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Iznájar
Iznájar
(Überarbeitet)
Hay tanta soledad en ese oro.
La luna de las noches no es la luna
que vio el primer Adán. Los largos siglos
de la vigilia humana la han colmada
de antigua llanto. Mírala. Es tu espejo.
Jorge Luis Borges. La Luna.
„Ana! Wo bist du gewesen?“ Die Miene der Mutter ist streng, aber die gerunzelte Stirn verbirgt nicht die Sorge in ihren Augen.
Ana versteckt hastig die staubigen Füßchen hinter einem Schemel und setzt ein zerknirschtes Gesicht auf.
Das ist der Mutter Antwort genug.
„Du hast wieder versucht, dich auf die Wälle zu schleichen um die Mauren zu sehen! Oh Ana! Wenn der Vater das hört, dann ...“
„Aber Mama! Ich war doch mit den Remedios-Brüdern, und die sind doch schon fast erwachsen, und Victor Remedios hat gesagt, und sein Bruder sagt das auch, daß die Mauren sich die Bürgerschaft in Iznájar zurückerbitten wollen, stimmt das?“ Doch die Mutter ist blass geworden und antwortet nicht. Ein drohender Schatten liegt zwischen ihr und ihrer Tochter; es ist der des Vaters.
„So, hast du wieder die Mauren gesucht?“ Der Vater spricht leise. Noch. Die dicke Ader auf seiner Stirn beginnt bereits zu schwellen, und eine tiefe Röte steigt vom Hals her in sein Gesicht. „Wie oft habe ich dir das schon verboten?“ Die Mutter bedeutet Ana drängend, das Zimmer zu verlassen, aber Ana bleibt. Sie kann sich kaum rühren vor Angst und Faszination ob der Wut des Don Fernández de Cordova.
„Du denkst zuviel nach über diese Heiden! Du hast zu viele Geschichten über sie gehört, Märchen und unheiliges Geschwätz!“ Der Vater gerät jetzt in Rage. „Dieses dreckige Lumpenpack!“, brüllt er. „Nisten bettelnd vor den Toren der Stadt, wie Filzläuse im Haar einer ... Herr Gott noch mal! Die glauben doch wohl nicht, wir gäben ihnen die Stadt zurück, einfach so, bloß weil sie hier vor den Wällen sitzen mit ihren Weibern und ihren rotznasigen Gören!“
Ana schiebt sich endlich weg vom tobenden Vater, der rettenden Tür entgegen. Der packt mit hassverzerrtem Gesicht den Zinnbecher mit süßem Rotwein, den die Mutter ihm zur Beruhigung darreicht, und knallt ihn gegen die Wand, daß der Wein nach allen Seiten spritzt.
Jetzt rennt Ana durch die Tür und flüchtet in ihre Kammer. Noch immer dringt die laute Stimme ihres Vaters dröhnend durchs Haus. „Das Blut meiner Leute! Das Blut meiner besten Männer habe ich vergossen im Namen Seiner Katholischen Majestät Juan II und Gott des Vaters, und die Tränen dieser verfluchten Heiden sollen mich rühren? Tod den Mauren, Tod und Hölle!“
Ana zieht sich zitternd die bestickte Decke über den Kopf und versucht, nicht mehr hinzuhören.
Als es im Haus endlich wieder still ist, und dafür draußen die Soldaten lärmen und sich für den Kampf rüsten, hat sie sich beruhigt.
„Und ich werde sie doch sehen!“ murmelt sie trotzig. Ein Grinsen stiehlt sich auf ihr rundes Gesicht. Sie hat einen Plan.
Der Mond ist voll und hell und an und für sich ein guter Komplize, findet Ana. Sie bleibt einen Moment stehen um Atem zu schöpfen, hält sich die stechenden Seiten und grinst. Der Vater würde sie windelweich prügeln, wenn er wüßte, daß seine kleine Tochter sich außerhalb der Villa herumtreibt. Und wozu!
Aber der Vater ist zu Gast bei Don Manuel, und die Mutter hat er mitgenommen. Das hat er gemacht, um sich bei der Mutter zu entschuldigen für seinen Wutausbruch am Nachmittag. Luisa soll auf ihre kleine Schwester achten, aber die hat heute Nacht ein Rendezvous mit Carlos Remedios, von dem der Vater besser auch nichts wissen sollte. So ist es ganz leicht gewesen, sich aus dem Haus zu schleichen und auf schnellstem Weg zur alten Festung, der Alcazaba zu huschen.
Jetzt aber weiter! Zwei Treppenabsätze liegen noch vor ihr.
Dann hat sie es geschafft: Das höchste Turmzimmer der Alcazaba, mit bestrickendem Blick über Iznajar und den See, bis hinüber zu den Bergen, auf denen Schnee liegt. Darüber hängt der bauchige, silberne Mond, der glitzernde Sterne auf Wellen und Felsen setzt. Wind streicht durch die Olivenbäume, die vor vielen Jahrzehnten gepflanzt worden sind. Ihre Blätter glänzen schwarz.
Aber für all das hat Ana keine Augen. Ihre Aufmerksamkeit gilt der Aussicht aus dem gegenüberliegenden, kleineren Fenster. Tausende Feuer flackern in der Ebene vor den Stadttoren. Rauch steift in dünnen Spiralen auf und verschleiert die weiter hinten liegenden Lichter.
Das sind die Kochfeuer der Belagerer! schießt es Ana durch den Kopf. Ein genüßlicher Schauer rinnt dem kleinen Mädchen den Rücken hinunter: Mauren! Anas Augen glänzen übermütig. Sie hat schon so viel von den Mauren gehört! Dass sie Heiden sind, natürlich, und beim Beten auf und ab wippen und sich hinlegen und die Arme heben. Für Ana klingt das nach einem wunderbaren Tanz, viel besser als das steife Knien in den kalten, erschreckend düsteren Kirchen. Sie sind Zauberer! hat die Amme ihr gesagt, Hexen und Zauberer allesamt, aber auch große Heiler. Sie dichten die herrlichsten Verse! hat Victor Remedios gesagt, der die schönen Künste studiert. Sie tanzen mit Schleiern, wie Feen! hat Luisa geseufzt. Lumpenpack, rotznasige Gören! dringt die Stimme ihres Vaters in Anas Denken.
Ana runzelt die Stirn. Die Heiden tun ihr ein bißchen Leid. Iznájar ist eine sehr schöne Stadt, viel schöner als die, aus der sie selbst hergekommen ist, und da kann man es doch den Mauren und auch ihren rotznasigen Gören nicht verdenken, daß sie hier bleiben wollen. Besonders, weil sie ja auch nach dem Tod nicht in den Himmel kommen.
Aber morgen, hat der Vater gesagt, werden wir sie alle töten. Auch die Kinder.
Und so starrt Ana in die Nacht hinaus und nutzt, atemlos und auf Zehenspitzen stehend, ihre letzte Möglichkeit, diese Mauren, diese heidnischen Wundermenschen, selbst und mit eigenen Augen zu sehen.
Und wie sie so schaut und die Augen zusammenkneift um besser sehen zu können, hört sie ein Geräusch.
Sie ist nicht ganz sicher, ob es eben erst begonnen hat, oder ob es schon die ganze Zeit da war: Ein sanftes Atemholen, das von den Treppen herüberweht. Erschrocken fährt Ana herum, die Hand auf den kleinen Mund gepreßt.
Wenn das Luisa ist!
Zitternd huscht sie in eine Vertiefung in der Mauer, die früher wohl als Säulennische gedient hat. Der Atem stockt ihr, als ein Schemen durch die hohe Türöffnung gleitet.
Aber es ist nicht Luisa.
Eine hochgewachsene Gestalt geht durch den Raum zum anderen Fenster. Eine Frau. Sie scheint den kleinen Eindringling nicht bemerkt zu haben.
Ana betrachtet sie und findet sie wunderschön: Das nachtschwarze Haar und die weit geschnittenen, fließenden Gewänder wehen sanft im kühlen Wind. Ein zarter Schleier liegt lose auf ihrem Haupt und umrahmt ein schmales, bronzenes Gesicht. In der Hand hält sie einen silbernen Schlüssel mit seltsamen Gravierungen, die wie sich windende Schlangen und Punkte aussehen. Er sieht gerade so aus wie der, der unten über dem Eingang des Turmes eingemeißelt ist.
Luisa hat gesagt, der Schlüssel sei das Wahrzeichen Iznájars gewesen in den Zeiten der Mauren - das hat sie gesagt, als lägen diese Zeiten schon lange zurück - aber er sei auch heidnisch und hätte mit dem Eingang ins Paradies zu tun, und deshalb müsse man den Schlüssel am Eingang zerstören. Ana versteht das nicht: Sie alle benutzen doch auch Schlüssel, und sollen sie die denn jetzt einfach wegwerfen? Und warum hat eine Heidin den Schlüssel ins Paradies?
Die Frau am Fenster seufzt tief. Sie wendet sich Ana nicht zu, entweder bemerkt sie ihren Gast wirklich nicht, oder es ist ihr egal, daß sie beobachtet wird. Beides wäre dem Mädchen nur Recht, sie will nicht nach Hause geschickt werden. Die Frau fasziniert sie mit ihrer fremdartigen Schönheit, und mutig muß sie auch sein: Was machte sie sonst auf diesem Turm mitten in der Nacht?
Überhaupt wirkt die Frau sehr fremd mit ihren seltsamen Kleidern und dem silbernen Schlüssel. Und um ihren Hals hängt an einem dünnen Kettchen nicht etwa ein Kreuz, wie es einer edlen Dame angestanden hätte, sondern ein sanft geschwungener Halbmond.
Oh! Ob sie wohl eine Maurin ist? Ana tritt gebannt etwas näher an die reglose Gestalt. Ja! Das erklärt die Kleider und den Schleier, und auch den silbernen Mond.
Die Frau beginnt leise zu singen. Sie wiegt sich dabei rhythmisch vor und zurück und starrt auf den Mond hinaus. Eine Träne rinnt über ihre schöne Wange.
Das Spanisch der Maurin klingt kehlig und rau. Ana versteht den Sinn dieses Liedes nicht genau, aber die Traurigkeit der Frau rührt sie. Sie ist doch so schön!
Und doch zieht Ana sich schaudernd wieder etwas zurück, denn da liegt auch etwas Mächtiges in der Gestalt am Fenster. Scheint nicht der Mond durch die Gestalt hindurch zu fließen? Malen die Mondstrahlen nicht Figuren auf den Boden hinter ihr, als wäre sie gar nicht da? Jetzt hebt die Maurin die Arme, und eine Melodie steigt aus ihrer Kehle, geheimnisvoll und voller Schnörkel, ohne Worte. Wie ein Netz aus silbriger Seide legt der Gesang sich über Iznájar. Es erreicht jeden Winkel und jede Gasse und umfasst die Häuser liebkosend bis hin zu den Stadtmauern.
Staunend starrt Ana auf das zarte Gebilde. Am Marktplatz scheint es sich zu verdichten, zu pulsieren, bis es eine Gestalt hervorbringt. Der leuchtende Schemen eines dicken, geschäftig aussehenden Mannes in Pluderhosen und einem langen Hemd. Er sieht einen Moment lang traurig hoch zu der Maurin, nickt, und erhebt sich über das Netz aus pulsierendem Licht, bis er neben dem Fenster schwebt. Dann erscheint ein grimmiger Krieger mit einem glänzenden Krummsäbel, der scheinbar aus dem Kasernenviertel heraufgekommen ist. Ein Gelehrter mit langem Bart und Turban folgt ihm aus dem Viertel um die Bäder und Bibliotheken herum, ein junges Mädchen in wirbelnden Schleiern aus den engen Gassen am Rio Genil. Und weiter geht es, bis aus jedem Viertel der Stadt jemand da ist und aufmerksam auf das wortlose Lied lauscht. Ana beobachtet die Leute und fühlt sich gut aufgehoben und zu Hause. Keiner der Geister ist ihr fremd.
Da hört die Maurin auf zu singen, und das Lichtnetz verschwindet.
"Meine Kinder", sagt sie mit Trauer in der Stimme. "Es ist entschieden, unsere Zeit ist um. Diese Stadt ist nicht mehr, was sie war, die Menschen, denen wir verbunden sind, sind nicht mehr hier. Sie warten vor den Toren, aber sie können nicht zurückkehren. Sie warten auf uns, denn wir sind ihr Werk, und wir sind ihre Heimat. Wir müssen mit ihnen gehen.“ „Wir haben es schon lange kommen sehen“, antwortet der Bärtige mit dem Turban. „Unser Tanz und unsere Dichtung haben ein Ende gefunden. Ich verstehe ihre Lieder nicht!“, beklagt sich die Tänzerin. Die schöne Maurin nickt. “Unsere Zeit ist um. Kommt ... Der Wind wird uns davon tragen, an einen anderen Ort." Sie hebt ihren Schlüssel hoch über ihre Stirn, und als das Mondlicht auf den Schlüssel fällt, gleißen seine Umrisse einen Moment lang strahlend auf.
Ein verspielter Hauch erfasst sie alle, die junge Tänzerin, den Markthändler, den Fischer und den Muezzin, den Krieger und den Gelehrten, hebt sie sanft auf und trägt sie in Richtung der Berge. Sie werden verweht wie der Rauch einer verloschenen Kerze und lösen sich auf in glitzernden Nebel, bis nur noch die Maurin ganz alleine da ist. Still dreht sie sich um und sieht direkt in Anas Augen.
"Sei nicht traurig, kleines Mädchen", sagt sie in ihrem kehligen Spanisch, und Ana bemerkt, dass Tränen hinter ihren Augen brennen. "Dein Volk, dein Vater sogar, wird der Stadt eine neue Seele geben. So geht es mit den Städten der Menschen. Sie wandeln sich mit ihren Bewohnern ..." Sie lächelt noch einmal wehmütig ins Mondlicht, und dann verschwindet auch sie, auf dem Wind gleitend, in Richtung der Berge. Ana läuft zum Fenster, um die geisterhaften Gestalten zurückrufen zu können, sie zum Bleiben zu bewegen oder ihnen wenigstens nachschauen zu können. Aber unter dem Turm der Alcazaba liegen nur der See und die Ebene, schweigend und leer.
Traurig starrt Ana ins Mondlicht. So schön waren all diese Geister gewesen, und halb vertraut, als ob sie manche schon gesehen hätte auf dem Marktplatz oder einmal, als sie mit der Mutter bei den Bädern gewesen ist. Und waren sie nicht genau wie in den Erzählungen? Jetzt wirkt die Stadt zu Füßen der Alcazaba leblos und stumm, mehr eine Ansammlung von Häusern als eine Stadt. Eine Windböe fasst nach Anas Haaren und wirbelt sie zum anderen Fenster. Als sie sich dem Fenster zuwendet, sieht sie, dass Bewegung in die Feuer der Belagerer gekommen ist. Sie verlöschen nach und nach, und kleine Lichtpünktchen wie von Fackeln setzen sich in Bewegung, den Bergen entgegen und dem heidnischen Granada, das weit, weit dahinter liegt.
Ana schleicht mit hängendem Kopf zu den Treppen. Sie hat genug gesehen für diese Nacht, und ihre Tränen nehmen ihr die Sicht. Da fällt ihr Blick auf etwas Glänzendes, und wie sie genauer hinsieht, erkennt sie den silbernen Schlüssel, den die Maurin bei sich getragen hat. Überrascht hebt sie ihn auf. Ein fröhliches Wispern liegt in der Luft.
" ... doch es bleibt immer auch etwas zurück, wenn man nur genau genug hinsieht!"
Noch vor Sonnenaufgang sind die Belagerer verschwunden. Don Fernández ist erleichtert: Es wird kein weiteres Blutvergießen geben. Er ist ein Mann des Krieges, nicht des Schlachtens. Mit seinen Mannen reitet er durch die Gassen Iznájars, und der Nachtfrost knirscht unter den Hufen seines Pferdes.
Seine jüngste Tochter hat verstimmt gewirkt am Frühstückstisch und ihn mit bösen Blicken gemessen. Kein Wunder, sie hatte die Mauren noch sehen wollen, erinnert er sich. Sie hat zu viel Fantasie, gut, dass sie weg sind, die Heiden. Was für Flausen sie der kleinen Ana wohl in den Kopf gesetzt hätten! Das Mädchen ist so schon viel zu verträumt. Hat sie nicht heute Morgen erst etwas davon gesagt, die Stadt hätte ihre Geister verloren? Damit ist jetzt Schluss.
Überhaupt wirkt die Stadt anders an diesem Morgen. Mit den Belagerern ist auch die maurische Atmosphäre verschwunden. Die Alten werden es beklagen, doch für Don Fernández ist damit keine Wehmut verbunden. Im Gegenteil: Die Stadt liegt jetzt neu und jungfräulich vor ihm wie ein weißes, blankes Blatt Papier: Bereit, einen neuen Stempel aufgedrückt zu bekommen. Seinen eigenen, versteht sich.
Stolz und vergnügt blickt Don Fernández über die Dächer Iznájars, und sein Blick fällt auf die alte Alcazaba. Für einen Moment glaubt er, im Fenster des Turmes einen jungen Mann zu sehen, ihm selbst nicht unähnlich, umrahmt von lichtem Glanz.
Aber das ist nur ein Spiel der Sonnenstrahlen, die über die Berge fallen und das Frühjahr ankündigen.