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Jeden Tag Eintopf
Ich hänge hier fest. Anscheinend habe ich voll in den Pechtopf gegriffen. Dabei fing alles so gut an. Endlich konnte ich mich von dem Arbeitsstreß eines ganzen Jahres erholen. Meine drei Wochen Urlaub wollte ich in aller Ruhe beginnen. Ein Ziel hatte ich mir nicht gesetzt, sondern ich fuhr gemütlich auf Nebenstraßen gen Süden. Irgendwann wusste ich nicht mehr, wo ich mich befand. Schier endlose Wälder begleiteten mich, die Straße wurde immer schmäler und der Asphalt wies immer größere Löcher auf. Aber die Straße wurde noch schlechter, ich mußte meinen Wagen über sehr holperiges Kopfsteipflaster lenken. Die Federn quietschten, der Wagen sprang auf und ab. Plötzlich fing der Motor an, auszusetzen und ich konnte den Wagen gerade noch auf einen kleinen Weg lenken. Der Motor ging aus und ließ sich nicht mehr starten. Am Weg stand ein verwittertes Schild "Gasthaus Waldquelle" mit einem Pfeil, der in den Wald zeigte. Ich versuchte den Pannendienst anzurufen, aber mein Handy hatte kein Netz. Ich stand noch eine ganze Weile am Straßenrand, aber Autos fuhren hier wohl nicht. Also machte ich mich auf den Weg zum Gasthaus.
Und hier sitze ich nun. Wie lange? Seit einer Woche oder sind es schon zwei oder sogar drei Wochen? Ich streiche über meine Bartstoppeln, die sich zu einem Vollbart auswachsen und frage mich, warum ich es nicht fertigbringe, irgendetwas zu unternehmen. Die wenigen Hemden aus meinem Handkoffer sind zerknittert und fleckig von dem Eintopf. Zwei Koffer mit frischem Zeug zum Anziehen liegen im Auto, aber ich fühle mich in der Ruhe und Abgeschiedenheit wohl und kann mich nicht aufraffen, das Gasthaus zu verlassen und die Koffer zu holen.
Die griesgrämige Wirtin schlurft aus der Küche. Ihr Kopftuch ist vielleicht einmal weiß gewesen. Ihr Gesicht ist ebenso zerknittert wie ihre formlose Kleidung. Ob sie tatsächlich so alt ist, wie sie aussieht?
Wenn sie aus der Küche kommt, sehe ich dort eine noch ältere Frau sitzen. Ganz gekrümmt sitzt sie vor dem Küchentisch und schneidet mit einem großen Messer Gemüse für den nächsten Eintopf.
Es ist recht dunkel hier und ich kann nicht viel erkennen. Die Fensterläden sind zwar offen, aber Licht fällt nicht durch die Fenster. Vielleicht sind sie zu schmutzig, aber ich glaube, der Wald um das Gasthaus herum ist so dicht, dass die Sonne nicht durchkommt. Wenn die Sonne überhaupt scheint. Ob es Tag oder Nacht ist, kann ich nicht feststellen. Nirgendwo hängt eine Uhr, meine Armbanduhr ist seit langem stehengeblieben und der Handyakku ist auch leer. Strom gibt es hier nicht, die Gaststube wird von dem Feuer im Kamin ein wenig erhellt. Obwohl ich mein Handy nicht benutzen kann, fühle ich mich nicht hilflos. Ja, ich bin sogar froh, dass mich niemand anrufen und nerven kann. Um nichts muß ich mich kümmern und keine Entscheidungen fällen. Stattdessen kann ich mich ganz entspannt zurücklehnen und diesen Urlaub genießen.
Mein Tageslauf ist recht einfach, aber bisher erscheint er mir nicht eintönig. Wenn ich aufgestanden bin, vielleicht ist es dann ja Morgen, und in die Gaststube gehe, stehen eine Kaffeekanne und eine große Schüssel Haferflockenbrei auf meinem Tisch. Das Essen vertreibt meine Müdigkeit, aber ich verspüre keine große Lust, etwas zu unternehmen. Ich bleibe an meinem Platzh sitzen und trinke von dem köstlichen Kaffee. Zwischendurch stehe ich auch mal auf und schaue mir die Bilder an den Wänden an: Da hängen zahlreiche Gemälde oder Fotos von verschiedenen Personen, die meisten sind Männer. Auf meine Frage, wer auf den Bildern ist, hat die Wirtin nur mit den Schultern gezuckt. Sie redet eigentlich überhaupt nicht, fällt mir auf. Wenn sie mir nach dem Aufstehen eine neue Kaffeekanne bringt, sage ich immer "Guten Morgen" und wenn ich ins Bett gehe, rufe ich "Gute Nacht". Eine Antwort habe ich noch nicht gehört. Glaube ich, sicher bin ich mir jedoch nicht.
Eher stört mich, dass ich schon wieder hungrig bin. Aber bevor mein Magen anfängt zu knurren, bringt die Wirtin mein Essen. Sie serviert mir einen köstlichen Eintopf. Vielleicht gibt es jeden Tag den gleichen Eintopf, doch ich kann mich an den Geschmack der vorigen Tage nicht so recht erinnern. Der heutige Eintopf schmeckt einfach phantastisch und ich schlinge, bis ich absolut nicht mehr kann.
Nach dem Essen halte ich ein Schläfchen an meinem Tisch. Ein schöner stabiler Eichentisch, nicht sehr groß, mit zwei bequemen Stühlen. Meine Kaffeetasse steht den ganzen Tag auf ihm und wenn ich Durst habe, schenke ich mir aus der Kanne frischen Kaffee nach. Die Wirtin scheint den siebten Sinn zu haben, denn sobald die Kaffeekanne leer ist, bringt sie eine neue. Der Kaffee schmeckt hervorragend, eigentlich gar nicht nach Kaffee, sondern viel nahrhafter und zum Glück schmeckt er mir auch ohne Milch, denn die scheint es nicht zu geben. Jedenfalls hat die Wirtin auf meine Frage nach Milch nur mit den Schultern gezuckt. Aber wie gesagt, ich bin zufrieden und genieße es, verwöhnt zu werden.
Wenn ich vom Mittagsschläfchen aufwache, habe ich wieder Kaffeedurst und trinke erst einmal zwei bis drei Tassen. Anschließend nehme ich die Spielkarten und beginne sie zu mischen. Wenn ich fertig bin und mir eine weitere Tasse Kaffee eingeschenkt habe, öffnet sich die Küchentür und die Tochter der Wirtin kommt mit einer neuen Kaffeekanne und einer großen Platte mit Kuchen herein.
Sie hat mir jedenfalls gesagt, sie sei die Tochter. Von alleine wäre ich nicht darauf gekommen. Sie ist zwanzig Jahre alt (hat sie gesagt), hat wunderschöne lange leicht gewellte braune Haare, eine Stupsnase mit ein paar Sommersprossen, strahlende Augen und ein Lächeln, dass es mir jedesmal ganz warm wird. Ähnlichkeiten mit der Wirtin, also mit ihrer Mutter (wie sie sagt) kann ich nicht erkennen. Die Wirtin ist hager wie ein abgenagter Hühnerknochen, aber das Mädchen ist rundum weich und mollig, richtig zum Kuscheln.
Wir passen gut zueinander, ich bin inzwischen etwas molliger geworden und bekomme meine Hose nicht mehr richtig zu, aber wen sollte das stören. Gäste scheint es in der Waldquelle nicht zu geben, jedenfalls habe ich noch niemanden gesehen. Dabei schmeckt der Eintopf wirklich hervorragend.
Inzwischen habe ich den Kuchen restlos verspeist, ohne es zu merken und lasse mir für den Nachhunger von der Tochter noch eine Schüssel Eintopf holen.
Sie kommt mit dem Eintopf aus der Küche und setzt sich zu mir. 'Ich muss sie endlich mal nach ihrem Namen fragen', denke ich noch, aber erst einmal esse ich und bei dem letzten Löffel sagt sie schon: "Wollen wir 17 und 4 spielen?"
Und dann spielen wir mit einer seltsamen Verbissenheit. Zu Beginn betrug der Einsatz einen Euro, doch irgendwann hatte ich kein Geld mehr und ich fürchtete, das Spiel sei damit zu Ende. Mir wurde deutlich, dass mir ohne das Spiel etwas fehlen würde.
"Worum wollen wir heute spielen, mein Geld ist alle?", fragte ich.
Das Mädchen - hatte sie mir eigentlich ihren Namen schon genannt? Ich erinnere mich nicht so recht und ich mag sie deshalb nicht fragen - erwiderte: "Lass uns um Knöpfe spielen."
Das Spiel ging zu Ende, ich war müde und wollte in meine Schlafstube gehen. Die Hose rutschte mir herunter, doch sie meinte sie nur: "Die brauchst Du sowieso nicht, die ist Dir ja schon viel zu eng."
Vorgestern, glaube ich, habe ich meine Knöpfe zurückgewonnen und gesagt: "Knöpfe ist etwas wenig. Morgen nehmen wir Kleidungsstücke." Und sie hat zugestimmt.
Immerhin weiß ich jetzt, dass sie gar nicht mollig ist, sondern eine Unmenge von Pullis und Shirts und Hemden am Leibe trägt. Obwohl ich mich sehr bemüht habe, es ist mir nicht gelungen, eine weitere Schicht Unterhemden zu gewinnen. Dabei schien es mir die letzte zu sein, bevor das Mädchen an sich zum Vorschein kommen würde. Wie bisher bei jedem Spiel bin ich langsam müde geworden, ich wollte gar nicht mehr wissen, wieviele Kleidungsstücke noch vor mir lagen und habe nur gesagt: "Lass uns morgen weiterspielen".
Manchmal denke ich, meine Müdigkeit kommt von dem Kaffee oder dem vielen Eintopf, aber es schmeckt mir einfach so gut. Hatte ich schon gesagt, dass es mir hier richtig gut geht mit der prompten Bedienung und dem wunderbaren Essen? Ich brauche mich um nichts zu kümmern und kann mich ausgiebig erholen.
Nach diesem Spiel war ich so müde und faul, dass ich gar nicht in mein Bett gegangen bin, sondern am Tisch geschlafen habe. Erst dachte ich, das sei unbequem, aber ich habe tief und fest geschlafen. Und ich brauchte mich nicht zu bewegen. Irgendwie mag ich auch gar nicht mehr aufstehen, das ist mir viel zu mühevoll.
Jetzt sitze ich hier, erfrischt vom Mittagsschläfchen, trinke meinen Kaffee und warte, dass das Mädchen wieder kommt und mir einen Nachschlag Eintopf bringt. Wenn sie da ist, will ich sie gleich nach ihrem Namen fragen. Irgendwie habe ich den nämlich vergessen. Und dann werden wir weiter um Kleidungsstücke spielen. Alles, was sie gestern ausgezogen hat, liegt noch auf dem Boden und sie sieht viel schlanker aus als in den letzten Tagen.
Die Küchentür öffnet sich und die Oma kommt herein mit ihrem großen Messer. Das hat sie noch nie gemacht und ich frage sie: "Was gibt es denn, wo ist das Mädchen."
"Die heizt den Ofen an," lächelt die Alte und wetzt ihr Messer. "Morgen gibt es nämlich einen schönen fetten Festtagsbraten."