreiend davonzulaufen. Es pulsierte. Im Inneren befand sich ein roher, faltiger, mit Eiter unterlaufener, pulsierender Klumpen. Ich wusste, dass es lebte. Und ich spürte seine Macht. Ich spürte, wie das rote Pulsieren sich in meinen Kopf stahl, seine Befehle sendete, und die Befehle waren klar: iss mich… iss mich…
Ich zwang mich den pulsierenden Klumpen zuzudecken. Einen Moment länger und ich hätte ihn in den Mund gesteckt. Ich sah über den Tellerrand hinweg die anderen an: sie aßen, nein, sie fraßen wie die Schweine, schlimmer als die Schweine. Rote fleischige Klumpen flogen von ihren Mäulern in alle Richtungen, sie stritten dann, wer das weggeflogene Stück bekommen sollte. Ich sah Jens, der neben mir saß, an. Er fraß genauso eifrig wie die anderen. Beim Fressen fielen ihm in klebrigen Klumpen seine Haare vom Kopf ab. Sie entblößten eine kahle, hässliche Schädeldecke, auf der die Haut straff an die Knochen angespannt war und die Venen hervortraten. Und die Venen pulsierten, sie pulsierten in demselben Rot wie das fleischige Etwas in der Pizza.
Als er mit dem Mahl fertig war, wandte er sich zu mir und fragte grinsend:
„Warum isst du denn deine Pizza nicht?“ – „Mamm msst mu mem meime Mizza mich?“, kam zu mir rüber, weil seine Zähne, während er sprach, verfaulten und ausfielen.
Die Frage löste meine Erstarrtheit und ich rannte los, bloß weg von hier, zum Ausgang. Wütendes unverständliches Geschrei kam hinter mir auf, aber ich war schon neben der Tür, ich war so gut wie weg, ich war so gut wie frei, ich war an die Brust der Überreste von Herrn Wolf gestoßen. Seine Kopfhaut war aufgeplatzt und Eiter (oder war es Gehirnflüssigkeit?) sickerte durch die Spalten. Sein Hemd war zerrissen und so hatte ich freien Blick auf seine Brust. Es war keine Brust, es war ein blutiges Gemetzel, aus dem krumme Knochen, die keine Menschenknochen waren, ragten.
„Mamm msst mu mem meime Mizza mich?“, fragte er und packte mich am Arm.
„Mamm msst mu mem meime Mizza mich?“, erklang von allen Seiten.
Ich versuchte mich wegzureisen, aber seine Klauen hielten mich trotz der fortschreitenden Fäulnis felsenfest. Er zerrte mich zurück in die Kantine und presste mich auf einen Tisch. Ich war umgeben von ihnen, etwas tropfte auf meine Stirn, etwas bröckelte auf meine Arme herab, jemands stinkiger Arm versuchte mir ein Stück Pizza in den Mund zu schieben, aber ich presste fest die Zähne zusammen. Dann hielt mir jemand – vielleicht war es Jens – die Nase zu. Zehn Sekunden, zwanzig, dreißig, vierzig. Die Natur nahm Oberhand und ich schnappte nach Luft. Sofort wurde mir ein warmes und pulsierendes Etwas in den Mund geschoben – ich wusste, was es war.
„Nicht kauen, bloß nicht kauen!“, dachte ich, aber ich widerstand nicht dem Drang.
Beruhigende, erleichternde Wellen der Wärme, des Friedens und der Erleichterung strömten durch meinen Körper. Ich wehrte mich nicht mehr, nein – ich genoss jeden Bissen, und hätte man mir nichts mehr in den Mund geschoben, hätte ich mir selbst ein Stück Pizza gekrallt.
Es war der pure Genuss. Ich verstand nicht mehr, wie dumm ich sein konnte um dieses wundervolle Gericht abzulehnen. Als ich fertig mit dem Essen war, schaute ich die anderen fröhlich an:
„Es war unheimlich lecker! Äh… hat jemand was zu trinken für mich? Ich habe schrecklichen Durst!“