Jeden Morgen, 10 Uhr 00
Seit über vierzig Jahren hängt die Pendeluhr an derselben Stelle im Wohnzimmer. Hier scheint die Zeit stillzustehen, der Hektik rund um dieses Haus ist nichts anzumerken.
Der grosse Zeiger bewegt sich langsam aber gewollt vorwärts. In die Stille hinein hört man das Schlagen der Uhr. Genau zehn Mal. Dann herrscht wieder Stille.
Ich höre sie wieder, diese eine Melodie. Es sind die Klänge, die mein Leben prägten, die mich zu dem machten, was ich heute bin. Die mir immer und immer wieder durch den Kopf gehen. Ich versuche mich zu wehren, doch die Erinnerung, diese schmerzhaften Gedanken kommen mir wieder in den Sinn.
Immer deutlicher sehe ich das Bild vor mir, meine Gedanken schwirren wirr durcheinander. Von weit her höre ich das Holpern einer Kutsche. Noch ein letztes Mal versuche ich mich zu wehren, gegen mich selber zu kämpfen, gegen meine Erinnerungen, meine Gedanken.
Immer klarer sehe ich diese Geschichte, meine Lebensgeschichte.
Voller Freude rannte ich aus der Stadt hinaus, zu unserem kleinen Häuschen. Die Kornfelder waren gelbbraun gefärbt und die Herbstblätter an den Bäumen verzauberten die ganze Landschaft, hüllten sie ein in ein leuchtendes goldenes Schimmern. Und da, mitten in dieser zauberhaften Welt, stand unser kleines Häuschen.
Immer noch ungläubig erzählte ich meiner Frau was geschehen war. Es war einer der letzten Tage, an denen wir gemeinsam glücklich waren.
Der Tag begann eigentlich wie jeder andere auch. Am Morgen machte ich mich auf den Weg zum Marktplatz, nahm die alte Geige aus dem Kasten und begann zu spielen. Jeden Tag stand ich an derselben Stelle auf dem Marktplatz und versuchte mit meiner Musik ein wenig Geld zu verdienen, um mich und meine Frau ernähren zu können. Sie war eine gute Frau, ich liebte sie über alles. Wir führten eine glückliche Ehe, auch wenn wir uns kaum etwas leisten konnten. Heute wünsche ich, ich hätte diese Chance nie bekommen, diese Chance, die mein Leben veränderte.
Der Marktplatz war voll von Menschen, doch kaum einer interessierte sich für mich und meine Musik. Doch wenn ich Geige spielte, war ich in einer andern Welt, ich nahm nichts von meiner Umgebung war, ich war frei!
Wie auch an diesem Morgen begann ich oft die Melodien, die ich auswendig kannte, abzuändern. Ich begann zu improvisieren.
Während ich spielte bemerkte ich einen Mann, dem Anschein nach war er sehr reich. Er hörte mir über einer Stunde zu, es schien, als würde er mich beobachten. Als es Abend wurde, kam er auf mich zu, und sprach mit mir.
Seit diesem Tag sind Wochen vergangen, Wochen, in denen die Hoffnung auf ein besseres Leben immer mehr schwand.
Wir sorgten uns, wie es weitergehen sollte, während wir eng aneinander geschmiegt um den heissen Ofen sassen.
Grosse Schneeflocken tanzten im Wind um unser Haus, es schien, als wollten sie uns aufmuntern, als wollten sie uns an das Versprechen des Mannes erinnern.
Doch wir hatten die Hoffnung auf ein besseres Leben schon aufgegeben, glaubten nicht mehr daran.
Draussen hörten wir Schritte, jemand klopfte an die schwere Holztüre.
Er hat sein Versprechen doch gehalten, heute Abend sollte es soweit sein. Mit pochendem Herzen betrat ich die Bühne. Obwohl noch andere Musiker mit mir spielten, fühlte ich mich, als würden alle nur darauf warten, bis ich meinen Geigenbogen an die Saiten legte und den ersten Ton spielte. Zuvor durfte ich noch nie in solch einem grossen Saal, mit andern Künstlern zusammen spielen.
Von nun an lief in meinem beruflichen Leben alles besser. Ich verdiente so viel, dass wir uns eine Wohnung mitten im Stadtzentrum leisten konnten.
Fast jeden Abend gab ich Konzerte und kam spät nach Hause. Meist schlief meine Frau schon, und morgens stand ich früh auf, bevor sie wach war, um meine neuen Freunde zu treffen.
Ich weis nicht genau, wann es begann, doch eines abends, als ich früher nach Hause kam sah ich meine Frau weinend auf der Bettkante sitzen. Natürlich wusste ich, weshalb sie weinte, doch ich wollte es nicht wahrhaben. Nicht jetzt, als ich schon über ein Jahr einen solch guten Beruf hatte. Sie sagte, sie fühle sich vernachlässigt, dass ich nur noch Zeit mit der Musik und meinen neuen Freunden verbringen würde. Ich schrie sie an, sagte, sie solle sich für mich freuen. Nie wieder müsse sie hungern, nie wieder sich Sorgen machen. Sie starrte mich an, mit einem durchdringenden, kühlen Blick, langsam wischte sie sich die Tränen aus den Augen, sie schien so leblos, mit ihrem fast eingefroren wirkenden Blick, ihren roten Bäckchen, mit immer demselben Lächeln auf den Mundwinkeln. Doch heute war dieses Lächeln von ihrem Gesicht verschwunden.
Nie wieder würde ich ihr Lachen, ihre sanfte Stimme hören.
Es vergingen noch einige schweigsame Tage.
Oft kam ich über Nacht gar nicht mehr nach Hause, für mich zählte nur noch der Erfolg. Ich komponierte neue Lieder, gab Konzerte, und merkte noch immer nicht, wie sich der Zustand meiner Frau mehr und mehr verschlechterte.
Eines abends, als ich nach Hause kam, rief ich ihren Namen. Meine Stimme hallte zwischen der Türe und der eisigen Zimmerwand, verlor sich im Dunkeln des Raumes. Eine beinahe unheimliche Stille lag in der Wohnung. Nichts bewegte sich, einzig das flackernde Licht der Kerze auf dem Küchentisch.
Ich nahm den Brief, welcher da lag, las ihn, ich las ihn ein zweites Mal, ein drittes Mal. Ich konnte nicht glauben, was da stand. Sie war weg, und ich wusste, dass sie nie wieder zurückkehren würde.
Ein stechender Schmerz durchdrang mich. Ich rang nach Luft und hörte die Kirchturmuhr schlagen. Genau zehn mal. So schnell ich konnte, rannte ich zu unserem alten Häuschen. Es stand noch genauso da, wie wir es verlassen haben.
Eine Träne rollte mir über die Wangen und fiel auf den Boden.
Seither verlasse ich das Haus nur noch selten, denn ich schwor mir, nie wieder Musik zu machen.
Dieses Versprechen habe ich bis heute gehalten und nun ist es schon 40 Jahre her, seit das geschehen ist.
Ich lasse mich zurück in den Sessel fallen. Eine zweite Träne rollt hinunter, es ist 10 Uhr 01.