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Jagdsaison
„Fick mich.“
Eine wie Vanessa war ihm noch nicht untergekommen. Die anderen, mein Gott, was hatten die bloß immer für ein erbärmliches Theater darum gemacht. Diese öden Eroberungsspielchen all die Jahre, die zeitraubenden Abendessen bei koketten Augenaufschlägen im Kerzenlicht, dieses fortwährende So-eine-bin-ich-nicht-Gehabe, nur um ihn dann später in der Nacht doch ranzulassen in der Hoffnung, dass auch er sie ranließe: an seinen sagenhaften Reichtum, den er, Arthur Wieland, einer der größten Bauunternehmer im Kölner Umland, angehäuft hatte, und von dem nur das Finanzamt und ein paar zunehmend ungeduldiger werdende Banken wussten, dass dieser sagenhafte Reichtum nichts weiter war als eben dies – bloß eine Sage.
Mit den diplomatischen Noten ehrbarer Damen hielt Vanessa sich gar nicht erst auf. Sie gab Regieanweisungen. Klar. Präzise. Eine Inszenierung, in der er begeistert für eine Spielzeit die Hauptrolle übernommen hatte. Zum wiederholten Male beglückwünschte er sich, ihren Verlobten für ein paar Wochen aus dem Ensemble gestrichen zu haben – der weilte jetzt auf Montage im Süden Bayerns und klotzte Überstunden.
„Fick mich“, drängte Vanessa erneut.
Sie lag bäuchlings hingespreizt auf dem Eisbärenfell im Wohnzimmer, ihr über die Schulter rückwärts gewandtes Gesicht nur vom knisternden Feuer im offenen Kamin zur Rechten beschienen. Er kniete zwischen ihren Beinen, mit einem aufrechten Verlangen, wie er es vor Vanessa lang nicht mehr gekannt hatte. Wie jemals hätte er den feuchtglänzenden Lippen ihrer rasierten Scham widerstehen können, die ihm eine Verheißung zulächelten?
„Jetzt mach schon“, führte Vanessa ihr Stoßgebet weiter aus.
Er beugte sich vor, stützte die Hände neben ihren Schultern auf das Eisbärenfell, ließ seinen Schwanz durch den Spalt ihrer Hinterbacken gleiten und steckte ihn rein. Beim Stoßen schaute er hinab; nichts mehr zu sehen von der unschönen Speckwölbung, flach und trainiert wirkte sein Bauch beim glitschenden Vor und Zurück, und jedes Mal, wenn sein Becken gegen ihre Backen klatschte, schallte es wie Applaus hinauf zu seinen Ohren.
„Fester“, forderte Vanessa, die ihren Kopf seitlich auf den samt Knochenbau tadellos erhaltenen Eisbärschädel gelegt hatte, ein Anblick, der seine Nervenenden rotieren ließ. Was machte es da, dass sie nicht die Schönste war: herbe Gesichtszüge, die Hüfte zu fleischig, auf den Beinen ein Geflecht aus Besenreisern, und das, obwohl sie mit ihren zwanzig Jahren erst halb so halt war wie er. Aber ihre Dunkelkammer, Mannomann, die hatte, so schien es, nur eine einzige leidenschaftliche Ambition: füll mich aus!
Das Kribbeln seiner Lenden konzentrierte sich viel zu schnell auf einen Punkt hin. Er war nah dran, Vanessa noch nicht, und eine solche Unachtsamkeit wollte er sich nicht durchgehen lassen. Also bitte, er war doch kein lausiger Liebhaber! Ein Weilchen musste er noch bei der Stange bleiben, bis er sie so weit hatte. La petite mort, der kleine Tod, wie die Franzosen sagten. Und genau so klangen Vanessas Schreie beim Kommen – als fingerte er sie aus dem Leben, leckte sie zu Tode, stieße sie in einen bodenlosen Abgrund. Gott, wie er das liebte.
Er brachte sein Durchhaltevermögen mit einem bewährten Kniff auf Trab. Sein Blick hakte die Gedanken unter und ging mit ihnen auf Wanderschaft, während er sein erhitztes Fleisch vom Bauchnabel abwärts sich selbst überließ.
Er hatte die chromglitzernden Wohnzimmermöbel reichlich über. Modernes Blendwerk, pomphaft anzusehen, aber bequem wie Apfelsinenkisten. Dieser ganze Tand; raus damit. Er hatte seine Wahl bereits getroffen: Reproduktionen von Designermöbeln aus der Bauhausepoche sollten es sein. Zum Beispiel dieser cremefarbene LC2-Sessel von Le Corbusier. Piekfein. Der würde einen großartigen Kontrast abgeben zu dem imposanten Zwölfender drüben an der Wand. Ein Rothirsch, den Großvater damals mit einem Blattschuss niedergestreckt hatte; zweifellos das ungewöhnlichste Geschenk auf seiner Diplomfeier. In den täuschend echt nachgebildeten Augen des Hirschkopfes spiegelte sich das Flackern des Kaminfeuers wider. Sie schienen geradewegs auf Arthur herabzustarren. Ein willkommenes Rätsel; sein Geist begrübelte die optische Täuschung und verschaffte ihm, zu Vanessas unüberhörbarem Vergnügen, ein paar weitere Sekunden Aufschub.
Der Rothirsch senkte das Geweih. Arthur hatte eine solche Taktzahl angeschlagen, dass er nicht sofort verlangsamen konnte. Fünf, sechs weitere Stöße tat er, das lächerliche Hirngespinst an der Wand betrachtend (ausgerechnet jetzt, dachte er, die Scheißdübel haben so viele Jahre gehalten). Offenbar waren es die entscheidenden Stöße – unter ihm bog Vanessa den Rücken durch und presste ihre Hinterbacken bis zum Anschlag an sein Becken.
Sie schrie.
Arthur schaute auf sie runter. Vanessa hatte den Kopf in den Nacken geworfen, versuchte verzweifelt, sich hochzustemmen, gurgelte schwachsinnige Laute. Er sah die schwach ausgeprägten Trizepsmuskeln ihrer zitternden Arme, die Bögen ihrer durchgedrückten Schulterblätter, die Schweißtropfen, die in der Muskelfurche des Rückgrats hinabrannen.
Und er sah noch etwas. Aber er verstand es nicht gleich. Er konnte es nicht verstehen. Der Eisbärschädel ...
Mein Gott, dachte er, ich komme ... ich komme.
Der Eisbärschädel war aus seinem zähnefletschenden Totenschlaf erwacht und hatte sich, ungehindert von jedweden Wirbeln und Muskeln, um 180 Grad herumgeworfen, die Fellpartie des Halses zu einem dicken Strang verdreht. Ein einziger Biss genügte, und Vanessas Kopf verschwand, zu einem tausendfältigen Puzzle zersplittert, im Rachen des Kaminvorlegers.
Die rasche Beiläufigkeit der Tat ließ Arthur noch ein paar letzte Stöße tun, bis ihm klar wurde, dass er jetzt eine Leiche penetrierte. Er stöhnte, nicht mehr vor Lust, nur noch vor Grauen, und sprang auf. Sein wippender Schwanz verspritzte eine millionenfache Nachkommenschaft auf einen Leib, der nicht mehr empfangen konnte.
Der Eisbär buckelte den nassgeschwitzten Torso ab, rollte sich zusammen und kam auf die Beine. Die segelschlaff herabhängenden Fellseiten wölbten sich nach innen, bildeten die Gestalt des Raubtiers nach, das vor vielen Jahren die Eiswüsten der Arktis durchwandert hatte, bis ein vom süßen Kapital verlockter Jägertrupp der Inuits ihn zum Export nach Deutschland auserkor.
Der Eisbär richtete sich auf die Hinterbeine auf und hob die Vorderpranken.
Arthur trat zwei schlotternde Schritte zurück und blickte zu den Glasmurmeln über den Reißzähnen hoch, über die er so viele Jahre gleichgültig hinweggestiegen war.
An der Wand röhrte der Rothirsch.
Der Eisbär brüllte.
Und Arthur?
Der schrie.
„Wollen Sie mal ’n Blick drauf werfen?“, fragte der Beamte der Spurensicherung und umfasste den Rand des Tuchs, das über den Leichnam ausgebreitet worden war.
„Komm ich wohl nicht umhin, oder?“, erwiderte Hauptkommissar Dominique Dupont. Die geronnene Blutlache auf dem Marmorboden vor dem Kamin ließ keine Zweifel daran, was er zu sehen bekäme. Ein Ruck, und die Tragödie lag vor ihm. Nackt, auf dem Rücken; das aufgerissene Fettgewebe der üppigen Brüste; die bis auf die Knochen zerschundenen Innenseiten der Schenkel.
Dupont atmete tief durch. „Und der Kopf?“
Der Beamte deckte die Tote wieder zu und richtete sich auf.
„Weitab vom Schuss, nehm ich an.“
„Was soll’n das heißen?“
„Dass er weg ist. Nicht mehr aufzutreiben. Ich hab sogar in der Kühltruhe nachgeschaut. Nichts.“
„Vielleicht haben Sie was überseh’n.“
Der Beamte warf Dupont einen ärgerlichen Blick zu. „Dann suchen Sie ihn doch. Vielleicht hat der Kerl, der das getan hat, den Kopf einfach mitgenommen. So ’ne Art makabere Trophäe, woher soll ich das wissen. Die Welt ist krank.“
„Ach was“, sagte Dupont. Nicht nur in diesem Punkt hatte er die Illusionen aus seinen Anfangstagen samt und sonders verloren. Stallone hatte in City Cobra gut reden gehabt: Du bist die Krankheit, ich bin deine Medizin. Dupont war keine Medizin. Er erstellte die eine oder andere Diagnose, werkelte bestenfalls ein wenig an den Symptomen herum, aber die Ursachen, die waren nicht auszumerzen. Früher einmal hatte er die Welt ein stückweit besser machen wollen. Heute konnte er über diese lang gehätschelte Naivität nur noch mit dem Kopf schütteln. Das Verbrechen war eine Konstante. Letztlich änderte sich nichts, nur die Namen der Täter und Opfer variierten.
„Wie ist das passiert?“, fragte er den Beamten.
„Wissen wir noch nicht. ’n Schneidwerkzeug war’s jedenfalls nicht.“
„Eine Axt?“
„Wenn sie ordentlich schartig war, vielleicht. Aber glaub ich nicht. Die Wundränder sind zu stark ausgefranst. Sieht glatt so aus, als hätt’ der Täter ihr den Kopf so mir nichts dir nichts vom Hals gerupft.“ Der Beamte legte beide Fäuste aneinander, machte eine auswringende Bewegung und zog die Fäuste mit einem Zungenschnalzer wieder auseinander. „Einfach abgerissen, wie bei ’nem Huhn. Steckt ’ne Mordskraft dahinter. Eigentlich gar nicht vorstellbar, so was.“
Ebensowenig wie dein pietätloses Gequatsche, dachte Dupont.
„Das schafft kein Mensch“, sagte er.
„So schlau sind wir auch. Aber was dann? Etwa ’n Tier? Der Kerl hatte nicht mal ’nen Hamster. Und wir reden hier vom Kaliber Rottweiler aufwärts. Randvoll mit Amphetamin. Sehen Sie hier so einen?“
Dupont ignorierte den herausfordernden Einwurf. „Wo ist der Hausherr?“
„Der Baufritze? ’n bisschen was liegt gleich da drüben. Wir nehmen jedenfalls an, dass es von ihm ist.“ Der Beamte trat zu einem kurzen, mehrfach gefalteten Tuch, das die zweite getrocknete Blutpfütze im Wohnzimmer nur unzureichend bedeckte. „Hier, schau’n Sie.“
Das knapp überm Knie abgerissene Unterbein lag da wie ein vergessenes Requisit aus einem Horrorstreifen. Dupont hatte Filme gesehen, in denen abgetrennte Gliedmaßen weitaus realistischer ausgesehen hatten. Aber das hier war echt. Das zermalmte Knorpelgewebe an der Trennstelle, die muskulöse Wade, der flaumige Bewuchs bis hinab auf den Spann, und wie zur Abrundung des bizarren Anblicks war die schwarze Baumwollsocke bis zum Fußballen abgestreift.
„Grundgütiger“, brachte Dupont hervor. „Decken Sie’s wieder zu, ja?“
Der Beamte grinste. „Klaro.“
„Wo ist der ... der Rest von ihm?“
Bevor der Beamte den Mund aufmachte, wusste Dupont bereits, was er sagen würde.
„Ich nehm mal an da, wo der Kopf der Frau ist.“
Wenn das keine Aussichten waren.
Alle, die Martina Katzenbach an diesem Tage sahen, waren überwältigt von ihrem Anblick, freilich aus den unterschiedlichsten Gründen. Zwei Lager herrschten vor: das eine bestand vornehmlich aus den Männern jenseits der vierzig, die sich einig waren, eine solch schöne Braut hätten sie ja ihren ganzen Lebtag noch nicht gesehen. Das andere Lager bildeten überwiegend die Frauen jenseits der vierzig, die sich – und das war nun außerordentlich bemerkenswert – einig waren, dass dieses Mädchen, das vor gut einem dreiviertel Jahr als Fräulein Kaperski von den Nöten der Sozialhilfe für ein paar Euro Stundenlohn hinter den Tresen des Tennisclubs gespült worden war, dass also dieses Mädchen, na ja, hinter vorgehaltener Hand kann man’s ja sagen, eine abgefeimte Thekenschlampe war.
Konkurrenzlos schön, dachten die Männer.
Hat sich mit ihrem dummen Puppengesicht und den straffen Tittchen einen unserer Besten geangelt, tuschelten die Frauen.
Einer unserer Besten, das war Frank Katzenbach, genannt Krümel; der gute Krümel hatte eine Menge Geld verdient mit Keksen, die er mit seinem LKW (auf die Seitenflächen des Aufliegers zwei gigantische Krümelmonster lackiert) zu Wochenmärkten karrte und dort marktschreierisch unters Volk brachte.
So oder so, Martina Katzenbach war in der elitären Welt des Tennisclubs die Gipfelstürmerin des Jahres, das stand fest, auch wenn’s erst Mitte März war. Mit achtundzwanzig Jahren Knall auf Fall von der aschenputteligen Zweiraumbude in eine Villa in bester Kölner Südlage – Spiel, Satz und Sieg.
An der Festtafel erhoben sich Frank Katzenbach und seine Frischgebackene. Hinter ihnen drehten die DJs die Musik leiser.
„Los, Krümel, eine Rede“, rief sein alter Schulfreund Markus von einem der hinteren Tische.
„Eine Rede, eine Rede“, stimmten andere mit ein, und dann gab es tosenden Beifall.
Frank nahm das Mikrofon. „Liebe Familie, liebe Freunde, verehrte Gäste. Martina und ich wollen diesen Moment nutzen, um euch allen ganz herzlich zu danken. Wir freuen uns, dass ihr diesen schönen Tag mit uns gemeinsam feiert. Es ist jetzt neun Monate her, dass Martina ...“
Angeborene Redseligkeit und zu viel Bier befähigten Frank, die kommenden zehn Minuten mit einer romantischen Synopse über die Marksteine seiner Beziehung mit Martina zu füllen. An der Stelle „und da, glaub ich, hab ich mich in dich verliebt“ beugte Karin sich an einem der Nebentische mit implantatschweren Brüsten zu Doris hinüber.
„Um den Finger gewickelt, so sieht’s aus. Mensch, der Krümel, dass der auf so was Billiges mal reinfällt hätt’ ich nie gedacht.“
„Verliebter Unsinn“, wisperte Doris zurück. „Ein Jahr geb ich denen, dann guckt er anderen Röcken nach, wirste sehen.“
Karin nickte nachdrücklich, und damit war’s beschlossen.
„... deshalb ist das heute der schönste Tag in meinem Leben“, schloss Frank dann endlich.
„Die Braut“, rief jemand, „die Braut muss auch was sagen.“
Frank reichte das Mikrofon an Martina weiter, die prompt errötete. Karin, die sich vom lauter Baucheinziehen in ihrem viel zu engen Kleid schon missmutig genug fühlte, empfand es geradezu als persönlichen Affront, dass die Braut mit ihrem blöden Kleines-Schüchternes-Mädchen-Getue nun noch eine Spur reizender aussah.
Martina Katzenbach blickte sich in dem großen Festsaal um, und mit einer Stimme, die allzu deutlich ihre Unsicherheit verriet, sagte sie nur drei Worte zu ihrem Mann: „Ich liebe dich.“
Auch dies wurde beklatscht wie die unerwartet köstliche Wendung in einem Theaterstück.
Auf Franks Zeichen hin spielten die DJs den Hochzeitsmarsch. Das Licht wurde gedimmt, und mit viel Tamtam und sprühenden Wunderkerzen wurde die fünfstöckige Hochzeitstorte auf einem Teewagen in den Saal geschoben.
„Hoch!“, jubelten die ersten und standen von ihren Plätzen auf, „hoch, hoch, hoch!“
„Komm, Schatz“, sagte Frank und griff nach dem Muff, den er Martina gleich nach der kirchlichen Trauung in der Hochzeitskutsche geschenkt hatte. „Nimm ihn mit.“
„Hier?“
„Natürlich hier.“ Er lachte vergnügt wie das blaubepelzte Konterfei auf seinem LKW.
Martina hatte ihm vor Monaten einmal eine abgegriffene Fotografie gezeigt: Die Monroe, irgendwo auf einem nächtlichen Flughafen, wie sie die Hände in einem Muff vor der Kälte schützte. „So schön“, hatte sie gesagt, „sie ist so unfassbar schön, ich würd was drum geben, so wie sie zu sein.“ Nun, die blonden Haare hatte sie fast, das Brautkleid machte sie schöner, als die Monroe es je gewesen war, wie Frank fand; es hatte nur noch dieser Muff gefehlt.
Er machte eine ausladende Bewegung Richtung Torte. „Sei meine Norma Jean.“
Martina lachte, und was die anwesenden Damen nicht wussten: es war dieses Lachen, das Frank bezaubert hatte. Kein Umdiefingerwickeln war da im Spiel gewesen, kein dummes Puppengesicht, keine straffen Tittchen, nur dies ungekünstelte ansteckende Lachen.
Frank nickte aufmunternd, als sie die Hände in den Muff steckte. Die fein verwobenen Härchen des Biberfells strichen sanft über ihre nackten Unterarme; sie bekam eine Gänsehaut.
„Gehn wir“, sagte Frank und nahm sie bei der Hand.
Auf ihrem Weg durch das Spalier aus aufrichtigen und verlogenen Beifallsbekundungen fiel Martinas Blick auf die Garderobe, die überreich mit Pelzmänteln behängt war. Sah ganz danach aus, als gehörte sie jetzt dazu.
Ungefähr an der Stelle, an der Franks Bruder Michael mit einem Videostativ stand und den Tortenmarsch filmte, wurde Martina unruhig.
„Is’ was, Schatz?“, erkundigte sich Frank.
„Du hast vergessen, das Preisschild rauszuschneiden. Es kratzt.“
„Da war kein Preisschild drin.“
„Aber da kratzt was.“
Unvermittelt blieb sie stehen. Frank drehte sich zu ihr um. Warum nur zupfte sie von innen an dem Muff?
„Schatz?“
Sie antwortete nicht. Erst hielt er es noch für eines ihrer Fingerspielchen, die sie nachts manchmal aufführte, wenn sie den Tag bei Kerzenschein im Bett ausklingen ließen. Das beherrschte sie meisterhaft: die Schatten an der Wand, sieh mal, ein Hase, und jetzt, na, ein Vogel; Giraffe, Elefant und Löwe, einen ganzen Zoo hatte sie im Repertoire.
Aber Martina stand bloß da und starrte auf den Muff hinab, als wär’s ihr ein Rätsel, was sich darin gerade abspielte.
„Schatz?“, wiederholte Frank, diesmal leicht verärgert.
Wie von heftiger Faust getrieben beulte der Muff sich nach vorn hin aus, dann zog der Stoff sich ruckartig zusammen und umschloss mit beiden Enden Martinas Handgelenke. Ihre Hände führten einen rasenden Tanz in der Biberhöhle auf. Sie zerrte an ihren Unterarmen, bekam sie aber nicht frei.
„Frank!“, schrie sie. „Mein Gott, nimm mir dieses Ding weg!“
Sie hielt ihm das zappelnde Fellbündel an die Brust, eine verzweifelte Bittstellerin vor dem Herrn, aber Frank war zu nichts weiter in der Lage als einen Schritt zurückzuweichen und ihr Unglück hilflos zu beglotzen. In einem Randbereich seiner Wahrnehmung bemerkte er, dass die Musik nicht länger spielte und sich um ihn herum ein aufgeregter Tumult entspann.
„Hilf mir doch“, bettelte Martina und benetzte Franks Gesicht mit einem Speichelschauer.
Ein Spasmus jagte durch ihren Körper, sie plumpste auf den Hintern, das Foltergefängnis ihrer Hände von sich gestreckt, und strampelte mit den Stilettoabsätzen Riefen ins Parkett.
„Nimm es weg!“, kreischte sie, die Augen übervoll mit Tränen.
Ein gedämpftes Knacken, grad wie bei Krümels beliebten Hartkeksen, und der Muff fiel mitsamt seiner Beute auf den Rauschestoff ihres Brautkleides hinab.
Martina Katzenbach saß da, ganz stumm und starr vor Grauen, und besah sich die fleischig ausgefransten Stümpfe, in denen ihre Unterarme neuerdings endeten. Blut spritzte in scharlachroten Stößen heraus, besudelte ihr Kleid, ihren Gatten, all ihre Träume. Mit einem wimmernden Laut kippte sie zur Seite und blieb bewusstlos liegen.
Krümel Katzenbach verharrte mit aufgerissenen Augen an seinem Platz, während die feine Hochzeitsgesellschaft sich wie eine ungebärdige Horde benahm. Alles schrie und lief durcheinander, Stühle polterten zu Boden, Gläser und Flaschen zersprangen auf dem Parkett, ein kolossales Tohuwabohu, in dem Frank der ruhende Pol war.
Reglos stierte er auf das blutige Fellbündel in Martinas Schoß. Es vollführte rhythmische Bewegungen, transportierte Finger um Finger die verschandelten Hände der Braut aus dem Dunkel seines Bauches ans Freie. Da war der Ring, der schöne, der teure goldene Reif mit seinem Namen darin. Einem absurden Impuls folgend bückte sich Frank nach diesem Schatz. Wochen war es her, dass er um Martinas Hand angehalten hatte, aber jetzt brachte er es kein zweites Mal fertig. Er sprang hoch, die Rechte auf den Mund gepresst, und drehte sich auf dem Absatz herum.
Was er sah, ruinierte ihm vollends den Verstand. An der Garderobe hatten sich die Pelze auf ihren Bügeln ihm zugewandt. Zobel, Fuchs und Biber, sie alle warfen schlackernd die Ärmel zusammen und applaudierten der listigen Unternehmung ihres Kumpans. Dann rissen sie die Ärmel hoch und ließen eine flauschige La Ola über die Garderobe laufen.
Frank Katzenbach spurtete blindlings los, glitt dabei im Blute seiner Angetrauten aus und fiel so unglücklich hintüber, dass er sich das Genick brach.
Der Tod hatte die beiden schneller geschieden, als selbst Doris es je für möglich gehalten hätte.
ERSTE ERMITTLUNGSERFOLGE IM BAULÖWENMORD?, titelte die BILD am Mittwoch.
„Hast du den Mist schon gelesen?“ Dupont knallte die Zeitung auf seinen Schreibtisch.
Müller, sein Assistent, der an einem zweiten Schreibtisch gelangweilt in einer Akte blätterte, schaute auf. „Was denn?“
„Die schreiben, wir hätten ’ne Spur. Haben die ’ne Meise?“
Müller zuckte die Achseln. „Du weißt doch, wie’s läuft.“
„’s ist dir alles scheißegal, was? Die lügen sich die Blätter voll, und dir geht’s einfach sonstwo dran vorbei.“
„Kannst dich ja wieder beim Presserat beschweren.“
„Ich mein’s ernst, Müller. Da draußen glauben doch alle, wir wär’n so nah dran. ’s hat ja in der Zeitung gestanden. Und ich, das ist ja wohl der Witz, ich muss dann wieder erklären, warum wir nicht vorankommen. Nicht die Schmierfinken, die doch nicht, neihein. Ich. Mir steht’s echt bis hier.“
Im Grunde genommen hatten sie überhaupt nichts. Im Fall des Bauunternehmers Arthur Wieland liefen seit einer Woche alle Nachforschungen ins Nichts. Einbruchsspuren: Fehlanzeige. Feinde? Eine ganze Menge, aber sie alle hatten wasserdichte Alibis vorweisen können. Der gehörnte Verlobte: zum Zeitpunkt des Doppelmordes mit der Wellblechverkleidung einer Lagerhallenwand in irgendeinem bajuwarischen Hintertupfingen beschäftigt. Und der Laborbericht bestätigte Duponts erste Vermutungen: Es sei wohl ein Tier gewesen, hieß es da. Ein großes, wie ein dramatischer Halbsatz eigens betonte. Leider habe man keinerlei verwertbare DNA-Spuren vom Angreifer auftun können, keinen Speichel, kein Blut, keine Hautschuppen. In den Wunden hätten sich nur Haare des Eisbärfells befunden, auf dem die Opfer offensichtlich getötet worden waren.
Nehmen wir den doch, dachte Dupont. Wenn sie unbedingt einen Täter wollen, bitte schön, sagen wir einfach, der Eisbär wär’s gewesen. Verdammte Journalisten.
Überhaupt, die Sache mit dem Fell. Es hatte an der obersten Stufe der Treppe gelegen, blutverklebt. Wie war es dahin gekommen? Und vor allem: Wer hatte es dort abgelegt und warum?
Die Beweislage hatte ihm so manch desperates Stündchen beschert. Er konnte nur hoffen, dass die Schreiberlinge keinen Wind von der Tiergeschichte bekamen. Die Schlagzeilen sah er schon vor sich:
DIE BESTIE GEHT UM – BEVÖLKERUNG IN PANIK
WERWOLF VON KÖLN NOCH IMMER NICHT GEFASST
Und als wäre es noch nicht genug, dass er und Müller praktisch allein die SoKo Wieland bildeten, durften sie sich wegen des Personalmangels nun auch noch mit dem Katzenbachfall herumschlagen, eine ähnlich rätselhafte, absurde Geschichte – Müllers morbider Humor hatte daraus intern die SoKo Kekse gemacht.
Die Zeugenaussagen der Hochzeitsgäste waren allesamt unergiebig. Entweder hatten die Leute gar nichts gesehen, oder aber die paar wenigen, die etwas beobachtet hatten, wollten ihm weismachen, der Muff hätte „irgendwie“ etwas damit zu tun gehabt. Vor allem die eine Zeugin, diese Karin Dormeier, eine wandelnde Juwelierauslage mit botoxfixiertem Schmollmund, hatte darauf bestanden.
Aber wie?
Woher soll ich das wissen? Der hat sich jedenfalls so komisch bewegt.
Bewegt?
Ja. Als wären Ratten drin. Und dann ... dann waren ihre Hände plötzlich ab.
Sie sind also der Meinung, der Muff hätte ...
Meinen tu ich gar nichts. Ich hab bloß gesagt, was ich geseh’n hab.
Vielen Dank. Wenn Sie das Protokoll bitte hier unterschreiben wollen?
Das Labor hatte nichts gefunden. Von Hand verarbeiteter Biberpelz. Keine Messer, keine Sägen darin, kein ausgeklügelter Trennmechanismus, der die Behauptungen der Zeugen auch nur entfernt hätte unterstützen können. Sicher, auf dem Video von Michael Katzenbach war das zappelnde Fellbündel, in das die Braut ihre Hände gesteckt hatte, für einen kurzen Moment zu sehen, aber im entscheidenden Augenblick hatte ein Unachtsamer das Stativ umgetreten und damit die Aufnahme vermasselt.
Auf Duponts Schreibtisch lag noch der Ordner mit den Aufnahmen vom Katzenbachtatort. Nirgends ein Lösungsansatz, nicht im allerkleinsten Pixelchen.
Die Fotos waren natürlich nur die eine Sache. Zu Fotos hatte er zeitlebens eine gesunde Distanz gehabt. Aber er war am Sonntag am Tatort gewesen, und das war eine ganz andere Sache. Diese Bilder spukten einträchtig neben den Baulöweneindrücken durch seine Alpträume; in dieser Hinsicht war sein Verstand gnadenlos, ein pingeliger Buchhalter, der noch das kleinste Gräuel im Hinterstübchen archivierte, um sie bei den unpassendsten Gelegenheiten wieder hervorzukramen. Telefonnummern konnte Dupont sich nicht von hier bis zur Tür merken, sein Jahrestag mit Sabine war ihm jedes Jahr aufs Neue ein Rätsel, aber wenn es um die Schreckensbilder von Tatorten ging – oha, gar nicht daran denken.
„Wie geht’s der Frau?“, erkundigte sich Dupont.
„Kommt wohl durch“, sagte Müller. „Ich hab heute morgen mit dem Krankenhaus gesprochen.“
„Und ihre Hände?“
„Das wird nichts mehr. Schon aus optischen Gründen nicht. Der Arzt meinte, da könnten sie ihr genausogut zwei Gartenkrallen annähen.“
„Der Blödmann.“
„Wenn’s doch so ist?“
„Ich finde nur, dass ... ach, vergiss es.“
„Freitag wird übrigens ihr Mann beerdigt“, sagte Müller.
„Die arme Frau“, seufzte Dupont. „Weiß sie’s schon?“
„Nee, ihr Zustand ist noch nicht stabil genug. Die woll’n für den Moment jede Aufregung vermeiden.“
Schöne Taktik, dachte Dupont. Am Ende kommt’s ja doch raus. Er fragte sich, welche Aufregung ihn wohl mehr aus der Bahn werfen würde: die Entdeckung, für alle Zeiten die Hände verloren zu haben, oder Sabines Tod? Und, um diese Überlegung weiterzuspinnen: Vor die Wahl gestellt, seine Hände oder Sabine, was wählte er dann? Er schämte sich beinahe, die romantische Alternative nicht eindeutig bejahen zu können.
Das Telefon unterbrach sein Gedankenspiel. Er nahm ab und hörte eine Weile zu. Dann knallte er den Hörer auf und schnappte sich seinen Mantel.
„Los, Müller, wir müssen zur Domplatte.“
„Na klasse, und mein Bericht? Was ist denn los?“
„Die nächste Schweinerei. Beeil dich.“
Er hatte den Andre Hintze aus bürgerlichem Hause, der seine braunen Cordhosen brav zur Schule getragen hatte (dreizehn Jahre bis zur zehnten Klasse), lang schon hinter sich gelassen; jetzt war er der Andy Dandy, der Bonvivant der Kölner Altstadt, bekannt wie ein bunter Hund, und wie ein solcher kleidete er sich denn auch. Knielange Mäntel in schreienden Neonfarben, buntscheckige Hemden, mannsabwärts die obligatorischen Lederhosen, ausgewählt nach allen Kniffen der Regenbogenkunst, und kniehohe Stiefel aus Schlangenleder. Nicht mal der Kuckuck wusste, woher er das Geld für den teuren Fummel nahm. Manch einer munkelte was von geheimnisvollen Drogengeschäften; ein Quatsch war das, aber in solchen Fällen zerquatschten sich die Leute gerne mal das Maul, weil sie es nicht ertragen konnten, dass einer wie Andy Dandy ein Leben ganz nach seinem Gusto führte.
Obwohl ein hagerer Schlaks – es hieß: stell einer den Andy an einen zugigen Ort, und der Wind pfeift Polka auf seinen Knochen –, hatte er erstaunlichen Erfolg bei Frauen. Die eifrigen Neider schoben es aufs irrationale Weibervolk. Sie übersahen dabei, dass Andy Dandy eine perfekte Nischenstrategie fuhr: ein farbenfroher Iggy Pop in Schlangenlederstiefeln mochte nicht nach jederfraus Geschmack sein, aber wenn eine Gefallen daran fand, dann erhielt er allein wegen der fehlenden Konkurrenz so gut wie sicher den Zuschlag. Andy Dandy angelte nicht mit den Massen im großen Teich – er hockte abseits an einem kleinen, aber feinen Tümpel und zog ein Fischlein nach dem anderen an Land.
An diesem Mittwochnachmittag war er wieder fischlos und scharwenzelte um den Dom herum. Sein Beuteschema war auf einen optimalen Versorgungsgrad ausgelegt: keine über hundert Kilo, keine Gorgonengesichter, niemals Pumps mit Tennissocken.
Alles andere: nehm ich!
Viel war bei seinem stummen Werben bislang nicht rumgekommen. Der Himmel hing mit Wolken zu, gleichwohl war der Platz um den Dom proppenvoll, allein die Resonanz war an diesem Tag sehr spärlich. Einmal hatte eine zurückgezwinkert und ihn mit dem Anflug eines Lächelns bedacht, sich dann aber auf Nimmerwiedersehen im Gedränge verloren. Touristin, für so etwas hatte er mittlerweile ein Auge.
Wie er so beim Schlendern war, fing an seiner linken Wade ein Zwicken und Zwacken an.
„Scheiße!“, fluchte er und stampfte mit dem linken Absatz kräftig auf.
Na, ging doch. Die Nadelstiche hörten auf. Er spazierte weiter, mitten durch eine Schar fotografierender Klischeejapaner, die dem knalligen Motiv sofort ihre Aufmerksamkeit widmeten. Andy Dandy ließ sich kurz auf das Spielchen ein und warf sich in ein paar ins Lächerliche übertriebene Posen.
Vielleicht, dachte er beim Weitergehen belustigt, vielleicht verscherbeln sie’s ja zu Hause an einen Modeheini, und der kommt auf der nächsten Prêt-à-porter-Woche in Paris ganz groß damit raus. Wusste man ja, wie sie waren, diese Japaner. Xerox-Gene; kopierten alles.
Es zwickte erneut.
Weil er kein wirksameres Wort kannte, sagte er wieder: „Scheiße!“
Diesmal brachte die Unmutsäußerung keine Linderung, im Gegenteil: wie vom Schneiden einer Rasierklinge zog sich ein scharfer Schmerz von seiner Ferse bis hoch zur Kniekehle.
„Au, verdammt!“, bölkte Andy Dandy und tat einen hüpfenden Schritt.
Vor ihm drehte sich ein beleibter Kerl um, in der Hand ein Brötchen mit einer in Senf ertränkten Bratwurst.
„Alles in Ordnung?“
„Klar“, keuchte Andy Dandy, wobei er sich nach hinten bog und mit der Hand über das Schlangenleder strich. „Geht schon.“
Der Dicke nickte zufrieden und schlenderte weiter.
Andy Dandys Zustand war alles andere als ‚geht schon’. Ein weiteres Mal schlitzte sich das Brennen sein Bein hinauf.
Andys Blut geriet in Wallung. Fluchend humpelte er rüber zur ersten Stufe der Treppe, die hinab zur Rheinpromenade führte. Seine Treter hatten keinen Reißverschluss; todschick fand er das, aber in Notfällen wie diesem war es denkbar unpraktisch. Was für ein jämmerliches Bild würde er abgeben, hier, unter all den Flanierenden, ausgerechnet hier seinen ewig langen Stiefel vom Bein zu zerren, um sich den Juckreiz mit den manikürten Nägeln von der Haut zu kratzen – wenn es denn nur ein Juckreiz war, Jesus Maria; so, wie sich das anfühlte, lag da weitaus mehr im argen.
Andy Dandy ließ sich mehr fallen, als dass er sich setzte. Paar mal tief durchatmen, dann wird das schon, sagte er sich. Er inspizierte den Stiefelschaft unterhalb seines gebeugten Knies. Eng umschloss dieser das Nappaleder des Hosenbeins, ganz wie er es mochte.
Viel zu eng, wurde ihm im nächsten Augenblick bewusst. Jetzt spürte er auch nicht mehr bloß die angenehm stramme Umhüllung von Hose und Stiefel; sein linkes Bein wurde unzweifelhaft gequetscht, und der Druck nahm stetig zu.
„Was glotzt’n ihr so?“, schnauzte er die Leute an, die die Treppe heraufkamen und ihn dabei ungeniert begafften.
„Fresse, du Vogel!“, maulte ein Typ mit gegeltem Schopf, ein blondiertes Fräuleinwunder in den rechten Muckibudenarm geklemmt.
Andy Dandy kümmerte sich nicht um das Muskelpaket. Er war vollauf damit beschäftigt, sein Bein zu drehen, um den Stiefel von allen Seiten zu betrachten, als stünde die Erklärung für das Quetschgefühl irgendwo in fetten Buchstaben quer über den Schaft geschrieben.
Der Druck ließ wieder nach. Langsam löste sich der Stiefelrand von seinem Knie, so weit, dass man zwei übereinanderliegende Finger hätte hineinschieben können. Eine Reihe von Zähnen schob sich aus dem Innenfutter seines Stiefels hervor. Alle waren sie leicht nach hinten gerichtet, zwei davon länger und dicker als die restlichen; ihre Spitzen berührten fast das Hosenleder.
„O Mann!“, hörte er jemanden neben sich sagen. Es war der Popeye, wie Andy mit einem gehetzten Blick feststellte. Er stand neben ihm und starrte auf Andys Bein herab – auf sein rechtes Bein. Dort: derselbe Schlamassel wie beim linken.
„Verdammt, was ist das?“, schluchzte Andy. Stocksteif blieb er sitzen, aus Angst, sich bei der kleinsten Bewegung diese grässlichen Zähne in die Haut zu bohren.
Unnütze Vorsicht, die er da walten ließ. Synchron schnappten die Stiefelöffnungen zu. Kreischend sprang Andy auf, die Hände auf die Knie gepresst, aber seine Stiefel, einmal in Fahrt gekommen, wollten nicht mehr von ihm lassen. Wieder und wieder gruben sich die Zähne in sein Fleisch, und während er wie ein Derwisch über den Domplatz kreiselte, spürte er es klebrig-warm an seinen Beinen hinablaufen. Er stieß gegen einen Mann und fiel zu Boden.
„Ausziiieeehnnn!“, brüllte er, aber die Umstehenden zogen es vor, Reißaus zu nehmen und sich erst in einiger Entfernung zur tuschelnden Schadensbegutachtung zu sammeln.
Heulend werkelte Andy Dandy an seinen Stiefeln herum. Sie mussten runter, und wenn es mitsamt seiner Haut sein sollte, das war ihm gleich, nur fort mit diesen Dingern. Er schaffte nicht einen einzigen Millimeter. Die Schäfte zogen sich schraubstockartig zusammen und zerquetschten ihm die Unterschenkel.
Mit diesem Schmerz hatte Andy nicht gerechnet. Er warf sich auf den Rücken und schlug den Hinterkopf aufs Pflaster, einmal, zweimal, und so fort, den alten Schmerz durch diesen neuen zu betäuben. Aber sein Plan ging nicht auf.
Eine Folge von ratschenden Tönen. Obwohl ihm bereits die Sinne schwanden, brachte Andy es fertig, den Kopf zu heben. Seine Hosen lösten sich oberhalb der Knie einmal um seine Beine herum. Ein Flattern ging durch diese Shorts, die Nähte an den Innenseiten der Oberschenkel platzten auf, ein Beuteln und Zerren im Schritt, der Gürtel riss entzwei, dann kroch das von namenlosem Leben erfüllte Hosenstück davon und ließ ihn mit entblößtem Tigerstring zurück.
Sofort machten sich die Stiefel über das freigelegte Terrain her. Pore um Pore hackten sie die Zähne höher ins Beinfleisch ihres Opfers, schlangen das magere Schenkelsteak hinab in ihre hungrigen Mägen. Andys Gebrüll verlor sich in sinnlosem Gewinsel; das Schlangengift lähmte ihn zusehends.
Als eines der Mäuler das schrumpelige Ding zwischen seinen Beinen freilegte und es aus dem behaarten Acker rupfte, war er schon halb drüben. Wenig später, unterm Geschrei der Verbliebenen und dem Rumpeln einer vom Feierabend befüllten Regionalbahn auf der Hohenzollernbrücke, nachdem sein Becken zermalmt war und die Eingeweide in Aufruhr, war es ganz vorbei – ohne eine liebende Seele, die ihm beim Sterben die Hand hielt, so, wie er es sich für den unvermeidlichen Zeitpunkt irgendwann in vielen, vielen Jahren immer gewünscht hatte. Er hustete einfach einen letzten blutigen Seufzer aufs Pflaster seines alten Reviers und verließ für immer die Stadt.
Die Stiefel aber fraßen weiter, bis sie schließlich, am Brustkorb angekommen, übersatt und träge in einen tiefen Verdauungsschlaf fielen.
Dominique Duponts Nummer eins im Kaleidoskop der abscheulichsten Gewaltverbrechen war bislang die Babyleiche im Komposthaufen gewesen, unten im Südviertel, zwei Jahre war das her. Aber dieser Junge hier war nun schon der dritte Fall innerhalb weniger Tage, der sich als würdiger Thronfolger präsentierte. Dankbar registrierte Dupont das dunkle Tuch der Abenddämmerung über dem Domplatz; die Laternenbeleuchtung hüllte die Szene in ein unwirkliches Licht und nahm dem Schreckensbild die Schärfe.
Er stand mit dem Rücken zu den Überresten des Jungen, die sie mit einer Plastikplane abgedeckt hatten. Vor ihm ragten die Sandsteintürme des Kölner Doms knapp 160 Meter in den Himmel. Nach der Grundsteinlegung im Jahr 1248 hatte der Bau viele Generationen kommen und gehen sehen; wegen unzureichender Baufinanzierung war die Kathedrale erst 1880 fertiggestellt worden. Seitdem hatte sie alles überstanden, selbst die nächtlichen Lancaster-Geschwader des British Bomber Command im Jahr 1943; sie würde auch das hier locker überstehen.
Von sich selbst konnte Dominique Dupont das keineswegs behaupten. Müller war es gewesen, der die Plane angelupft hatte, um darunter zu spähen. Der war in diesen Dingen weitaus weniger zimperlich. Dupont hatte es bei einem flüchtigen Hinschauen belassen, aber der kurze Moment hatte ausgereicht, den Buchhalter in seinem Kopf aufs Höchste zu motivieren.
Er ließ seinen Blick über das Karree schweifen, das die Kollegen von der Streife mit flatternden Absperrbändern um den Tatort gebildet hatten. Hinter der Absperrung drängten sich die in lebhafte Debatten vertieften Gaffer, Hüfte an Hüfte, Hintern an Schoß, viele Reihen stark, und über ihre Köpfe hinweg konnte Dupont erkennen, dass immer noch weitere herbeiliefen. Die Neuankömmlinge erhielten umgehend ein Briefing; nach dem Stille-Post-Prinzip mussten die letzten mittlerweile glauben, noch einmal um Haaresbreite am Weltende vorbeigeschrammt zu sein.
Müller kehrte von den Schaulustigen zurück, einen geschniegelten Kraftprotz im Schlepptau, der sorgenvolle Blicke auf die Plane warf. Nach den zahlreichen Schildern auf seiner Kleidung war anzunehmen, dass er Nike hieß.
„Dupont?“
„Hm?“
„Wir haben den Namen des Toten.“
„Und?“
„Andy Dandy.“
„Andy Dandy? So heißt doch keiner.“
„Der schon. Ist, glaub ich, so ’ne Art Künstlername von ihm.“
„Wer hat dir denn den Unsinn verklickert?“
Müller nickte zur hinteren Absperrung rüber. „`ne Frau meinte zu irgend’nem Typ, sie hätt’ immer schon gewusst, dass es mit dem Andy Dandy mal so’n Ende nehmen wird. Ich hab sie gebeten, mit herzukommen, aber sie meinte nur: Bullen, von wegen, und dann ist sie abgehau’n.“
„Du hätt’st sie zurückholen müssen.“
„Zurückholen?“ Müller stülpte die Unterlippe vor und setzte seine einstudierte Ach, Chef, kann ich vielleicht hexen?-Miene auf; ein Gesicht übrigens, das er sehr wohl herbeizaubern konnte, wenn er’s grad brauchte. „In dem Gewühl?“
Müller bedachte ihn mit einem so treuherzigen Blick, dass Dupont für einen Moment erwog, ihn anzuleinen und eine Steuermarke zu besorgen.
„Schon gut, schon gut“, gab er nach und zeigte auf Müllers Begleiter. „Ein Zeuge?“
„Ja, das ist Herr ...“
Der Muskelberg beguckte sich nervös den Boden hinter Dupont.
„Das - ist – Herr ...“, unternahm Müller einen zweiten Versuch und stupste sein gewichtiges Mitbringsel an.
„Was?“ Der Kraftprotz löste seinen Blick vom Boden und staunte Müller mit der Ehrfurcht eines Kindes vor der Polizei an.
„Ihr Name, herrje. Wie heißen Sie?“
„Hellmann, Stefan Hellmann.“
„Der Herr Hauptkommissar hat da ein paar Fragen an Sie.“
„An mich?“, druckste Hellmann herum.
Heilige Einfalt, dachte Dupont.
„Sie haben also etwas beobachtet?“, fragte er bemüht gelassen.
Hellmann tischte ihm eine 1001-Nacht-Erzählung auf, die der Muffgeschichte in puncto Fantasie in nichts nachstand.
„Und dabei bleiben Sie?“, hakte er nach. „Die, äh ... Stiefel?“
„Ich bin doch nich’ bekloppt“, ereiferte sich Hellmann und zeigte an Dupont vorbei auf die Stiefel. „Die waren’s. Das müssen doch noch mehr geseh’n haben.“
Dupont wandte sich um. Ein Beamter der Spurensicherung (gottlob nicht der Zyniker aus dem Baulöwenfall) hielt soeben die Plane hoch, ein anderer machte Fotos von Andy Dandys traurigem Rest. Gleich daneben lagen die blutverschlierten Schlangenlederstiefel des Bedauernswerten. Beide waren in der Mitte zum Zerreißen aufgebläht, als steckten Basketbälle darin; die Stiefelöffnungen ruhten platt auf dem Stein, und Dupont konnte sich nicht helfen: sahen aus, als lächelten sie verträumt. Natürlich war es Unsinn, gleichwohl sah Dupont sich selbst für einen Augenblick mit einem Messer die Schäfte aufschneiden und zwei von Magensäften halbverdaute Fleischklumpen herausschälen.
„Ich bin nich’ bekloppt!“, versicherte Hellmann nochmals.
„Hat ja auch niemand behauptet“, hielt Dupont dagegen.
Aber gedacht, dachte Müller.
„Das war’s dann schon, Herr Hellmann, vielen Dank. Müller, nimm du die Personalien von unserm Herrn Hellmann hier auf und besorg mir weitere Zeugen.“
Müller wandte sich ab, um die Formalitäten mit Hellmann hinter sich zu bringen, aber Dupont zog ihn noch einmal zu sich heran und raunte ihm ins Ohr: „Bring mir einen richtigen Zeugen, ja?“
Müller wollte gerade gehen, als die ersten Schaulustigen zu schreien begannen.
„Was ist denn jetzt los?“, sagte Dupont.
Es war der Moment, in dem sein Weltbild mit der Wucht einer Abrissbirne in Schutt und Asche gelegt wurde.
Obwohl die Gaffer dicht an dicht standen, stoben sie wie ein Schwarm Fische vor einem gefräßigen Räuber auseinander. Ein Räuber war es nicht, der sich da seinen Weg bahnte; es war ein Pelzmantel, ein Silberfuchs, der nach Affenart im Knöchelgang über den Platz eilte. Innerhalb des Karrees, gut zehn Meter von Dupont entfernt, blieb er halten und richtete sich zu ganzer Größe auf; ein Meter dreißig vom leichten Wind zerbauschtes Fell.
„Kneif mich“, keuchte Müller. „Los, kneif mich.“
Dupont kniff bloß die Augen zusammen. Als er sie wieder öffnete, war das Trugbild immer noch da. Das ist nicht möglich, unternahm seine Ratio einen mickrigen Einwand, aber dies Stimmlein ging in seinem hämmernden Puls völlig unter.
Mit nachgerade würdevollem Gleichmut wandte der Silberfuchs seine Kragenöffnung den Schaulustigen zu. In Windeseile war die Menschentraube in Auflösung begriffen. Lärmend bahnte sich die Stampede ihren Weg in die Altstadt, wie Köln es sonst nur vom Karneval kannte.
Dupont, dessen Hirn hastig eine Verstandesschicht nach der anderen beiseite schälte, um nach einer akzeptablen Erklärung für den Spuk zu forschen, fiel auf, wie nahe er doch bei den Schlangenstiefeln stand. Mit drei großen Sätzen sprang er rüber zu Müllers Audi. Hellmann saß bereits im Fond, Müller – käsig bis unter die Arme – stieg soeben ein. Dupont riss die Beifahrertür auf, warf sich auf den Sitz und knallte die Tür zu.
Rechts sah er die beiden Beamten der Spurensicherung in wilder Hatz hinter dem Dom verschwinden. Vor ihm, getrennt nur durch die getönte Windschutzscheibe und ein paar lächerliche Meter, wandte der Silberfuchs sich seelenruhig dem Wagen zu.
„Fahr drüber“, herrschte er Müller an.
Müller spießte das Zündschloss mit dem Schlüssel auf und drehte ihn so heftig, als wollte er eine Spirale daraus drehen.
Der Wagen sprang an.
Müller zerrte den Schalthebel des Automatikgetriebes auf D und gab Gas – Anlass für den pelzigen Aberwitz, seinerseits loszujagen. Kaum rollten die Reifen, da war der Silberfuchs heran und sprang auf die Stoßstange. Er hob den rechten Ärmel, ballte den Stoff zur Faust und ließ sie wie einen Steinschlag auf die Motorhaube dröhnen. Die Schnauze des Audi verneigte sich vor dieser elementaren Gewalt; die Frontschürze schrammte über den Boden, der Wagen wippte zurück, aber da fing er sich auch schon die Linke ein. Mit einem stakkatoartigen twonk twonk twonk prügelte sich der Pelz durchs Blech hindurch, langte in die Eingeweide rein und zauberte aus den wohlgeordneten Kabel- und Leitungssträngen im Nu einen Salat mit einem Dressing aus Öl und Benzin.
Der Wagen ruckte und blieb stehen. Der Silberfuchs stieg von der Stoßstange herunter und verschränkte die Ärmel in Brusthöhe.
„Weiter“, forderte der Kraftpotz auf der Rückbank. „Mensch, fahr’n Sie doch weiter!“
„Klappe!“, blaffte Müller zurück und schlug vor Wut und Angst mit der Hand aufs Lenkrad.
„Fahr weiter“, drängte auch Dupont, obwohl ihm der alberne Gehalt seiner Aufforderung deutlich vor Augen lag. Bei dieser Verheerung hätte es schon einer Christine bedurft, die sich selbst wieder flottmachte.
„Weiter, ja?!“, schnauzte Müller. „Wie denn? Die Karre is’ hin.“
Linkerhand näherten sich vier Streifenpolizisten mit gezogenen Pistolen (was Dupont schmerzhaft daran erinnerte, dass er und Müller aus Bequemlichkeit ihre Waffen niemals trugen). Die beiden Einsatzwagen standen vor den Absperrbändern, zu weit weg, als dass Dupont es auf ein Laufduell mit dem Silberfuchs ankommen lassen wollte.
Den einen Beamten kannte er: Halli, ein netter Kerl mit einer netten Frau und zwei wirklich süßen Mädchen. Beim Skat ein As, sturzbachartige Trinkgewohnheiten, Probleme mit den Bandscheiben.
Halli sagte etwas zu dem Silberfuchs. Absurd, dachte Dupont, was redet der denn mit dem Zeug?
Der Pelzmantel ließ von dem Schrotthaufen ab und schlenderte gemütlich auf Halli zu.
„Mach, dass du wegkommst“, murmelte Dupont. Dann fasste er sich ein Herz und stieg aus. „Lass es, Halli!“
Der beachtete ihn nicht. Konzentriert nahm er den Silberfuchs ins Visier.
„Bleib stehen!“, befahl Halli blödsinnigerweise. Und was dann? Ärmel hoch? Abführen etwa, in Handschellen? Meine Güte, Halli!
„Zum letzten Mal: bleib ...“
Abrupt blieb der Pelzmantel stehen. Vier Ärmellängen trennten ihn jetzt noch von Halli, der sich, ganz wie beim Skat, unentwegt über die Lippen leckte.
In messianischer Manier streckte der Silberfuchs beide Ärmel waagerecht zur Seite aus. Angesichts der Pistolenmündungen ein prahlerischer Gestus, vom Glauben an eine unverwüstliche Natur durchsetzt.
Kaum, dass er so stand, kam auch schon die Gaffermeute zurückgerannt, von der Promenade herauf, aus den Straßen der Altstadt hervor. Zu seiner Rechten bemerkte Dupont die beiden von der Spurensicherung, die herbeiflitzten, als hätte sich gleich hinter dem Dom der Höllenschlund aufgetan.
„Komm rein“, rief Müller ihm aufgeregt zu.
Im nächsten Augenblick saß Dupont im Wagen. Müller verpasste dem Zentralschalter für die Innenverriegelung einen Fausthieb. Klack klack. Dupont dachte an Zellentüren, aber es war allemal besser, hier in diesem Gefängnis zu hocken als draußen in einer verrückt gewordenen Welt.
Halli und seine Kollegen riefen einander etwas zu. Sie drehten sich mal hierhin, mal dorthin, zielten auf alles und jeden, fanden aber kein Ziel in der heranstürmenden Menge.
„Was is’ mit denen?“, fragte der Kraftprotz mit reichlich Vibrato in der Stimme.
„Hältst du jetzt endlich die Klappe?“, schrie Müller nach hinten.
Linkerhand trafen sich die einzelnen Gruppen, stolperten ineinander, formierten sich zu einem einzigen Stoßtrupp, der erst Richtung Domplatzmitte strebte, sich dann aber wieder in zwei Stränge teilte. Niemand wollte dem vom Spektakel ungerührten Silberfuchs zu nahe kommen, aber etwas hinter ihnen hielt sie davon ab, wieder umzukehren.
Werden zusammengetrieben wie die Lämmer auf der Weide, dachte Dupont. Seine Hoden schrumpften Richtung Becken.
Eine Hand klatschte gegen das Seitenfenster. Es war der Beamte, der Andy Dandy fotografiert hatte.
„Lasst mich rein“, greinte er und brachte sein glühendes Gesicht so nah an die Scheibe, dass Dupont ihm geradewegs in den Mund schauen konnte. Das Gaumenzäpfchen zitterte beim Rufen, die Backenzähne waren allesamt mit Amalgam gefüllt – eine winzige Totenglocke über einem Friedhof schwarzer Grabsteine.
Der Fotograf feuerte eine Salve von Backpfeifen gegen die Scheibe los.
„Ich mach nicht auf“, sagte Müller.
„Bloß nicht“, pflichtete ihm der Kraftprotz bei.
Der Fotograf rüttelte am Türgriff.
„Wir hol’n den rein“, bestimmte Dupont.
Müller packte Dupont am Unterarm. „Die Tür bleibt zu!“
Dupont wollte seinem Assistenten eine gepfefferte Erinnerung ans Dienstverhältnis ins Gesicht brüllen, als der Fotograf plötzlich verschwand. Dupont blickte ihm nach, wie er sich nicht weit hinter den Wagen verdrückte; ein Ort, zu dem jetzt alle strebten, nur das Halli-Quartett und der Silberfuchs hielten noch ihre Stellung.
„Sieh dir das an!“, stieß Müller plötzlich heraus.
„Ummmaaahr ...“, machte der Kraftprotz.
Dupont hatte sie längst gesehen. Pelze aller Gattungen, aller Farben und Zuschnitte. Zu Hunderttausenden fluteten sie aus den Straßen und Gassen hervor und überrollten den Domplatz. Die Absperrbänder wurden von der huschenden Masse verschluckt, die Streifenwagen verschwanden unterm Gewimmel der Jacken und Mäntel.
Halli und seine Kollegen feuerten, was die Magazine hergaben; aber wie tötet man etwas, das nie in dieser Form lebendig gewesen war? Die Pelzwoge brandete über sie hinweg. Vier Gestalten kämpften sich unter dem voranwuselnden Teppich hoch, taumelten umher, ohne auch nur an einer einzigen Stelle durchbrechen zu können. Einer nach dem anderen sanken sie nieder in ihrem fellerstickten Todeskampf.
Dupont würgte einen kehligen Laut hervor; ansonsten war es in dem Audi still wie bei einer Messe. Um den Wagen herum: Auferstehungszeugnisse, so weit das Auge reichte, und mitten drin der Erlöser. Jetzt erst, da seine Jünger so vielfältig erschienen, ließ der Silberfuchs die Ärmel sinken. Offenbar gab er unhörbare Anweisungen; aus dem blinden Vorwärtsstreben wurde koordinierte Aktion. Eine Abteilung des Pelzheeres begab sich daran, den Audi und die dahinter zusammengedrängten Menschen in einem großen Kreis einzuschließen. Der andere, weitaus zahlreichere Trupp nahm Kurs auf den Dom.
Hinter der Seitenscheibe, auf der die letzten Schweißflecken der Fotografenhände verdunsteten, nahm Dupont sich aus wie ein Fisch im Aquarium: in stiller Andacht beäugte er das Geschehen, sein Mund ein einziges großes O.
Die Pelzwelle schwappte gegen das Fundament der Kathedrale. Spinnenflink krochen die Jacken und Mäntel die Fassaden hinauf, bedeckten Scheiben und Mauerwerk, erklommen den Dachreiter, und schließlich – Dupont presste sein Gesicht an die Scheibe, um so weit hinaufblicken zu können – usurpierten sie die Spitzen der beiden Türme. Das musste der Kindheitstraum des Verhüllungsschamanen Christo sein: der Dom in Plüsch.
Unterdessen huschten zwei Pelzmäntel zum Audi herüber, der eine ein Kanin mit topmodernem Swingerschnitt, der andere ein Zobel. Während das Kanin am hinteren Türgriff rappelte und Hellmann damit in ein kreischendes Nervenwrack verwandelte, starrte der Zobel durch Duponts Seitenscheibe herein. Dupont verkrampfte sich zu einer lebensgroßen Muskelkontraktion. Er registrierte die ausgefransten Nähte in der zauseligen Kragenöffnung; jemand hatte das Innenfutter herausgerissen, und Dupont hatte nicht den geringsten Zweifel, dass es der Pelz höchselbst gewesen war. Ein kleiner Fetzen vom Namensschild hing noch fest, die Buchstaben der Marke zu einem Pra verstümmelt.
„Ich geh da nich’ raus“, flennte Hellmann und zog den Rotz hoch.
Ich auch nicht, stimmte Dupont ihm im Stillen zu, aber der Zobel beließ es nicht bei seinem Gestarre. Ein rechter Schwinger landete auf der Seitenscheibe.
Duponts Widerstand verpuffte. Er brauchte sich bloß den grotesken Gewaltakt des Silberfuchses an der Motorhaube vor Augen zu führen. Das Sicherheitsglas der Seitenscheibe war ein Witz; für den Zobel so unüberwindlich wie ein Gazevorhang.
Dupont hatte es immer für eine blödsinnige Metapher gehalten, aber seine Zähne klapperten tatsächlich wie ein Nussknacker im Akkord. Fühlte sich so eine Todesahnung an? Bedeuteten Herzrasen und ein Sichverknoten im Gedärm: dies ist dein letzter Gang?
Unter Müllers heftigstem Einspruch drückte Dupont die Tür auf. Ein für die Jahreszeit viel zu mildes Lüftchen kühlte ihm das klatschnasse Gesicht. Der Pelz schlackerte ihm mit den Ärmeln eine unmissverständliche Botschaft zu: Komm da raus! Die Beine flüssig vor Angst, lehnte Dupont sich gegen den Türholm und blickte auf den Zobel hinab. Der hielt nicht viel vom Ausruhen und scheuchte Dupont in die Menschenmenge hinter dem Audi. Und da kamen auch schon, vom Kanin getrieben, Müller und Hellmann, sich gegenseitig stützend.
Um nicht schreiend davonzulaufen (und er war so nah dran, auch wenn er nicht die geringste Chance hatte, die Pelzphalanx zu durchbrechen), flüchtete Dupont sich in mathematische Überlegungen. Wie viele Pelze mochte es ihn Köln geben? Hundert, tausend, zehntausend gar? Mit Sicherheit nicht Hunderttausende. Woher kamen die dann alle? Waren es Pilger auf der Hadsch, die Kathedrale ihre Kaaba?
Und jetzt, da sich eine zarte Membran aus Fassung über sein ramponiertes Nervenkostüm legte, drängte sich ihm noch eine ganz andere Frage auf: wo blieb die Verstärkung? Was war mit dem Scheiß-Tatütata der Kollegen? Wann kam die rotorbewehrte Kavallerie?
Von Halli und seinen Kollegen war Hilfe nicht mehr einzufordern. Sie lagen auf dem Pflaster, Gliedmaßen und Wirbel vielfach gebrochen, ineinander verschlungen und verknäult, eine totenstarre Bewerbung für den Chinesischen Staatszirkus.
Das Pelzheer wandte sich geschlossen einer Richtung zu. Selbst der Messias nahm eine gespannte Haltung an. Mäntel und Jacken rückten zusammen und bildeten eine Gasse, durch die, von der Westfassade her kommend, ein Linienbus in langsamer Fahrt auf den Domplatz fuhr, den die haarige Meute mit einem Ärmelschwingen enthusiastisch willkommen hieß.
Es überraschte Dupont nicht, dass hinter dem Steuer ein Pelzmantel hockte. Auf den Sitzplätzen kauerten Frauen, von der Busbeleuchtung trennscharf aus dem Abenddunkel geschnitten. Sie alle trugen Pelze.
Der Bus hielt in der Mitte des Domplatzes neben dem Silberfuchs; zischend glitt die Doppeltür beim Fahrer auf. Mit hölzernen Bewegungen erhoben sich die Frauen und staksten zur Tür hinaus. Er begriff intuitiv, was da vor sich ging: die silbergrauen, gepunkteten Pelze führten ihre Damen aus. Eine allerdings trug ein schneeweißes Fell, und als er das verstörte Gesicht betrachtete, erkannte Dupont sie sofort. Es war Karin Dormeier, Gattin und Statussymbol des Automobilimporteurs Manfred Dormeier, ehemals ein guter Freund von Krümel Katzenbach. Die Frau, die Dupont den Muff hatte schmackhaft machen wollen.
Mit angehaltenem Atem beobachtete er, wie die Fahrgäste ihre Pelze abstreiften, nur dass es natürlich andersherum lief: die Pelze streiften ihre Damen ab und huschten wieder in den Bus.
Die Frauen, nackt bis auf die Haut, drängten sich zusammen. Karin Dormeier gab sich alle Mühe, mit ihren zierlichen Händen die prallen Brüste vor etwaigen Spannerblicken zu verbergen, aber der Chirurg hatte zu viel Silikon hineingestopft.
Die Pelze, angeführt vom Weißfell, kamen aus dem Bus zurück. In ihren Ärmeln schwangen sie Eisenstangen, die am Ende mit einem langen Haken bestückt waren. Hakapiks, erinnerte sich Dupont an den Fachbegriff für die Totschlaginstrumente, und mit einem Mal wusste er, worauf die Sache hier hinauslief.
Vor drei Wochen hatte er einen Fernsehbericht über die bevorstehende Robbenjagdsaison (von den Jägern euphemistisch Robbenernte genannt) in Kanada gesehen. Die kanadische Regierung hatte die diesjährige Fangquote auf 270.000 festgesetzt. Sie hatten Bilder gebracht von weißbefellten Robbenbabys, den Whitecoats; Bilder von Robbenbabys, die nach knapp zwei Wochen ihr weißes Fell durch ein silbergraues, gepunktetes ersetzten, sogenannte Beater; Bilder von Männern mit Hakapiks und Gewehren zwischen klagenden Robbenkindern, die sich noch vor Qualen wanden, als das aus ihren klaffenden Schädeln rinnende Blut schon auf dem Eis gefror.
Der Silberfuchs gab dem Whitecoat ein Zeichen. Der Whitecoat schlug zu. Zwei rasche Hiebe mit dem Hakapik, und Karin Dormeier krümmte sich mit zertrümmerten Knien auf dem Pflaster. Die Beater folgten dem Beispiel ihres Anführers. Sie prügelten ihren Damen die Knie zu Klump, bis diese sich unter gellenden Schreien auf dem Boden wanden.
In Duponts Gruppe schrie niemand. Die meisten hatten sich weggedreht, weinend, schluchzend, auf Gebetsfetzen kauend. In einiger Entfernung bemerkte er Müller und den Kraftprotz; offenkundig hatten sie ihren Zwist beigelegt, denn sie hielten sich bei den Händen und brabbelten einander Mut zu.
Einer der Beater stellte sich in windzerflauschter Glorie vor seine Dame, nahm Maß und ließ den Hakapik mit der flachen Seite voran in weitem Schwung auf den Kopf hinabsausen. Das Bersten der Schädeldecke kontrapunktierte das stille Handwerk des Schlächters. Die Frau bäumte sich auf und kippte mit gespaltenem Scheitel tot zur Seite. Der Beater drehte den Hakapik so, dass der Eisenhaken nach unten zeigte; mit einem Schlag trieb er die Spitze durchs Wangenfleisch tief in den Kopf der Toten und schleifte sie zur Flanke des Busses hinüber.
Die nackten Damen robbten heulend auseinander, die knieabwärts nutzlos gewordenen Beine hinter sich herziehend. Einige schlegelten blindlings mit den Armen um sich, andere verlegten sich aufs Manöverkriechen, aber sie alle kamen nicht weit.
Die Beater zogen einen kleinen Kreis um die Kriechenden und hoben die Hakapiks hoch über ihre Krägen an. Ganz taub für die kakophonische Bettelei in ihrer Mitte prügelten sie auf die Köpfe der Damen ein. Hätte jemand in diesem Moment Dupont bedrängt, diese Untat mit Begriffen diesseits der menschlichen Vorstellungskraft zu umschreiben, ihm wäre nur das Bild emsiger Korndrescher in den Sinn gekommen.
Nicht alle Beater beherrschten ihr Handwerk so virtuos wie der erste. Manch Stümper unter ihnen musste mehrmals zuschlagen, und selbst dann verblieb noch ein kümmerlicher Rest Leben in den Geschlagenen. Gleichwohl ließen sie die Hakapiks fallen, zogen Messer aus verborgenen Falten hervor und begaben sich daran, ihre Damen zu häuten.
Als letzte war Karin Dormeier an der Reihe. Sie hatte sich auf den Händen abgestützt und sah zu dem Whitecoat auf. War ihre Haltung ungebrochener Kampfeswille oder Demutsbekundung in der Hoffnung, verschont zu bleiben?
Der Whitecoat schien die Amnestie in Erwägung zu ziehen, denn er wandte sich ab - aber er tat es nur, um Schwung zu holen. Die Wucht des Hiebes schmetterte Karin Dormeier mit Brust und Kinn zurück auf den Boden. Der Whitecoat warf den Hakapik zur Seite, griff nach seinem Messer und stach in die Haut zwischen den Schulterblättern. Karin Dormeiers linker Arm zuckte, ihre Hand beklatschte den Boden, ein letztes Winken zum Abschied.
Um Himmels willen, dachte Dupont, lass es bloß einen Reflex sein, lass sie bitte, bitte nicht mehr am Leben sein.
Mit einer fließenden Bewegung durchtrennte der Whitecoat die Haut bis hinab zum Spalt der Hinterbacken; entlang des Schnitts klaffte das Gewebe auf und gab die Fettschicht und das Muskelfleisch darunter frei. Als das Messer die Lendenregion erreichte, ruckte Karin Dormeiers Kopf hoch. Unterhalb der Nase hing nur noch ein tropfender Pamps; Kiefer, Lippen und Zähne, nachhaltig zermalmt, klebten mitsamt der Zunge an der Gaumenplatte fest. Ihr Blick suchte Dupont (jedenfalls hätte er dafür seine Hand auf die Bibel gelegt). Auge in Auge mit der Todgeweihten löste sich der Bann, der ihn umfangen hielt. Er spürte, wie ihm das Fast Food gallenbitter hochkam.
Diese Augen! Fast schwarz im Abenddunkel. Die gleichen Klageaugen, die ihn vor drei Wochen aus dem Fernseher angestarrt hatten.
Dupont bekotzte seine ausgelatschten Budapester.
Geschubse und Gedränge um ihn herum. Leute schrien, jemand stolperte an ihm vorbei. Über sein Würgen hinweg hörte er das flatternde Säuseln unzähliger Pelzärmel.
Ein Schlag traf ihn am Hinterkopf.
Das kann doch nicht mein Ende sein, dachte Dupont noch.
Dann folgte er dem Erbrochenen nach.
Dupont erwachte mit einem Betonmischer im Kopf, polterdipolter, immer rundherum. Dämmerlicht fiel ihm in die verklebten Augen, er sah die Welt in einem verschwommenen Karomuster. Und Durst hatte er, solchen Durst – seine Zunge schien in Pelz gehüllt.
Das Wort ließ etwas in ihm anklingen.
Pelz. Mein Gott, ja: der Dom, die Mäntel, die Frauen.
Sein Blick klarte auf. Daher kam also das Karomuster: von dem Gitter, das ihn, wie er bestürzt feststellte, von allen Seiten umgab. Er lag in einem Käfig, splitternackt, die schmerzenden Beine in dem zu klein bemessenen Gefängnis leicht angewinkelt.
Ein klaustrophobischer Schub beutelte ihn durch.
„Dupont?“
Eine Reibeisenstimme. Woher kam die?
Er nahm seine Umgebung in näheren Augenschein. Gleich neben ihm, in einem weiteren Käfig, lag Müller, ein entblättertes hohlwangiges Gespenst mit purpurfarben schillernden Augenringen und spröden Lippen. Von der Hüfte seines Assistenten fauchte ihn ein tätowierter Löwenkopf an – Müller, der Augustgeborene.
„Müller?“ Diese Schmerzen beim Reden; der Hals wollte ihm zerspringen.
„Dupont. Endlich!“
Was sollte das denn heißen: endlich?
„Wo sind wir?“
„Lagerhaus“, krächzte Müller. „Am Rhein.“
„Seit wann?“
„Zwei Tage.“
„Zwei Tage?“
Dupont presste seine Wange ans Gitter und holte tief Luft. Das konnte nicht sein. Er lag doch unmöglich schon seit zwei Tagen ...
Müller nickte mit ausdruckslosem Blick zur Käfigtür hinaus. „Die sind da unten.“
Dupont spähte nach vorn aus dem Käfig. Links und rechts erstreckte sich ein langer Gang, nur vom durch schmutzverkrustete Fenster sickernden Tageslicht erhellt. Die Enden des Ganges konnte er nicht einsehen, und sollten sich die Pelze tatsächlich irgendwo in dieser Halle befinden, so ließen sie jedenfalls kein Härchen von sich blicken.
Auf der anderen Seite des Ganges stapelten sich ebenfalls Reihen von Käfigen bis unters Dach hinauf. Manche waren leer, in den meisten aber lagen Menschen, nackt und reglos, und nur ein vereinzeltes Stöhnen hier und da ließ erkennen, dass überhaupt noch Leben in ihnen war. Dupont zählte von dem ihm horizontal gegenüberliegenden Käfig abwärts und kam zu dem Schluss, dass er selbst in der fünften Reihe kaserniert war.
Im Stockwerk über ihm lag eine ältere Frau. Sie hielt die Augen geschlossen, und hätten sich nicht ihre Nasenflügel leise bewegt, er hätte sie für tot gehalten. Ihre Brüste lagen platt auf dem Käfigboden auf, das Muster der Gitterstäbe tief in die Haut gefurcht. Eine Brustwarze lugte vorwitzig zu ihm hindurch. Ach, dachte sein ausgedörrter Verstand wehmütig, wenn diese Zitze doch Milch gäbe.
Ein nasses Klatschen schallte durch die Halle. Dupont suchte den Gang in beide Richtungen ab, aber die Quelle des Geräuschs war von seinem Punkt aus nicht auszumachen.
Erneut dies nasse Klatschen.
Müller schien es zu kennen; unruhig wippte sein Kopf auf und ab.
„Ich will hier raus“, wimmerte er.
„Wir komm’ schon raus“, sagte Dupont, mehr um sich selbst Mut zu machen. „Zwei Tage, Müller, überleg doch mal. Die suchen überall nach uns. Die sind bestimmt schon ganz nah dran.“
Müller schniefte. „Is’ mir egal. Hörst du? Ganz egal. Ich kann nich’ mehr. Ich hab so Durst. Kannste dir das vorstellen? Was ich für’n schlimmen Durst hab?“ Er krallte seine Finger in das Gitter und rüttelte daran. „Ich will raus hier!“
Dupont legte den Zeigefinger auf die Lippen. „Schschsch.“
„Sie hol’n uns ja doch“, jammerte Müller.
„Lass das!“
„Ein’ nach dem andern hol’n sie raus“, schrie Müller. Seine matte Schicksalsergebenheit wich dem Irrsinn. Nicht allmählich; von jetzt auf gleich flippte er völlig aus. „Dann holt mich doch!“, brüllte er, während er sich die Stirn am Gitter blutig schlug. „Kommt schon. Holt mich. Dass ihr’s nur wisst: Ich hab keine Angst. Vor euch schon gar nich’. Ich hau euch die Fresse ein!“ Er lachte plötzlich, ein wildes, meckerndes Lachen. „Ihr habt ja nich’ mal ’ne Fresse, ihr Scheißdecken. Wo bleibt’n ihr? Kommt schon her, dass ich’s euch geben kann, na los doch.“
Eine Bewegung unten im Gang. Dupont blickte hinab. Zwei pelzige Aufseher huschten herbei. Unkontrolliert leerte sich seine Blase; er pisste dem Herrn im Stockwerk drunter auf die Glatze. Viel war es nicht, was da noch kam.
Geschmeidig kletterten die Mäntel die Gitterstäbe hoch, schlossen Müllers Käfig auf und zerrten den Rasenden heraus. Sie ließen ihn einfach kopfüber fallen und sprangen hinterher. Unten wälzte sich Müller auf den Rücken; beim Sturz hatte er sich den rechten Arm ausgekugelt.
„Ihr bekackten Mäntel“, schrie er, wild nach den stummen Wärtern auskeilend.
Ein dritter Pelz kam herbei. Er trug eine Axt. Dupont schloss die Augen. Drei, vier knirschende Hiebe, dann war es still.
Unmöglich für Dupont zu sagen, wie viel Zeit vergangen war. Eine Stunde? Fünf Stunden? Ein weiterer Tag? Er hatte dagelegen (geschlafen?) und es nicht gewagt, die Augen zu öffnen. Wiederholt hatte er das Quietschen einer Käfigtür gehört, das flehentliche Gestammel der Gefangenen, wenn die Pelze sie holen kamen.
Und immer wieder dieses nasse Klatschen.
Als sie Dupont schließlich holten, empfand er seltsamerweise so etwas wie Erleichterung. Wenn sein Schicksal unabwendbar war, warum es dann hinauszögern? Welchen Sinn konnte es haben, die Wärter um eine Verlängerung seiner Gefängnisqualen anzubetteln?
Er kroch aus seinem Käfig und stieg – mit flammenden Gliedern, die nicht die seinen zu sein schienen – die angelehnte Leiter hinab, eine Bequemlichkeit, die anscheinend nur fügsamen Gefangenen gewährt wurde. Als seine Füße den Boden berührten, erfasste ihn ein brausender Schwindel. Er taumelte, und nur die Fürsorglichkeit der beiden Wärter, die ihn packten, bewahrte ihn vor dem Sturz.
Die Mäntel eskortierten Dupont zum Ende des Ganges, beobachtet von hunderten aufgestapelten Angstgesichtern hinter Gittern. Zu beiden Gangseiten waren lange Reihen von Spannvorrichtungen aufgestellt, darin Menschenhäute zum Trocknen aufgehängt, das Bindehautgewebe sauber fortgeschabt. Vor dem schweren Rolltor stand eine Werkbank mit einem auf dem Rücken liegenden Toten darauf. Eine fleißige Pelzschar, auf Schemeln stehend, schälte ihn soeben aus der Haut.
Die Art seines Todes bis ins letzte grausige Detail vor Augen, suchte Duponts Verstand Zuflucht an einem Ort jenseits der Angst. Friedlich war es hier, auf einen Schlag. Sein Durst, war er nicht bedeutungslos? Wie durstig mussten da erst die armen Mäntel sein, die so eifrig schufteten, ohne je einen Schluck zu sich nehmen zu können.
Dumpf erinnerte Dupont sich an etwas aus seinem alten Leben, ein Sprichwort, das er so häufig gebraucht hatte: Ich könnt’ glatt aus der Haut fahren. Mein Gott, so passend war der Spruch ja noch nie gewesen. Aus der Haut fahren, hahaha, das war gut, richtig gut. Er klatschte in die Hände und lachte, bis ihm die Tränen kamen.
Die Pelze nahmen unterdessen das nässende Innere des Toten und warfen es achtlos zur Seite, wo es klatschend auf den Boden fiel.
So gebt doch acht, dachte Dupont tadelnd, ihr tut ihm ja weh.
Ein alter Bekannter kam herbei. Der Silberfuchs. Dupont schaute auf den Mantel herab, der sich wie ein siegreicher Feldherr vor ihm aufbaute. Ganz ein flauschiger Napoleon, der Kleine. Dupont kicherte und erlaubte sich im Gedenken an seine französischen Wurzeln einen Scherz. Er schob seine Rechte in einen imaginären Westenausschnitt, schlug die nackten Fersen salutierend zusammen und stimmte die Marseillaise an.
Allons enfants de la Patrie,
Le jour de gloire est arrivé!
Contre nous de la tyrannie,
L’étendard sanglant est levé.
Entendez-vous dans les campagnes
Mugir ces féroces soldats?
Ils viennent jusque dans vos bras
Egorger vos fils, vos compagnes.
(Auf, Kinder des Vaterlands!
Der Tag des Ruhms ist da.
Gegen uns wurde der Tyrannei
Blutiges Banner erhoben.
Hört Ihr im Land
Das Brüllen der grausamen Krieger?
Sie rücken uns auf den Leib,
Eure Söhne, Eure Frauen zu köpfen!)
Der Silberfuchs hatte für die Mätzchen des Irren nicht viel übrig. Er zerrte Dupont unterm Singen zu einer Rollgarderobe neben dem Tor. Mit einem Ärmel streifte er über die auf Bügeln sauber aufgereihten Menschenhäute, zog mehrere hervor, schätzte Duponts Maße ab und entschied sich für ein Modell mit weitem Kragen.
Kichernd streifte Dupont die Jacke über, die an der Hüfte eine hübsche Finesse aufwies: einen tätowierten fauchenden Löwenkopf.
„Ach, hier bist du“, sagte er. Dieser Müller. Verdrückte sich dauernd.
Der Silberfuchs huschte zur Seite und betätigte den Schalter des Rolltors. Ratternd schoben sich die Lamellen nach oben. Zwei Pelze packten Dupont und schubsten ihn ins Freie. Er fiel auf die Knie, rappelte sich wieder auf und hielt sich vor Lachen die Hände auf den Bauch. Urkomisch, das Ganze. Wirklich, ein fantastischer Jux.
Als er bis zur Ecke der Lagerhalle gewankt war, drehte er sich noch einmal um. Da standen sie vor dem Tor, all seine Pelzfreunde, mit verschränkten Ärmeln. Er winkte ihnen und ging durchs Hafengebiet bis hoch zur Straße.
Die Bürgersteige waren menschenleer, kein Auto weit und breit.
„Is’ hier jemand?“, rief Dupont. „Hallo? Haaalllooo!“
Am Ende der Straße trat ein Mann aus einem Hauseingang.
„Sie da, he!“
Der Mann kam näher, langsam, lauernd.
„Ja, sagen Sie mal, wo sind denn alle hin?“
Der Mann blieb stehen. Mit weit aufgerissenen Augen starrte er auf den Nackten mit der Jacke. Dann sagte er „Noch so einer“, machte auf dem Absatz kehrt und lief schreiend davon.
„Ich wollt’ Sie ja nich’ verhaften“, rief Dupont ihm nach.
Er trat vor das Schaufenster eines verwaisten Friseursalons und betrachtete sein Spiegelbild. Also, das musste man denen lassen: 1a Qualität. Als hätte man’s ihm auf den Leib geschneidert. Was wohl Sabine zu der schönen Jacke sagen würde?
Er schlenderte die Straße hinunter. Erst mal wollte er etwas trinken. Himmel, was hatte er einen Mordsdurst.
Hinter ihm ertönte das Heulen einer Polizeisirene. Dupont schaute zurück und sah einen Streifenwagen, der mit quietschenden Reifen nicht weit von ihm zum Stehen kam.
„Müller?“, sagte er und strich mit den Händen über die Jacke. „He, Müller?“
Müller gab keine Antwort. Das war so seine Art: hing den ganzen Tag rum.
Die Streifenbeamten sprangen mit gezogenen Pistolen aus dem Wagen.
Bedächtig malte Dupont mit dem Zeigefinger die Konturen des Löwenkopfs nach.
„Siehste Müller, hab ich’s dir nicht gesagt, die finden uns? Hätt’st dich gar nicht so aufregen müssen.“
„Keine Bewegung“, schrie einer der Beamten. „Mach ja keinen falschen Mucks.“
„Was habt’n ihr?“, sagte Dupont. „Wir sind’s doch. Der Müller und der Dupont.“
Die Polizisten packten ihn und verfrachteten ihn unsanft in den Fond des Streifenwagens.
„Wann hört das endlich auf?“, sagte der eine Beamte zum anderen, als sie losfuhren. „Sag mir: wann hört dieser Wahnsinn endlich auf? Wie viele denn noch?“
Dupont patschte mit der Hand gegen das Trenngitter hinter den Vordersitzen. „Habt ihr vielleicht was zu trinken dabei? Wir könnten ’nen Schluck brauchen.“
Der Polizist auf dem Beifahrersitz fuhr herum. „Du kranker Mistkerl kannst noch was ganz anderes brauchen. Noch ein Wort von dir!“
Dupont lehnte sich zurück und seufzte. „Was hab ich dir immer gesagt, Müller? Manche kommen mit dem Job einfach nicht klar.“
Draußen huschte die Welt an ihm vorbei, eine Welt aus eingeschlagenen Scheiben, zerstörten Autos, Polizeiaufgeboten, Militär, Rettungstransportern und Leichenwagen allerorten.
Dupont dachte an den Pelznapoleon und dessen stumme Schneider, wie sie sich in der Lagerhalle an den neuesten Schnittmustern abmühten, ohne auch nur einmal auf ein Schwätzchen innehalten zu können.
„Das solltet ihr seh’n, mon amis“, wisperte er, „das wär was für euch. Mal raus aus dem Trott.“ Und mit einem anerkennenden Klopfen auf seine Jacke fügte er an: „Merci beaucoup.“
Dann lehnte er sich zurück und pfiff die Marseillaise.