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Jürgen? Welcher Jürgen?
Nicht das mich diese Frage noch verwunderte, selbst jetzt mit 37 Jahren, fragte sogar meine Mutter so manches Mal am Telefon: Jürgen, welcher Jürgen.
Nun meldete ich mich auch nicht besonders oft bei ihr, einfach um sie nicht zu belästigen, sie schien meine Anrufe auch immer eher hinzunehmen als zu ersehnen. Früher hatte sie stets behauptet ich wäre ein Wunschkind, aber in den letzten Jahren schien ihr sogar das entfallen zu sein. Sie hatte mich alleine aufgezogen, offiziell ist mein Vater mit einer anderen Frau auf und davon. Mein Eindruck, wenngleich falsch, war eher der, das meine Mutter ihn irgendwie verlegt hätte.
Sie hat ein sehr zerstreutes Wesen, sie vergaß mich beim Kindergarten anzumelden, so war es für mich gut, dass es eine Schulpflicht gibt. Ich glaube nicht, dass ich sonst jemals eine Schule von innen gesehen hätte. Freunde hatte ich keine, da ich nicht im Kindergarten war und in der Nachbarschaft offenbar keine anderen Kinder lebten, ich wusste auch gar nicht, was Schule war. Hätten wir damals schon einen Fernseher gehabt, wäre sicher alles viel einfacher gewesen und ich hätte gewusst, dass es eine Welt außerhalb unserer vier Wände gab.
Mutter war nie besonders mitteilsam, es schien fast, als wäre ich ihr erst durch den Einschulungsbescheid wieder ins Bewusstsein gerückt. Als es dann so weit war, war ich so eingeschüchtert, dass ich wie versteinert vor dem großen schmiedeeisernen Schultor stand. Die vielen aufgeregten Kinder, und alle hatten so eine spitze glänzende Tüte voll Süßigkeiten. Die Eltern strahlten genauso wie die Kinder, alle hatten sich fein angezogen. Großväter machten Fotos. Meine Mutter nahm mich bei der Hand und stellte mich bei einer Lehrerin, der sie sagte wer ich bin, ab und ging nach Hause.
Mittags brachte die Lehrerin mich nach Hause, da ich offenbar den ganzen Tag meine Lähmung nicht abgeschüttelt hatte und auch nicht sagen konnte wo ich wohnte. Nun hätte ich den Weg nach Hause aber auch nicht allein gefunden, ich war ja bisher noch nirgendwo hin gekommen, außer ein paar mal zum Einkaufen und zwei oder dreimal zu meinen Großeltern. Auch hatte meine Mutter vergessen mir unsere Adresse zu sagen. Die Lehrerin wollte mit meiner Mutter sprechen, ich sollte in die Küche gehen. Ich hörte noch wie meine Mutter fragte, was ich denn angestellt hätte. Danach war sie einige Tage wie umgewandelt, sie unterhielt sich mit mir und fragte was ich gerne essen würde. Es schien als hätte sie jemand aufgeweckt. Aber nach kurzer Zeit merkte ich wie ich aus ihrem Gesichtskreis langsam wieder verschwand.
Ich will hier kein Mitleid schinden, ich bekam immer etwas zu essen, sie kochte ohnehin immer zu viel. Auch hatte ich immer ordentliche Kleidung, manchmal etwas zu klein, aber sauber. Ich war nicht unglücklich. Wo unser Geld herkam wusste ich nicht, Mutter ging nicht arbeiten. Einmal in der Woche ging sie einkaufen, nahm mich aber selten mit. Sie brachte dann auch manchmal Kleidung für mich mit, heute kenne ich natürlich den Unterschied zwischen neuer und getragener Kleidung und denke, sie holte meine Kleidung beim Roten Kreuz ab. Aber als Kind fiel mir so etwas nicht auf und störte mich auch nicht. Scheinbar waren wir sehr arm, aber die Kinder in der Schule sprachen sowieso nicht mit mir, so dauerte es noch eine ganze Weile bis mir unsere Armut bewusst wurde. Dazu brauchte es erst einen Fernseher.
Zu Weihnachten besuchte die ganze Schule ein Weihnachtsmärchen im Stadttheater. Ich sollte eigentlich nicht mitgehen, meine Mutter hatte vergessen mir das Eintrittsgeld mitzugeben, das die Lehrer eine Woche vorher eingesammelt hatten und der Direktor hatte mir gesagt ich sollte an diesem Tag dann eben zu Hause bleiben. Später kam der Direktor noch einmal zu mir und sagt mir dann, jemand von den Lehrern hätte meinen Eintritt bezahlt und ich könnte mit. Ich vergaß zu fragen welcher Lehrer und habe mich leider nie dafür bedankt.
In der Schule saß ich allein an einem Tisch ganz hinten, aber in dem Theater saßen wir ganz dicht gedrängt beieinander. Die anderen Kinder versuchten alle einen anderen Platz zu bekommen, aber zwei mussten nun einmal neben mir sitzen. Danach war ich dann froh, dass in der Schule keiner neben mir saß. Ich nahm es eigentlich kaum war, wenn die Kinder mich in der Schule hänselten, ich glaube ich hielt das für normal und dachte es würde allen so gehen. Hier in dem engen Theater merkte ich, wie die anderen miteinander sprachen und lachten. Nur mich trafen Papierkugeln und die Laschen der Coladosen wurden nach mir geschnippt. In der Pause setzte sich eine Lehrerin neben mich und das Ganze hörte auf. Das Theaterstück war sehr schön, obwohl ich heute nicht mehr weiß welches Stück wir gesehen haben, aber schließlich hatte ich noch gar nichts gesehen in meinem bisherigen Leben – nicht mal eine Seifenoper - ich musste am Ende weinen. Die anderen Kinder weinten natürlich nicht und hänselten mich im Bus dafür.
Da meine Mutter nicht viel sprach, lernte ich eigentlich erst in der Schule richtig sprechen, ich bin aber auch sehr schüchtern und wie meine Mutter rede ich nicht viel, so fiel meine Sprachstörung zunächst gar nicht auf. Die meisten Lehrer dachten einfach ich wäre dumm und/oder faul und kümmerten sich nicht weiter, was mir auch ganz recht war. Frau Küster, die Lehrerin die mich am ersten Tag nach Hause gebracht hatte, war da nicht so leicht abzuschrecken. Immer wieder rief sie mich auf und wartete geduldig bis ich meine Antwort gestottert und gestammelt hatte, während die anderen tuschelten und lachten. Eines Tages schien ihr aber die Geduld auszugehen und sie brachte mich nach der Schule wieder nach Hause um mit meiner Mutter zu sprechen. Einige Tage später brachte meine Mutter mich zu einem Sprachtrainer, Frau Küster hatte ihr die Adresse gegeben und Alles bereits mit der Krankenkasse und dem Jugendamt geklärt, wie ich später erfuhr.
Der Logopäde hatte seine liebe Mühe mit mir, denn ich sprach einfach nicht gerne. Die ganze Grundschule hindurch musste er mich einmal pro Woche zum Sprechen animieren. Meist saß ich nur verschüchtert in der Ecke und er redete auf mich ein. Bei einem der letzten Gespräche redete er auch mit meiner Mutter, bald darauf bekamen wir einen Fernseher und regelmäßig Besuch von einer Frau vom Jugendamt. Ich glaube meine Mutter war darüber nicht besonders glücklich, aber der Fernseher gefiel ihr. Leider zog sie sich dadurch noch mehr in sich zurück und vergaß manchmal sogar das Essen zu richten. Da war ich aber schon etwa zehn Jahre alt und machte dann für uns beide das Essen. Dafür bin ich meiner Mutter sehr dankbar, denn das war später mein einziger Pluspunkt bei den Frauen: ich konnte kochen.
Im Fernsehen durfte ich Flipper und Enterprise sehen. Meine Mutter fand für die Sesamstrasse wäre ich schon zu groß, aber mir gefiel sie sehr. So hing ich also ständig vor dem Fernseher, leider meine Mutter auch, daher kenne ich noch heute alle Doris Day Filme und die anderen alten Schinken auswendig. Richtig froh war ich als meine Mutter anfing drei Tage die Woche putzen zu gehen, dann hatte ich den Fernseher für mich allein. In den Serien hatten fast alle Kinder eine Mutter und einen Vater. Zunächst fand ich das komisch, unsere Wohnung wäre doch viel zu klein für drei. Aber die Leute im Fernsehen hatten auch richtige Häuser und waren, aus meiner Sicht, sehr reich. Bei Flipper musste ich immer weinen, aber Raumschiff Enterprise gefällt mir noch heute sehr.
Nach der Grundschule wurde es dann deutlich besser mit den Hänseleien. Gerade die Kinder die mich am häufigsten geärgert hatten, gingen entweder ab aufs Gymnasium, oder kamen auf die Sonderschule. Später habe ich oft darüber nachgedacht, das gerade die intelligentesten und die dümmsten Kinder sich verbündet hatten mich zu ärgern. Heute weiß ich dank meiner Fernsehbildung dass Intelligenz nichts mit sozialem Handeln zu tun hat, finde aber immer noch, jemand kann nicht intelligent sein, der einen Schwächeren quält.
Ich fand sogar einen Freund, ironischerweise war Werner von Gymnasium geflogen und kam daher zurück auf die Hauptschule. Er hatte ein gutes Gespür, und erkannte in mir eine verwandte Seele. Die Anderen mochten ihn nicht und hielten ihn für einen Streber, ich wurde auch dafür gehalten, bei keinem von uns stimmte das. Zurück auf der Hauptschule fiel Werner das Wissen einfach so zu, mir fiel das Lernen ebenfalls immer leicht. Was ich einmal gelesen habe behalte ich auch. Nur komplexe Dinge wie Mathematik und Physik wollten sich mir partout nicht erschließen. Aber einfache Sachen behielt ich sofort. Werner hatte allerdings auch einen enormen Vorsprung, schließlich hatte er die fünfte und die sechste Klasse im Gymnasium jeweils zweimal absolviert. Er war auch drei Jahre älter als wir Anderen und rauchte schon. Als ich gerade mal Mofa fahren durfte, machte Werner schon den Führerschein.
Ich war kurz vor der Schallgrenze geboren worden, an der man einen Mofa-Führerschein machen musste. Zu meiner grenzenlosen Überraschung hatte meine Mutter offenbar über ein Jahr lang ihr gesamtes Putzgeld gespart, um mir zu meinem 15. Geburtstag eine gebrauchte Mofa zu kaufen. Ich hatte bereits einige Monate vorher angefangen vor der Schule Zeitung auszutragen und konnte mir dann auch die Versicherung und das Benzin leisten. Ich glaube nicht, dass ich jemals wieder so stolz war, als bei meinen ersten Fahrten mit meiner schäbigen, alten, blauen Mofa.
Merkwürdigerweise entwickelte meine Mutter plötzlich einen Beschützerinstinkt und ließ mich nicht mit der Mofa fahren wenn es unter zehn Grad waren. Wie sie gerade auf diese Schallgrenze kam, weiß ich nicht, aber natürlich stand ich im Winter morgens mit einem Fön am Küchenfenster. In ihren abwesenden Phasen fiel meine Mutter auch tatsächlich darauf herein, zumindest tat sie so. Ich glaube sie hatte einfach keine Lust mit mir darüber zu streiten, oder überhaupt zu sprechen. Aber manchmal musste ich dann tatsächlich mit dem Bus fahren. Ich hatte ja nun eine Lehrstelle in einer KFZ-Werkstatt, und meine Mutter hatte Angst ich könnte mich erkälten und die Lehrstelle verlieren.
Sie war überhaupt während meiner Lehrzeit überbesorgt um mich. Wie meist war auch dies eine zweischneidige Sache, ich war daran gewöhnt nicht wahrgenommen zu werden und nun störte diese Fürsorge meine Freiheit, dennoch genoss ich gleichzeitig diese plötzliche mütterliche Besorgnis. Zunächst dachte ich meine Mutter wäre vielleicht krank und würde sterben, aber mit der Zeit, als nichts weiter passierte, vergaß ich diese Besorgnis wieder.
In unserer Schule wurde kein Bewerbungstraining gemacht, die meisten Mitschüler gingen nach dem Abschluss auf eine andere Schule, da lohnte der Aufwand nicht. Meine Lehre war eine Quälerei, der Meister war ein fieser Kerl, aber trotzdem bin ich noch heute stolz, ganz allein eine Stelle gefunden zu haben. Ich bin mit meiner Mofa von einer Firma zur nächsten gefahren und hab gefragt ob sie eine Lehrstelle für mich haben. Heute weiß ich warum diese Firma keine Lehrlinge bekommen konnte und so den erstbesten, der hereinschneite, nahm. Bevor die Anderen morgens zur Arbeit kamen musste ich da sein um die Heizung im Büro und im Aufenthaltsraum anzustellen und den Kaffee zu kochen. Dass ich gar keinen Kaffee trank störte keinen. Am Abend musste ich dann immer die Werkstatt fegen und alles putzen, manchmal sogar die Toiletten. Mein Meister sagte dann immer: denkst du so schlecht wie du hier arbeitest können wir uns auch noch eine Putzfrau leisten? Nach dem Tag meiner Abschlussprüfung, die ich trotz gegenteiliger Aussagen meines Meisters bestand, habe ich in die Firma keinen Fuß mehr gesetzt. Nicht das man mich dort vermisst hätte, meine gewisse Unsichtbarkeit setzte sich auch hier fort. Natürlich nur, wenn nicht grad irgendeine unangenehme Arbeit zu vergeben war, dann waren sonderbarerweise meine Kollegen unsichtbar.
Als Kind habe ich mir ausgemalt, dass mein Vater uns wieder findet, und dann herauskommt, dass meine Mutter vergessen hat ihm von unserem Umzug zu erzählen. Aber natürlich kam er nicht, als ich dann aus Anlass meiner Volljährigkeit allen Mut zusammen nahm und versuchte zu ihm Kontakt aufzunehmen, frage er nur: Jürgen, welcher Jürgen.
Tja, wie es schien, nachdem ihm eingefallen war wer ich war, wollte er keinen Kontakt pflegen, „ich wüsste nicht wozu“, außerdem würden Besuche von mir nur seine neue Familie belasten. Er meldete auch Zweifel an, ob ich überhaupt sein Sohn sei und fragte, ob ich wegen Geld anrief. Er hätte schließlich jetzt andere Verpflichtungen und sei sehr froh, dass er für mich nicht mehr zahlen müsste. Ich sollte mir bloß nicht einfallen lassen noch zu studieren. Ich sagte nein, so gut wäre ich in der Schule ohnehin nicht gewesen. Er war sehr erleichtert das zu hören, anscheinend hatte ich sogar drei Halbgeschwister, die ich nicht kannte, und wohl auch nicht kennen lernen würde. Ich konnte mich an ihn auch nicht besonders gut erinnern, er war schon fort als ich vier wurde. Es gab nur ein vergilbtes Hochzeitsfoto von meinen Eltern, immerhin inzwischen 18 Jahre alt. Seine Stimme klang komisch, als ob er eine Erkältung hätte, ich hatte allerdings keine Vergleichsmöglichkeiten, wie sie sonst klang. Als ich meiner Mutter sagte, dass ich ihn angerufen hätte, nickte sie nur und schaltete den Fernseher an. Was sie dachte, oder ob sie überhaupt zugehört hatte weiß ich nicht.
Egal aber bei wem ich anrief, Jürgen, welcher Jürgen? Scheinbar habe ich eine gewisse Unsichtbarkeit, die sich besonders auf weibliche Gedächtnisse auswirkt. Erstaunlich viele Frauen hatten sich überreden lassen mir ihre Telefonnummer zu geben, wenn ich dann jedoch anrief ... Na Sie wissen schon.
Ich kam daher auf den Gedanken, ich müsste die Frauen unbedingt am ersten Abend ins Bett bekommen, einfach damit ich zumindest irgendeinen Eindruck hinterlassen konnte. Das Ergebnis blieb jedoch bescheiden, wenn man mal davon absieht, dass sich genau zwei Frauen noch an mich erinnert haben. Natürlich genau die, bei denen ich einen sehr nachhaltigen Eindruck hinterlassen habe. Mittlerweile bin ich daher stolzer Vater zweier sehr netter Jungen, ihre Mütter lassen meine Gesellschaft allerdings nur in geringen Dosen zu. Vielleicht haben sie mich auch einfach zwischenzeitlich vergessen.
Da mein Gehalt als Automechaniker nicht gerade üppig ist, habe ich diese Art der Beziehungsanbahnung wieder eingestellt. Ich kann ohnehin durch die Alimentezahlungen nicht mehr so häufig ausgehen. Und diese Diskobekanntschaften sind in meinem Alter auch nicht mehr ganz das richtige. Schon mit Anfang 20 habe ich mich in den Discos fehl am Platz gefühlt, aber nun mit Ende 30 komme ich mir dort sehr seltsam vor. Alle lachen und trinken, wenn ich etwas sage geht es im Lärm unter und die Frauen sehen mich ohnehin nicht an.
Dann erzählte mir mein Arbeitskollege Thomas von einer Art Selbsthilfegruppe, die sich hier in der Nähe auf einem Bauernhof trafen. Er meinte ich sollte doch mal versuchen „über die Schiene eine Tussi aufzureißen“. Ich muss wohl nicht extra erwähnen, dass er damit nie Probleme hatte. Thomas brachte es fertig Frauen mit „Tussi“ anzureden, und sie schmachteten ihn trotzdem an. Vielleicht waren sie aber auch nur masochistisch veranlagt, und ließen sich gern belügen und betrügen, verliehen gern Geld das sie nie wieder sahen, oder ließen sich gern Kinder und/oder Krankheiten andrehen, für die natürlich Tommy nie die Verantwortung übernahm.
In mir löste er immer einen Streit zwischen meiner netten Seite und meiner schwarzen Seele aus. Insgeheim bewunderte ich ihn natürlich sehr, gleichwohl mir sein Verhalten total gegen den Strich ging, und ich ihm wahrhaftig so manches Mal am liebsten eine reingehauen hätte. Nicht das ich das überlebt hätte, aber man kann ja mal träumen.
Träume waren überhaupt das einzige das wirklich funktionierte in meinem Leben. Eine Zeitlang wünschte ich mir die Schlafkrankheit, einfach damit ich immer schön weiter vor mich hin träumen konnte. Abends im Bett stellte ich mir immer vor im Lotto zu gewinnen und dann ein tolles Haus zu haben. Natürlich würde ich dann automatisch auch eine liebe Frau finden.
Aber ich schweife wieder mal ab. Dieses eine Mal hörte ich also auf Tommy und machte einen Termin aus bei der Gesprächstherapeutin auf dem Bauernhof. Leider konnte ich den Hof nicht gleich finden und kam daher natürlich zu spät. Nun hasse ich es als letzter in eine Versammlung reinzuplatzen und noch dazu wenn ich Keinen kenne. Am liebsten hätte ich den Rückzug angetreten, aber ich hatte am Telefon meine Anschrift hinterlassen, für die Rechnung.
Also trat ich mit hochrotem Kopf ein, es richteten sich elf Augenpaare auf mich, und ich stammelte „Sorry, ich bin Jürgen.“ Hier erschallte es nun zum ersten Mal in meinem Leben aus elf Kehlen, wie aus einer: Hallo Jürgen!
Begreiflicherweise war ich überwältigt, ich wankte zu dem einzigen freien Stuhl und hoffte auf den Tod, denn besser konnte es nun nicht mehr werden. Leider tritt der Tod natürlich nicht ein nur weil ich es wollte, wahrscheinlich würde der Sensenmann ohnehin fragen: Jürgen – welcher Jürgen?
Ich sah mich in der Runde um, es waren immer noch alle Augenpaare auf mich gerichtet, leutselig, mitleidsvoll, auf Gruppendynamik trainiert. Mir wurde klar, dass hier auch ein Schwein mit der gleichen Anteilnahme begrüßt werden würde. Das Schwein hätte allerdings nicht solche Angst gehabt wie ich, denn hier würde es mit Sicherheit verschont werden. Diese ökologisch selbst gestrickten Damen und Herren machten es mir schwer, mich zugehörig zu fühlen. Zwar ist meine Heimatstadt nicht groß, aber mit diesem ökologisch, biologischen Völkchen hatte ich so gar keine Erfahrung, hier strickten sogar die Männer, was mir etwas anrüchig erschien.
Nach einiger Zeit konnte ich dann auch die Kursleiterin ausmachen, die durch die bunte selbst gestrickte Uniformierung, in dieser Hinsicht nicht von den anderen abstach. Aber sie hatte ein deutlich dominanteres Wesen und wünschte etwas über meine Probleme zu erfahren. Nachdem ich einige Sätze über geschiedene Eltern und gescheiterte Beziehungen losgelassen hatte verschonte sie mich, wofür ich beinahe wieder an einen Gott geglaubt hätte.
Vor allem war ich glücklich, dass sie bei den gescheiterten Beziehungen nicht eingehakt hatte, denn über die Dauer von Beziehungen hatten wir sicher abweichende Vorstellungen – eine Nacht passte garantiert nicht in den Rahmen – Sie wandte sich also wieder den anderen Teilnehmern zu, deren Geschichten hier ohnehin jeder zu kennen schien, diese aufzuholen würde Jahre dauern.
Wieder zu Hause angekommen zahlte ich anstandslos die Rechnung über vier Wochen Therapie. Ich ging natürlich nie wieder hin.
Zu Tommy sagte ich ganz cool, die Tussis dort wären ja wohl das allerletzte gewesen, ich glaube ich konnte ihn nicht täuschen. Er war aber immerhin so rücksichtsvoll so zu tun als ob er mir glaubte.
Auch die diversen Aktionen zur Eheanbahnung gingen bei mir in die Hose. Mittlerweile machte mir das aber eigentlich schon gar nichts mehr aus, bildete ich mir ein. Falls Sie gerade über das Wort Eheanbahnung gestolpert sind, doch sie haben richtig gelesen. Ich würde gerne heiraten und vielleicht noch ein paar eheliche Kinder haben. Aber bei meinem Einkommen fällt das wohl in die Schublade der Träume. Ich habe versucht eine der Mütter meiner Kinder zu überzeugen, mich zu heiraten. Aber sie bekamen heraus dass ich bei Beiden an einer solchen Fusion arbeitete und verneinten. Sie waren nicht einmal sauer.
Am wohlsten fühle ich mich eigentlich immer in meiner kleinen Wohnung, zwar gerade mal eineinhalb Zimmer, die Küche besteht nur aus einer Nische im Wohnzimmer und hat kein Fenster und keine Lüftung nach draußen, so dass, wenn ich koche, der ganze Dampf durch das Wohnzimmer zieht. Noch dazu ist das Wohnzimmer ohnehin nicht besonders hell. Merkwürdigerweise ist das Schlafzimmer sehr sonnig, wenngleich es auch den Namen Zimmer nicht verdient. Ich kann hier gerade mal ein normales Bett stellen, sonst würde die Tür nicht mehr aufgehen. Der Kleiderschrank steht im Wohnzimmer. Eine Zeitlang hatte ich überlegt, die Tür einfach auszuhängen und einen Vorhang anzubringen, aber dann wäre der ganze Essengeruch auch noch dort hin gezogen. So habe ich den Gedanken wieder aufgegeben. Ich brauchte ja ohnehin kein breiteres Bett für mich allein.
Die Wohnung schien von Anfang an für mich bestimmt zu sein. Sie wollte auch keiner. Die Lage ist sehr schlecht, im Erdgeschoss von einem dreizehnstöckigen Hochhaus und auch noch direkt neben der Treppe und dem Aufzug. Ich finde diese Geräusche aber eher beruhigend, weil sie beweisen das noch andere Menschen da sind. Zwar grüßte mich keiner meiner Nachbarn, sie schienen mich nicht zu erkennen, aber ich fühlte mich hier her gehörig.
Hallo, ich bin es Carmen!
Also ich habe den Jürgen kennen gelernt, als es ihm sehr schlecht ging. Er sagte, er wollte sich umbringen, aber so dilettantisch wie er das anstellte, konnte nichts daraus werden. Ich glaube auch nicht, dass er es wirklich wollte. Er war es wohl einfach nur leid übersehen zu werden. Nun, ich habe ihn nicht übersehen, diese hilflose Häuflein Elend, das da auf der Brücke stand. Was da wohl passieren sollte, das wäre wie ein Sprung vom Dreimeterbrett. Eindeutig nicht tödlich, es sei denn man könnte nicht schwimmen.
Allerdings hatte er alles für den Fall der Fälle geregelt, seine Wohnung war ihm ohnehin gekündigt worden und zur gleichen Zeit hatte auch die Firma in der er arbeitete, überraschend pleite gemacht. Okay, einen sensiblen Menschen kann so etwas schon zur Verzweiflung treiben, aber gleich Selbstmord machen? Im Notfall hätte er schließlich zu seiner Mutter zurückziehen können, keine Ideallösung sicher, aber bis er eine neue Wohnung fand, eine Möglichkeit. Und was die Arbeit angeht, gibt es schließlich heute ein Arbeitsamt, keiner muss verhungern. Allerdings schien er auf diese Idee gar nicht gekommen zu sein.
Jürgen ist nun einmal nicht der Typ, beim Arbeitsamt hätte man ihm sicher viele Fragen gestellt und er spricht nicht gern. Noch heute nach drei Jahren, muss ich ihm alles aus der Nase ziehen. Allerdings passt das ganz gut, ich rede eh für drei.
Also ich sah ihn auf der Brücke stehen und dachte schon von weitem, was das wohl für einer ist. Sieht ja beinahe aus als wollte der sich da runterstürzen. War allerdings auch ein Tag an dem man so etwas in Erwägung ziehen konnte. Es nieselte schon den ganzen Tag und um gerade mal drei Uhr schien es schon wieder dunkel zu werden. Meine blöde alte Karre war liegen geblieben und ich musste zu Fuß nach Hause. Da steht also dieser Typ da am Brückengeländer und tatsächlich, als wäre der Tag nicht schrottig genug, versucht er aufs Geländer zu klettern. Das war allerdings etwas vermoost und dann durch den Regen total glibschig. Der Geschickteste ist er heute noch nicht, außer wenn es um Autos geht, also kriegte er es nicht hin, auf diese ungefähr 1,20 Meter hohe Brüstung zu krabbeln.
Ich war automatisch schneller gelaufen als ich das sah, sonst waren bei dem Schiettwetter keine Leute zu sehen, also lief ich hin zu dem Knilch. Ich fragte ihn was das werden sollte, für Geduld und Mitleid war mir die Petersilie auch zu verhagelt. Er sah mich nur mit diesem Dackelblick aus seinen blauen Augen an und zuckte mit den Schultern. Dann sackte er zusammen und rutschte mit dem Rücken an der Brüstung auf den Boden. Ich ging in die Hocke, eine meiner Lieblingshaltungen – denn dabei schlafen mir sofort die Beine ein und mir wird schwindelig (was meine Laune nicht deutlich steigert), und fragte ihn noch mal was zum Teufel der Scheiß soll. Er sah mich lange an, dann stammelte er: ich, ich weiß nicht – ich mag nicht mehr.
Dieser treuherzige Blick erinnerte mich an meinen Hund, der zu Hause auf mich wartete, also nahm ich diesen herrenlosen Hund von der Brücke auch einfach mit. Einfach ist gut, erstmal dieses 1,80 Meter Häufchen Elend in die Senkrechte ziehen und dann mitschleifen. Aber als wir einmal in Gang waren und ich ihm gesagt hatte, er könnte machen was er wolle, aber erstmal müsste er in Ruhe mit mir Kaffee trinken, dackelte er brav mit mir mit. Machte allerdings immer noch den Eindruck eines Hundes an der Leine. Bei mir zu Hause stürzte sich mein Hund gleich mit vielen Küssen auf ihn und das schien ihn etwas aufzutauen. Er saß mit dem Hund auf dem Boden während ich Kaffee machte und schmuste und knuddelte ihn. Der gute Nebeneffekt war das er am gleichen Abend noch meinen Wagen repariert hat und zwar so gut das die alte Karre heute noch ihren Dienst brav tut.
Erst Monate später habe ich gemerkt und er hat es dann auch gleich zugegeben, dass er überhaupt keinen Kaffee mag. An dem Tag jedenfalls hat er mehr als eine ganze Kanne getrunken, und wie ich nun weiß mehr geredet als in den 37 Jahren davor. Es ist mir selbst nicht ganz klar wieso er nie wieder gegangen ist. Ich bin denn doch keine Frau die einfach wildfremde Männer auf der Strasse aufsammelt und bei sich einziehen lässt, aber es war irgendwie ganz natürlich, dass er von dem Tag an bei mir gewohnt hat, zunächst hat er natürlich auf dem Sofa kampiert. Die ersten Wochen hat er meine Wohnung bis in den letzten Winkel wieder und wieder geputzt, bis ich kurz vorm Wahnsinn war – dann hab ich mir die Stellenangebote beim Arbeitsamt angesehen und ein paar Bewerbungen für ihn aufgesetzt, er brauchte nur zu unterschreiben. Trotz der hohen Arbeitslosigkeit hat er dann auch schnell eine neue Stellung bekommen und ist dort immer noch, obwohl ich mir häufig Sorgen mache, dass er wieder ausgenutzt wird. Scheinbar ist er der Einzige der immer Überstunden machen muss und ob er die tatsächlich alle bezahlt bekommt zweifle ich doch mal stark an. Aber ich will mich da auch nicht immer einmischen, so was ist nicht gut für einen erwachsenen Mann.
Inzwischen hab ich auch seine Mutter kennen gelernt, eigentlich eine sehr nette Frau, aber ich glaube wenn ich bei ihr wohnen sollte, würde ich auch lieber von einer Brücke springen. Diese Frau vergisst während wir sie besuchen, dass wir da sind und geht zu Bett – nicht das Einem das auffallen würde, sie sagt kaum drei Wörter. Gemeinsam mit Jürgen zu seiner Mutter fahren ist für mich Schwerstarbeit – ich muss schließlich den Alleinunterhalter machen bei den Beiden. Was weder Jürgen noch seine Mutter wissen ist das es bald ein neues Familienmitglied gibt, das, wie ich hoffe ein wenig mehr Töne von sich gibt. Neulich habe ich geträumt, dass der Arzt im Kreissaal dem Baby mehrmals auf den Po haut und es keinen Laut von sich gibt. Der Arzt kam dann ganz mitleidig zu mir und sagte: tut mir leid ihr Baby ist stumm. Ich hab ihn dann getröstet: machen sie sich mal keine Sorgen, ich kenne das schon. Dann bin ich schweißgebadet und gleichzeitig lachend aufgewacht. Ich bin erstmal in die Küche gestapft und hab ein Würstchen genascht. Dieser Heißhunger kann noch heiter werden, bisher bin ich erst in der 14. Woche – welche Ausmaße ich wohl bis zum Ende der Schwangerschaft angenommen haben werde? Kochen kann Jürgen fast ebenso gut wie Autos reparieren, was meine Figur ohnehin schon ziemlich belastet. Früher musste ich wenigstens noch viel laufen, weil mein Wagen ständig am anderen Ende der Stadt stehen blieb.
Aber ich freue mich enorm über die Schwangerschaft, ich muss nur aufpassen, dass ich nicht mit einem penetranten Dauergrinsen durch die Gegend laufe. Wie ich es Jürgen beibringen soll, weiß ich allerdings noch nicht, er hat ja bereits zwei Kinder und zahlt auch für die Jungs. Er mag Kinder sehr, aber die Kosten sind bei seinem Gehalt einfach schwer zu wuppen. Aber er wird sich trotzdem freuen ein Kind zu haben, mit dem er spielen kann und das er wirklich jeden Tag aufwachsen sieht. Bisher muss er immer mit meinem Hund vorlieb nehmen und die Beiden haben sich wirklich richtig ineinander verliebt.