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Jedermann ist eine Insel

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10.10.2006
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Jedermann ist eine Insel

Sand lag neben seiner Frau und holte sich einen runter. Sie schlief mit dem Rücken zu ihm, das Fenster stand offen und Nachtluft kühlte Sands Stirn. Er hatte Zeigefinger und Daumen um die Vorhaut gepresst und rubbelte. Dabei dachte er an sie. Das Laken, das seine Beine bedeckte: luftig, brisenhaft – wie sie. Ein Stöhnen entfuhr ihm.
Mit der freien Hand fuhr er über ihren Rücken. Er zuckte zurück, seine Fingerspitzen waren auf so viel Samt nicht vorbereitet. Sand rubbelte fester, er schwitzte stark, eine Mücke schwirrte im Zimmer umher. Er tastete nach ihrem Haar, musste weit in den Nacken fassen; sie hatte sich kurz vor der Geburt einen Topfschnitt verpassen lassen. Das hatte er vergessen.
In seinen Gedanken drückte er sich gegen ihren Hintern, teilte ihre Lippen, flutschte in sie hinein, benutzte sie, ließ sich benutzen. Die Mücke landete auf seinem Schienbein. Laura drehte sich unruhig im Schlaf, versuchte der Hand zu entkommen, die sich in ihren Nacken gelegt hatte. Ihre prallen Brüste lagen nun frei, zum Greifen nahe.
Was tat er hier eigentlich? Er hatte nun wirklich lange genug gefastet.
Sand ließ von seinem Schwanz ab, drehte sich zu ihr herum, legte ein Bein über sie, drückte sich gegen ihre Hüfte, stieß gegen ihr weiches Fleisch, nahm ihre rechte Brustwarze zwischen zwei ohnehin schon erhitzte Finger, zwirbelte sie fingerfertig und gierig, und flüsterte: „Wach auf.“
Sie schnurrte, streckte sich wohlig und murmelte: „Oh, Mister Clooney. Sie machen das aber gut.“
„Mister Clooney?“, fragte Sand heiser.
„Huch“, sagte Laura. „Jetzt hast du mich aber ertappt. Ich bin wohl ein böses Mädchen gewesen. Wie kann ich das nur wieder gutmachen?“ Sie fingerte nach seinem Schwanz und massierte ihn geschickt.
„Wie lange“, Sand musste sich räuspern, als ein Schaudern durch seinen Rücken lief. „Wie lange bist du schon wach?“
Laura antwortete nicht, glitt stattdessen mit ihrer Zunge eine Bahn entlang, die über Sands Hals entlang an seinem Bauch vorbei direkt bis zu …
„Ich kann nicht schlafen“, piepste es von der Tür her.
Sand blinzelte. Und dort stand, die Klinke der Tür in Augenhöhe, in einem weißen Nachthemd ein Teufelchen im Engelskostüm, schaltete das Licht im Flur aus, schloss die Tür hinter sich, kraxelte ins Bett und der Spross seiner Lenden legte sich zwischen sie.
Sand hielt eine Hand vor seine Latte, peinlich darum bemüht, auf keinen Fall damit seine Tochter zu berühren. Er setzte an, entschieden und hart zu protestieren, aber Laura sagte schon: „Hey, mein Engel. Hast du denn schlecht geträumt? Komm ruhig her. Auch wenn du jetzt ein Brüderchen hast, bist du noch immer mein Engel, das weißt du doch, oder?“
Sand setzte erneut an, hier musste ganz klar eine Linie gezogen werden und nackt, also quasi zu nackten Eltern ins Bett kommen: Wo sollte das nur hinführen? Da hätte er ja gleich zusammen mit dem Platz im Kindergarten noch einen auf der Couch reservieren können.
„Ich finde das überhaupt nicht gut!“
Marie-Christine stieß mit ihrem Po gegen Sands schützende Hand, flegelte sich mit dem Kopf an Lauras Bauch und schnarchte überlaut.
Laura kicherte leise. Sand holte Luft, setzte erneut an. Dann schrie das Baby. Lukas, ermahnte sich Sand. Sein Stammhalter.
„Deine Schicht“, sagte Laura und die eben noch schnarchende Marie-Christine presste ihre Lippen auf Lauras Bauch und fupste sie geräuschvoll.
Wart’s nur ab, dachte Sand und quälte sich aus dem weichen Bett. Wart’s nur ab. Du hast frühestens Sex, wenn du fünfunddreißig bist. Glaub ja nicht, dass ich das vergesse. Und während er sich ausmalte, wie er in zehn Jahren alle fünf Minuten in ihr Zimmer platzen würde, um nachzusehen, ob seine liebe Tochter und ihr Schulkamerad, die für irgendeine wichtige Arbeit „lernten“, genug Getränke hatten … während er also in Rachephantasien schwelgte, ging er Windeln wechseln und nach dem Kleinen sehen.

Die Sonne küsste ihn wach. Sand fiel zurück in seinen Körper. Er brauchte einen Moment, um sich daran zu erinnern, wo er war und wer er war. In letzter Zeit träumte er.
Schon seltsam, dachte er. Wie schnell man vergisst, wer man ist. Es ist fast so, als wäre die eigene Identität nur mit einem dünnen Faden an die Existenz gebunden. Ein wirklich unsinniger Gedanke. Sand öffnete die Augen. Die Sonne flutete den Raum, es roch muffig und nach Schlaf. Auf dem Nachttischschränkchen neben ihm stand ein Glas mit orangefarbener Flüssigkeit, ein lila Post-It war draufgepappt. Sand schob das Glas mit dem Handrücken zur Seite. Es hatte den Wecker verdeckt, der nun in roten Digitalziffern behauptete, es sei zehn Uhr achtundzwanzig.
Sand richtete sich halb auf und sah sich den Zettel an. „Frisch geprest“ war mit blauer Farbe darauf gemalt. Und über dem einsamen „s“ war noch ein zweites hinzugefügt worden und ein Pfeil, der es an seinen Platz verwies. Sand nahm einen Schluck: Der Saft schmeckte warm und schal und Fruchtstückchen kratzten über seine pelzige Zunge. Aber der gute Wille zählte wohl.
Er stand auf, öffnete ein Fenster, ging ins Bad, putzte sich die Zähne, wusch seinen Oberkörper, ging an den Schrank, nahm ein Jackett, eine Hose, ein Hemd, Unterwäsche und Socken heraus, legte sie nacheinander auf das Bett; dann erinnerte er sich seiner Pflichten und daran, dass er nicht wie andere sein wollte: Sand hielt inne und ging in das Babyzimmer.
Der Kleine schlief jedoch und Sand begnügte sich damit, eine Weile vor seiner Wiege zu stehen und auf ihn herabzublicken, so wie er als Kind vielleicht eine besonders gelungene Lego-Burg angesehen hätte.
Sein Blick fiel auf das Babyphon und einen Moment juckte ihn der Gedanke, Laura einen Streich zu spielen. Er könnte vielleicht die Stimme verstellen und flüstern: „Ich bin ein irischer Kobold und entführe Euer Kind, Mylady, wenn Ihr mir nicht sofort zu Diensten seid!“ oder vielleicht Strahlenpistolengeräusche imitieren oder „Ach, wie gut, dass niemand weiß“ sagen in einer Pumuckl-Stimme oder einfach „Hallo, Mutter; ich finde es nicht gut, dass du mich hier alleine lässt; ich fühle mich einsam und sehne mich nach Kommunikation; ich habe einen IQ von zweihundertundachtzehn, bin die fünfzehnte Inkarnation des Dalai-Lamas, kann mich an meine eigene Geburt erinnern und ich möchte Tequila, Salz und eine Zigarre.“ Aber das war alles schrecklich albern, also ging er zurück ins Schlafzimmer, betrachtete die Klamotten, die auf dem Bett lagen, zog sich an und schlich auf Socken die Treppenstufen hinunter. Er hatte sich einen unalbernen Plan zurechtgelegt.

Bereits vom Fuß der Treppe aus konnte er sie sehen. Sie stand mit ihrer Staffelei vor der Terassentür und malte. Ihr schwarzes Haar fiel schlaff vom Kopf, aber das breite Becken schien ihn einzuladen. Ihre Schultern bewegten sich und damit auch ihr Rücken und alles an ihr, als hätte sie Flügel.
Halb glitt Sand über den Parkettfußboden, halb schlich er. Halb grinste er dabei, halb war er konzentriert. Halb Jäger, halb Kind. Selbst als er hinter ihr stand, hatte sie ihn noch nicht bemerkt, hantierte weiter mit Pinsel und Farbpalette, ganz in ihrer Arbeit versunken. Sand griff um sie herum und nach ihren Brüsten. Sie gaben ein bisschen unter seinem Griff nach und fühlten sich warm an. Die Sonne musste sie aufgeheizt haben.
Laura schrie aus der Tiefe ihrer Kehle, wirbelte zu ihm herum, ihr Gesicht war bleich; mit der Hand, in der sie den Pinsel hielt, griff sie nach ihrem Herzen. Sie atmete schnell und starrte ihn mit offenem Mund an. Aber das Schlimmste waren ihre Augen, aufgerissen und starr. Wie zwei schwarze Steine eines Dame-Spiels. Sie schaute ihn als, als wolle er sie töten, als wäre er ein Fremder, als wäre er ein Eindringling in ihrem Leben.
„Ich bin’s“, sagte Sand. „Käferchen, ich bin’s doch nur.“
Sie keuchte noch immer, der Pinsel malte schwarze Schlieren auf ihre grüne Bluse. Sand umarmte sie, streichelte ihre Haare, ihr Herz schlug gegen seine Brust. „Du hast gemalt, ich weiß“, sagte Sand und sah dabei auf das Bild. „Ich weiß, du bist dann immer in deiner Welt, es tut mir leid. War blöd von mir. Ehrlich.“
Laura klammerte sich an ihn. Sand konnte ihren Blick nicht vergessen, diesen Blick, als seien die letzten zwölf Jahre, ihre gemeinsame Vergangenheit, nie gewesen, mit einem Pinselstrich ausgelöscht. Er betrachtete das Bild: Es zeigte einen Wandschrank, so einen wie er oben im Schlafzimmer stand, beige und wuchtig, ein Flügel stand offen, und in ihm war ein schwarzes Loch, wohl ein Portal in eine andere Welt. In eine Welt mit riesigem Mond, voll von Albtraumgestalten, von schwarzen Männern und vogelköpfigen Nachtdämonen.
„Hast du Narnia gesehen?“, fragte Sand.
Laura schniefte in seine Schulter. „Was meinst du?“
„Dein Bild.“
Laura putzte sich ihre Augen an ihm ab, schob sich ein Stückchen von ihm weg, sah ihn von unten an mit diesen glutlosen Augen und sagte: „Tut mir leid. Aber du weißt doch, wenn ich male …“
„Ja“, sagte Sand.
„Ich wollte sowieso noch mit dir reden“, sagte Laura wie verändert, plötzlich gefasst und geschäftsmäßig. „Gestern abend schon, aber du kamst nicht heim.“
„Wurde halt später.“
„Wir wollten über die Geschichte mit Höchst reden.“
„Nein“, antwortete Sand. „Du wolltest darüber reden. Ich hab mich schon entschieden.“
„Aber“, sagte Laura und löste sich nun völlig von ihm.
„Es ist ja nicht für immer. Aber wir brauchen das Geld. Und ich werde dann öfter bei euch sein. Ich will es.“
„Willst du nicht“, sagte sie.
„Will ich wohl“, sagte er und grinste dabei ein wenig verschmitzt.
„Wenn es um Geld geht, dann kann ich auch wieder ar-“
Sand versiegelte ihre Lippen mit einem Kuss. Sie kniff ihm schmerzhaft in den Po.
„Hör mir zu! Wir besprechen das jetzt, also hör zu! Herr Meerbach sagt, dass ich wirklich eine gute Chance habe, bei der nächsten Vernissage auszustellen und er meint, dass deutsche Künstler gerade sehr angesagt sind. Und wenn es eben nichts wird, dann geh ich wieder arbeiten.“
„Und wir nehmen uns ein Au-Pair, ja? So ein achtzehnjähriges Ding aus Frankreich? Du kriegst sie an den geraden und ich an den ungeraden Tagen und am Wochenende teilen wir sie uns.“
Lauras Lippen verzogen sich zu einem Strich. „Sei doch einmal ernst.“
„Ich bin ernst“, antwortete Sand. „Ich hab mir das alles gut überlegt und mich entschieden. Es ist das Beste so.“
„Ich werde nicht zulassen, dass du unglücklich wirst, nur weil du irgendwie meinst, du müsstest leiden, oder so. Ich bin doch keine Luxusmaus, ich kann mich locker einschränken und ich kann auch wieder abends malen, so wie früher. Ich kenn dich doch, du frisst alles in dich rein und am Ende hasst du mich.“
Sand sah an sich herunter. Lauras Pinsel hatte eine schwarze Spur auf seinem Jackett hinterlassen. „Ach, Scheiße. Jetzt muss ich mich umzuziehen.“ Sand küsste seine Frau auf die Stirn und ging nach oben. Er hörte ihre Schritte und ihre Stimme hinter sich. Sand beschleunigte seinen Gang, nahm drei Stufen auf einmal, entkam ins Schlafzimmer und verschloss die Tür hinter sich.
Er setzte sich auf das Bett und betrachtete den Wandschrank; er wartete auf ihre Stimme. Aber die kam nicht. Wahrscheinlich malte sie unten schon wieder, ganz in sich versunken. Wahrscheinlich wollte sie sowieso, dass er den Job annahm.
Sand stand vom Bett auf und durchwühlte den Kleiderschrank, aber nichts gefiel ihm heute. Er zog sein beschmutztes Jackett aus und sah es sich noch einmal an, vielleicht wäre es noch zu retten und irgendwie hatte es ja einen jugendlichen Look mit dem schwarzen Streifen, sah irgendwie nonchalant aus. Ach, nein. Er hob es vom Bett auf und warf es in den Wäschekorb, wandte sich erneut dem Kleiderschrank zu, entschlossen wahllos das Erstbeste herauszufischen – Was war nur heute mit ihm los? –, nur um sich dann erneut anders zu entscheiden.

Und schon wieder schlich Sand durch sein Haus, linste um jede Ecke, bereit gedankenschnell zurückzuzucken und sich mit einem Sprint in Sicherheit zu bringen. Der Flur oben war ehefrauenfrei, auch auf der Treppe erwartete ihn keine unnötige Diskussion und selbst im Wohnzimmer – Sand summte in seinem Kopf bereits die Titelmelodie von Mission: Impossible -, selbst im Wohnzimmer war keine Laura zu entdecken. Stattdessen hörte er Wasser rauschen. Zwei Badezimmer, ein Luxus. Von wegen, sie könne das aufgeben. Das DABB-DABB-DA-DA in Sands Kopf verflog, er machte sich hinunter in den Keller. Dort in der Abstellkammer war in einigen Umzugskartons seine Vergangenheit aufbewahrt. Ein paar Manuskripte, ein paar Bücher, eine Handvoll Fotos und Dokumente, eine Vergangenheit. Das meiste davon, Laura hatte es ihm immer versprochen, hätte in sein Arbeitszimmer gehört. Doch dafür war nie richtig Zeit gewesen, erst Marie-Christine, dann Annalena-Sophie und nun Lukas. Sand öffnete einen der Kartons, nur ein paar Bücher, der Wendekreis des Krebses obenauf. Im nächsten Karton dann gleich zuoberst: die schwarze Lederjacke, ein recht billiges Teil von der Stange. Seit dem Studium unter seiner Position. Sand schlüpfte hinein. Sie fühlte sich kühl an und gut, fast wie eine zweite Haut. Dann würden sie ihn in der Redaktion eben schief angucken, das spielte jetzt keine Rolle mehr. Sand strich über das Leder – wohl eher ein Imitat. Sie roch sogar noch ein bisschen nach Rauch, damals durfte er ja noch, aber seit der Fehlgeburt hatte er es ja … na, egal. Davon würde er sich jetzt nicht die Laune verderben lassen.
Übermütig forschte Sand in den Taschen seiner Vergangenheit nach einer Schachtel Zigaretten, dabei wirbelte er Staub auf und musste husten. Laura putzte hier unten natürlich nicht, wozu auch? Ihre Sachen standen ja überall – ihre Mitgift! – in Vitrinen und Glasschränkchen und in Kinderzimmern und Schlafzimmern und überhaupt gut sichtbar, falls ihre Eltern mal aus München zu Besuch … ach. Er fand keine einzige Zigarette, aber in der Westentasche der Jacke etwas anderes: eine Fotografie. Eine blonde Frau von knabenhafter Figur mit glatten, langen Haaren. Sie saß auf einem Stein, saß halb, lehnte halb und lächelte in die Kamera.
Sand hatte seit Jahren, Wochen, Tagen nicht mehr an sie gedacht. Und jetzt wo er sie sah, dachte er nur eines: Gott, Marie-Christine sieht ihr ähnlich. Vielleicht hatte er noch ihren Saft an sich gehabt, als er dann später mit Laura geschlafen hatte und irgendwie war es auch ihr Kind und nicht nur seins? Das hätte ihr ähnlich gesehen, diesem Sukkubus, den er einst mehr geliebt hatte als …
Sand knickte das Foto zusammen und verkramte es in seiner Gesäßtasche. Sein Leben war kompliziert genug, auch ohne eine Vergangenheit. Festen Schrittes stapfte er die Kellertreppe nach oben, hinterließ Staubflecken, wo er wandelte, und machte sich auf den Weg zur Arbeit. Die Luft war rein und wenn nicht, dann eben nicht!
Mit einem Tunnelblick tapste er auf die Wohnungstür zu, als plötzlich von links, vom Sofa her, eine Sirene seinen Namen flötete. Der Tunnel brach zusammen, Sand erlag der Versuchung, blickte nach links und dort lag Laura. Nackt. Auf der Couch. Ihre Schamhaare glitzerten, Wassertropfen mussten sich daran verfangen haben.
„Aller guten Dinge sind drei“, sagte sie. Dann musterte sie ihn genauer, hob eine Augenbraue und zirpte: „Ich bin ganz die Ihre, Mister Dean.“
Sand machte einen zögerlichen Schritt auf sie zu.
„Ich werd dir erst mal den Kopf freiblasen.“ Sie lächelte kokett und mit verruchter Unschuld. „Und danach können wir ja reden.“
Sand sprang auf die Tür zu und mit einer Stimme, die vielleicht ihm gehörte, rief er noch: „Bin wirklich spät dran, heut abend reden wir. Lieb dich.“ Dann floh er in sein Auto.

Als Sand eine Weile in seinem BMW gefahren war, fiel ihm auf, dass er steril roch. Das mochte an dem Leder liegen. In seinem alten Ford hatte er Fellbezüge gehabt und natürlich noch geraucht. Und jede Zigarette, jedes Aroma, jeder Schweißtropfen, jedes Parfüm, jeder sukkubistische Lustschrei hatte sich in diesen Fellbezügen verfangen.
Jetzt kam ihm der Gedanke, was er eigentlich Laura hätte sagen sollen. Er hätte sie zum Lachen bringen, hätte ganz souverän sein müssen, vielleicht mit einem Vergleich, das mochte sie immer. Er hätte sagen sollen: „Hör mal, Liebes. Superman redet mit Lois ja auch nicht über diese Supermann-Sachen, sondern nur über Clark-Kent-Kram. Und außerdem liebe ich dich.“
Das hätte er sagen sollen, vielleicht konnte er es ja nachträglich noch verwenden, aber es war besser, erstmal das unter Dach und Fach zu bringen. Gott, er hatte ja seit Wochen gar nicht mehr daran gedacht und hätte es wahrscheinlich so lange aufgeschoben, bis er es gar nicht mehr … aber sie wollte es ja ohnehin, sie wollte, dass er den Job annahm und es war auch das Vernünftige. Und er würde es jetzt machen. Entschieden hatte er sich sowieso schon vor Wochen. Glaubte er. Sand pflegte, Dinge so zu lösen. Er entschied sich und hatte dann den Kopf frei. Das war die richtige Art Probleme anzupacken. Die einzige.

Sand versteckte sich hinter einer mannshohen Zimmerpflanze – vermutlich ein Ficus, aber da war er sich nicht so sicher, sie sah zumindest aus, wie man sich einen Ficus landläufig so vorstellt, eine zu klein geraten Palme eben – und aus der Sicherheit seines Verstecks beobachtete er, wie Herren in Jackett und Schlips und Damen in Sommerkostümen den Aufzug bestiegen. Eigentlich, überlegte Sand, waren sie nicht frei. Sie hatten zwar die Möglichkeit, alles zu machen und zu tun, denn es war ein freies Land und wenn sie wollten, könnten sie in drei Stunden in Paris sein oder in sieben Stunden in New York oder in zehn Stunden in Venezuela, aber trotzdem stiegen sie in den Aufzug.
Sand verbarg sich tiefer hinter dem Ficus, als er den Alten vor dem Aufzug stehen sah: eine beeindruckende Gestalt, er hielt sich aufrecht, irgendwie mächtig und um ihn herum blieb Freiraum. Nicht sehr viel, eine halbe Armlänge vielleicht, aber genug, um ihn vom Rest der wartenden Traube zu unterscheiden. Doch auch er stieg in den Aufzug und nicht in einen Flieger.
Sand richtete sich auf, strich über sein Lederjackenimitat und verließ das Bürogebäude, schlenderte über ein, zwei Straßen hinweg bis ins Atlas und entschied, heute einfach mal früher Mittag zu machen. Mit all den unsinnigen Gedanken im Kopf hätte er ohnehin nicht arbeiten können.

Sand setzte sich an seinen Platz. Vor ihm lag die aktuelle Ausgabe des Spiegels. Merkel war auf dem Titelblatt. Sands Nackenhaare stellten sich auf. Und sofort saß er wieder in dem durchklimatisierten Raum in Hamburg und machte mit Bleistift Kreuze in Kästchen. Und sofort spürte er wieder die Leere in seinem Magen, den Kaffeegeschmack im Mund und dann später … Sand riss seinen Blick von dem Magazincover, fuhr mit der Spitze seines rechten Zeigefingers solange über die Tischdecke, bis er das Hochglanzgefühl unter seiner Fingerspitze spürte und schob es dann Stück für Stück hin zur Tischkante, bis es schließlich mit einem satten Papierplatschen zu Boden fiel.
„Was darf’s sein?“
Sand schrak hoch. Die Kellnerin, ein junges Ding, aber schon Ringe unter den Augen. Er hatte zwei, drei Mal mit ihr geflirtet, weil sie so alt war wie die Frau auf dem Foto in seiner Gesäßtasche, aber ganz anders aussah.
„Hallo? Darf ich Ihre Bestellung aufnehmen? Oder brauchen’s heut mal die Karte?“
„Was …“ Sands Stimme war nur ein Krächzen, er räusperte sich. „Was können Sie mir denn empfehlen?“
Die Kellnerin legte den Kopf schief, ihre Augen verdrehten sich, so dass sie nach oben und links zeigten. „Der Atlas-Brunch wird gern genommen um die Uhrzeit.“
„Dann nehm ich den“, sagte Sand.
„Und Cola-Light ohne Eiswürfel?“, fragte sie.
„Ach, mir ist heute mal nach was anderem.“
„Suchen’s ’nen bisschen Abwechslung?“ Sie lächelte ihn freudlos an und schob dabei ihre Brüste ein wenig vor.
„Mirinda, bitte.“
„Sie wissen aber schon, dass ich Eva heiß, oder? Ich mein, ich hätt’s Ihnen mal gesagt.“
Sand lächelte dünn. „Ich meine das Getränk.“
„Und was soll das bitte sein? Ein Cocktail, oder was?“
„So was wie Fanta. Mirinda eben, ich hab das Zeug früher getrunken. Schmeckt irgendwie orangig.“
„Davon hab ich ja noch nie gehört“, sagte sie und spielte an ihrer Schürze herum. „Soll ich Ihnen eine Limo bringen?“
„Dann die Cola-Light.“
„Sehr wohl.“ Sie bückte sich, um den Spiegel aufzuheben – Gott, was sie wohl nun von ihm dachte? - und wackelte beim Weggehen ein wenig mit dem Po.
Sand griff in seine Gesäßtasche und fühlte über das Foto. Aber nur kurz.
Dann strich er mit Zeigefinger und Daumen über seine Schläfen und Augen. Dies tat er einige Male. Dann nahm er dieselben Finger, drückte seine Nase zusammen und schnaubte. Manchmal fühlte er sich danach besser.

An einem Nachbartisch saß ein Paar. Das Mädchen hatte einen schwarzen Rollkragenpullover an und blätterte in einem Buch, vor ihr stand ein Espresso. Ihr Freund trug ein kanarienvogelgelbes Hemd und blätterte in der Zeitung, für die Sand schrieb. Vor ihm lag eine Schachtel Gauloises, die blauen. Sand hielt sie für Studenten. Auf seine Beobachtungsgabe war er immer stolz gewesen. Er ging an ihren Tisch.
„Verzeihung“, sagte Sand.
Das Mädchen sah von ihrem Buch hoch – ein Roman, von Camus, so etwas hatte auch … - und ihre Augen strahlten grün – welche Farbe hatten Marie-Christines Augen? „Ja?“, fragte sie samtweich.
„Dürfte ich vielleicht eine Zigarette schnorren?“ Gott. Schnorren. Wurde er jetzt zu einem dieser Thirtysomethings, die versuchen, wie Achtzehnjährige zu klingen? Gott, Thirtysomethings.
„Aber sicher doch“, sagte sie und griff mit spitzen Fingern nach der Schachtel. Der Kanarienvogel-Student blinzelte über seine Zeitung.
„Ist doch okay?“, fragte sie ihn.
„Klar“, sagte er. „Aber man darf hier eh nicht rauchen.“
Sand bekam seine Zigarette und ging an seinen Platz. Er klemmte sie zwischen Daumen und Zeigefinger jeder Hand ein, wie in einen Schraubstock, und drehte sie, um der Maserung des Filters beim Verschwimmen zuzusehen.
Sand fand, dass er nicht rauchte, solange er sich keine eigenen Zigaretten kaufte. Es war wie mit Fremdgehen und Flirten.
„Sie dürfen’s hier aber nicht rauchen“, sagte die Kellnerin.
„Natürlich nicht“, sagte Sand, und hörte auf, mit der Zigarette zu spielen.
Die Kellnerin stellte ihm einen Teller hin. Vier Spiegeleier lächelten ihn an, richtig gut gemachte, das Eigelb war makellos und kreisförmig. Und es roch auch ganz hervorragend, irgendwie nach Hamburgern. Daneben platzierte sie die Cola-Light und einen Korb mit Baguette, es war bereits aufgeschnitten und Kräuter lugten daraus hervor.
„Das sind Spiegeleier?“, fragte Sand.
„Sie sind mir aber ein ganz Schlauer“, sagte die Kellnerin und lächelte.
„Ich wollte wissen, was es sonst noch ist“, sagte Sand und seufzte gespielt genervt.
Die Kellnerin zwinkerte ihm zu, ihre Augenringe waren verschwunden. „Tut mir leid, bin halt ein kleines Dummerchen.“
Ein Kanarienvogel flatterte durch Sands Gemüt. Einen Moment lang, sah er die Kellnerin ganz anders.
„Also das sind zwohundertfuffzig Gramm dünn gebratenes Hackfleisch, vier Spiegeleier und ein Kräuterbaguette.“
Dann war der Moment vorbei.
„Und wer soll das bitteschön essen?“
„Na, Sie.“
„Atlas“, sagte Sand. „Verstehe.“
Als er sich zu dem Pärchen Studenten umdrehte, waren sie schon gegangen.

Sand würdigte den Ficus keines Blickes, als er an ihm vorbeiging. Vor dem Aufzug standen ein paar Anzüge und Sand hatte gute Lust, sich mit seinem Lederjackenimitat an einem zu reiben. So Schulter an Schulter. Aus Prinzip. Neben ihm rückte eine junge Frau ihre Brille zurecht, wahrscheinlich eine Praktikantin, aber dafür sah sie in ihrem roten Sommerkleid fast zu selbstbewusst aus. „Meinen Sie, das da drüben ist ein Ficus?“, fragte Sand.
Sie ignorierte ihn und nestelte weiter an der Brille herum.
„Ich mein, weiß eigentlich irgendwer, wie das Ding da drüben heißt?“.
Die Aufzugstür öffnete sich, die junge Frau stieg sofort ein und auch die anderen neben ihm. Sand blieb stehen. Ein anderer Anzugträger hustete in die hohle Hand.
Sand beschloss, den nächsten Aufzug zu nehmen. In seinem Magen rumorte der Atlas-Brunch und er wollte ihm noch einige Minuten Ruhe gönnen, bevor er ihn den Fliehkräften aussetze, die in einem solchen Aufzug zu wüten pflegten.
Doch auf einmal blickte ihn die brillennäselnde Frau in Rot an und sagte: „Da ist kein Ficus.“
Die Aufzugstür schloss sich und als Sand sich dem Nicht-Ficus zuwandte, da war er verschwunden.

Im Aufzug war es still. Sand war das nicht gewohnt. Er lehnte sich an die Wand des Aufzugs und schloss für einen Moment die Augen. Ein paar Bilder zuckten vorbei, die er nicht sehen wollte. Sand öffnete die Augen, die Aufzugtür schob sich auseinander und Lärm drang ein.
Bevor er den Aufzug verließ, klappte Sand den Kragen seiner Jacke hoch.

Mit langen, raumgreifenden Schritten fraß sich Sand durch die Mitte des Großraumbüros, hier arbeitete das Fußvolk. Hier tobte das pralle Leben. Ein Bürobote schob einen Postwagen vor sich her. Piepsige Stimmen sprachen Worte in Head-Sets, die niemand hören wollte. Geschäftsmäßiges Schnattern lag im Raum, wenn sich zwei Anzüge über die Trennwände hinweg trafen. Und über allem: der allgegenwärtige Geruch von schlechtem Kaffee. Sand war dieser Hölle entkommen. Er hatte seit zwei Jahren eines der begehrten Eckbüros.

Er öffnete die Tür zu seinem hart erarbeiteten Büro, das fast nur aus einem Schreibtisch bestand. Ein Doppel-Schreibtisch, zwei Stühle, zwei Computer. Sand setzte sich auf seinen Stuhl und schaute aus der Fensterwand nach unten. Krank, diese moderne Architektur. Man hatte das Gefühl, ohne Boden zu arbeiten. Und wenn man nur ein bisschen mit dem Stuhl kippelte, eine Angewohnheit, die Sand seit der Schulzeit hatte, tauchte sofort der nagende Gedanke auf, ob das Glas auch wirklich bruchsicher war. Sand schaltete den Rechner an. Sein Blick glitt über den Schreibtisch. Seine Hälfte aufgeräumt, praktisch leer. Die andere so vollgemüllt mit Papieren, dass kaum noch das Holz des Schreibtisches zu erkennen war. Und auf den Papieren Kaffeeränder. Sand grinste.

Der Artikel, an dem er gerade arbeitete, starrte ihn aus dem Monitor an. Seit einer Ewigkeit schon. Aber die schwarzen Buchstaben verschwammen vor seinen Augen und er verstand sie einfach nicht mehr. Als wären sie kyrillisch. Oder so. Sand verschränkte beide Arme hinter dem Kopf und kippelte ein wenig mit dem Stuhl. Vor ihm stand das dunkelblaue Telefon. Er mochte keine Head-Sets.
Die Nummer stand auf einem Zettelchen, das unter seiner Tastatur herausschaute. Nur ein kleines Stück. Damit er sich nicht drücken konnte. Sand kannte sich.
Er nickte. Nicht mehr viel, es war wie ein Hügel und er hatte den Felsen schon weit nach oben geschoben, nur noch ein kleiner Ruck und er – Sand ruckte aus seinem Sessel nach vorne, griff nach dem Telefonhörer, hielt ihn an sein Ohr und legte dann wieder auf.
Nur noch ein kleiner Ruck.

„Es gibt drei Sorten Menschen auf der Welt. Die einen, die gesalzenes Popcorn mögen, die anderen, die gezuckertes mögen und die, die gar keins mögen.“
Was zum Teufel sollte das bedeuten? Die Datei war alt. „Gedanken.“ Er hatte sie seit Monaten nicht mehr aufgemacht, warum heute? Popcorn, warum gerade Popcorn? Sand fing an zu tippen: „Nur ein dünner Faden verbindet die Existenz mit der Identität.“
Hm, nach dem Aufwachen hatte das irgendwie überzeugender geklungen.
Er setzte erneut an: „Der Schlaf klatscht Fleisch an Gedanken. Die Sonne schmilzt es wieder runter.“ Sand nickte. Die Datei würde er mitnehmen. Die Datei und das Telefon. Oh, und er musste sich bei Amazon noch einen Buchband kaufen über Zimmerpflanzen.
„Alles klar bei dir?“
Sand schaute hoch. Gunter sah ihn aus großen Augen an, mit einem Grinsen im feisten Gesicht.
„Öhm, ja klar. Wann bist du denn gekommen?“
„Ich sitze hier seit einer halben Stunde und schau dir beim Grübeln zu.“
Sand starrte ihn an. Wurde er nun verrückt? Was war nur mit ihm los?
Gunter lachte schallend, sein weiches Backenfleisch wackelte nach. „Ich hab dich nur verarscht. Hab mich eben erst reingeschlichen.“
„Sehr erwachsen. Wirklich sehr erwachsen.“
„Ich wollte dir schon einen Genius at Work-Aufkleber an die Stirn kleben.“
Sand schaute an die Zimmerdecke.
„Zwei Anrufe für dich, als du weg warst.“
„Meine Frau und?“
„Der Alte.“
Der Alte? Der hatte ihn seit sechs Jahren nicht mehr zu sich bestellt. Das war gar nicht gut. Gar nicht gut.
„Geh lieber zu ihm. Am Telefon war er schon“, Gunter räusperte sich, richtete sich kerzengerade in seinem Stuhl auf und schrie: „Name, Dienstgrad, junger Mann! Hammse jedient? Wo ist ihr Kollege? WAS? MITTAG? Hammse mal auf die Uhr geschaut! Könnensemsagen! Deserteur, elender!“
„Ja, ja.“ Sand winkte ab, stand auf, ging zur Tür und sagte über die Schulter: „Wahrscheinlich geht’s um dich. Die Putzfrauen werden sich über deinen Schweinestall beschwert haben.“
„So lange keine von mir schwanger ist, geht’s ja.“

Sand musste langsam gehen, denn der Weg war kurz. Er ging an tuschelnden Sekretärinnen vorbei, an emsigen Praktikanten und überforderten Kaffeemaschinen, während er sich an eine Rede erinnerte, nun eigentlich war es keine rechte Rede gewesen, eher ein ungehaltenes Redchen, der richtige Zeitpunkt dafür war vor sechs Jahren gewesen, als er alles hinschmeißen wollte, weil er nicht zurechtkam, und nicht heute, wo er etabliert war. In der Rede von damals ging es um den lauwarmen Apfelsaft der Erkenntnis. Das wusste er noch. Die erste Droge der Menschheit war die Erkenntnis im Paradies gewesen. Der Baum, der Apfel, die Schlange. Menschen waren süchtig danach, nach dem Verstehen, sie jagten dem Moment hinterher, wenn alles Sinn ergab, wenn das letzte Puzzle-Teil an seinen Platz fiel und wenn sie das Gefühl hatten, alles zu verstehen. Keine Fragen mehr zu haben. Die Aufgabe des Journalisten war es, dieses Gefühl zu verkaufen. Der Spiegel war ein Meister darin, der Handel mit der Illusion der Erkenntnis. Und was machte ein PR-Mensch denn anderes? Auch er handelte doch nur mit Illusionen, war wenigstens ehrlich dabei, behauptete nicht, das letzte Puzzle-Teil zu haben, schminkte eben ein wenig, putzte heraus, betonte Vorteile, lieferte doch auch nur schalen Apfelsaft, aber wenigstens ehrlichen.
Sand blieb stehen, er konnte das Büro des Alten schon sehen. Die Ficus-Frau schaute ihn an, von ihrem Schreibtisch aus. Ihr Kopf war in der Höhe seines Bauchnabels. Sand sah zu ihr herunter.
Sie schaute wieder auf ihren Bildschirm und Sand zog sein Lederjackenimitat aus, legte es auf ihren Schreibtisch, dicht neben die Tastatur und sagte: „Da war ein Ficus.“
Dann ging er in das Büro des Alten.

Der Alter thronte hinter seinem massigen Schreibtisch. Hinter ihm eine Weltkarte, wo doch die Zeitung kaum noch in Wiesbaden zu kaufen war, von Berlin ganz zu schweigen.
„Setzen Se sich.“
Sand setzte sich dem Alten gegenüber auf einen unbequemen Stuhl, der nur aus Holz zu bestehen schien, nur aus Knochen und Stein und Metall, ohne Pracht und Glorie.
„An was arbeiten Se gerade?“
„Nun“, sagte Sand. „Ich habe bis gestern Abend noch recherchiert an dem Artikel, deshalb bin ich heute auch ein wenig später.“
Der Alte wippte mit dem Kopf. „Wissen Se, Se können machen was Se wollen hier, solange Se ihre Arbeit machen. Se sind ein fähiger, junger Mann. Wir brauchen Se.“
Sand musterte den Alten skeptisch. Der hielt noch immer beide Hände auf den massigen Schreibtisch gestreckt, so als klammere er sich an ein Rednerpult. Sand konnte die Altersäderchen auf seinen Händen entdecken.
„Wirklich, schauen Se mich net so an. Se sind kein Anfänger mehr, Se sind ein gestandener Mann. Eine der Säulen. Will sagen, wir brauchen Se wirklich. Schauen Se sich um. Die kommen von der Schule und wollen gleich die Welt verändern. Haben net verstanden, dass es darum net geht. Also woran schreiben Se?“
„Resozialisierung. Ich begleite drei ehemalige Strafgefangene zurück in ihr Leben.“
„Wat fürs Jerz. S lob ich mir.“
„Bitte?“, fragte Sand.
„S Jerz“, sagte der Alte und griff sich an die Brust. „Se verstehen, wissen Se, lass Ihne doch freie Hand, oder nich? Quatscht ihnen keiner mehr rein, oder nich?“
„Ja“, sagte Sand.
„Se leben doch wie de liebe Gott in Frankreich, oder nich?“
„Nun“, sagte Sand.
„Entäusche Se mich nich. Wissen’s so lang mach ich au net mehr. I merk’s ja selber, s wird immer wenicher. Und es is auch immer dasselwe. Schauen Se es sich doch mal on. Weltweite Überbevölcherung und bei uns heule se, weil die Fraue net genuch Kinner krichhe. Se sind wieder Vater geworde, oder?“
„Ja“, sagte Sand.
„In so e Welt hineingebore werde, überall Probleme.“ Der Alte stand ächzend auf, seine Hand zitterte, hinter ihm schillerte die Weltkarte im Licht der Sonne, die durch die riesigen Fenster hineinfiel. „Klimaverännerung, Überbevölcherung, de Aids-Virus, jeder will so lebe wie der Herr Gott. Die Chinese wollen alle nur s Beste für ihre Kinner, die Russe e Zweitwache und die Afrikaner auch e dreizehntes Monatsgehalt. Ich sach Ihne, so geht’s net weider. Die Überbevölcherung, das muss alles reguliert werde. Wir können’s ihnen ja net verbiete, dass se so lebe wolle wie wir, oder?“
Sand schüttelte zögerlich den Kopf. „Nein, können wir nicht.“
„Ach, wo war ich steh geblibbe?“
„Ich weiß nicht“, sagte Sand.
Der Alte starrte ihn an. „Hören se, zum Beste hawe kann ich mich auch alleine, nich wahr? Wenn Se weg wolle, dann sagen Se’s jetzt gleich und hier.“
Sand starrte an dem Alten vorbei auf die Weltkarte und fragte: „Warum fehlt da Australien?“
„Was meinen Se? Lenke Se doch net ab, ich hab das doch jehört mit dem Höchst. Glaube se ich bin alt und taub?“
„Australien“, sagte Sand und zeigte auf die Weltkarte. „Müsste doch da unten links sein.“
„Meinen se Österreich? Das ist doch da?“ Auch der Alte drehte sich nun um und zusammen starrten sie auf die ausgebreitete Karte der Welt.
Sand sagte nichts und so standen sie eine Weile, bis der Alte das Schweigen brach: „Ich kann Ihne nichts verspreche, ich sage Ihne nur, Se können’s weit bringe, wenn Se dabei bleibe. Was hilft’s Ihne, wenn Se viel Geld haben, aber Se sind net mehr glücklich. Aber Se werde das scho mache, machen Se’s gut, Junge.“
„Sie sind mild geworden“, sagte Sand. Der Teil Sands, der nicht mit Australien beschäftigt war.
„S Alter“, sagte der Alte, drehte sich von der Weltkarte weg und reichte Sand eine Hand.
Sand schüttelte sie, sie fühlte sich an wie nasses Butterbrotpapier.
„Un jetzt raus hier, ich habe zu arbeiten.“
Sand blieb noch im Sessel sitzen.
„Scheren Sie sich raus, Sand!“, sagte der Alte laut und perfekt artikuliert.
Sand verließ das Büro.
„Und lassen Sie sich ja nie wieder ohne Jackett hier blicken!“

Auf dem Weg zurück in sein Büro nahm Sand die Lederjacke vom Schreibtisch der Ficus-Frau. Aber die saß nicht an ihrem Tisch.

„Gab’s Anrufe, während ich weg war?“
„Egal, ich hab eine tolle Idee für einen Zahnpasta-Werbespot.“ Gunter ging auf und ab, Sand hatte sich an seinen Schreibtisch gesetzt. „Pass auf: Man sieht eine Frau auf ihrem Bett liegen, in schwarzen Dessous, sie spielt mit ihren Haaren und alles. So richtig sexy, du weißt schon. Latina-sexy, nicht so Deutsch-sexy. Richtiger Arsch und Titten. Klar?“
„Schon klar“, sagte Sand und streichelte über seine Lederjacke.
„Irgendwann ruft sie: Kommst du mal bald? Und der Typ im Badezimmer schaut aus der Türspalte und hat eine Zahnbürste im Mund und nur so ein Handtuch um die Hüften, du weißt schon, und er sagt: Nur schnell Zähne putzen. Dann schließt er die Tür und es kommen so Stöhngeräusche raus und ein richtig lauter Lustschrei. Dann macht er die Tür wieder auf und sagt: Tschuldigung, wird heute wohl nix mehr. Okay? Dann Abspann und: Blend-a-med: Besser als Sex! Ist doch geil, oder?“
„Der Alte will dich sprechen. Geht um die Putzfrau, die du geschwängert hast.“
Gunter schaute ihn misstrauisch an: „Welche? Doch nicht seine Tochter, oder?“
„Scher dich raus.“ Sand lachte.
Gunter ging an ihm vorbei, klopfte ihm auf die Schulter und sagte: „Kopf hoch, ja.“
„Du trägst deinen Ehering nicht mehr?“
„Ist nicht so wichtig“, sagte Gunter. „Ehrlich nicht. Wenn du hier weg bist, bleiben wir in Kontakt. Das mit der Patenschaft steht, oder?“
„Klar“, sagte Sand, griff nach Gunters Hand auf seiner Schulter und drückte sie leicht.
Gunter nickte und nahm die Hand weg. „Bis morgen.“
„Bis morgen“, sagte Sand, obwohl die Uhr des Rechners erst 14:22 zeigte.

Sand schloss die Augen, faltete die Hände hinter seinem Kopf und kippelte mit dem Stuhl. Dann ruckte er nach vorne, griff den Telefonhörer und auch das kleine Zettelchen, das unter der Tastatur lag. Sein Zeigefinger hämmerte auf die Tasten.
„Höchst Frankfurt, Mellencamp, guten Tag. Was kann ich für Sie tun?“ Eine helle Frauenstimme.
„Ja, Sand mein Name. Die Personal-Abteilung bitte. Herrn Miersbach.“
„Was meinen Sie? Personal-Abteilung?“
„Ja, Herrn Miersbach“, sagte Sand.
„Tut mir leid, wir haben keine … wie sagten Sie? Personal-Abteilung?“
„Was?“
„Und ein Herr Miersbach ist mir auch unbekannt.“
„Schauen Sie doch in ihrem Computer nach.“
Warten.
„Tut uns leid, Herr Sand. Schönen Tag noch, ja?“
„Mo …“
Doch sie hatte schon aufgelegt. Sand fuhr über sein Kinn. Vielleicht hatte er es sich anders überlegt und der Job war schon vergeben, aber warum hatte man ihm das nicht gesagt? Das war höchst unprofessionell. Sich am Telefon verleugnen lassen und dann noch so absurd, keine Personal-Abteilung bei einem riesigen Unternehmen. Hm. Na ja, wenigstens wusste er jetzt seinen Wert. Was der Alte gesagt hatte, hatte gar nicht schlecht geklungen. Leitender Redakteur Sand, Chefredakteur Sand. Das gab dann ja auch mehr Geld.
Seltsam blieb es dennoch.

Auf dem Weg nach Hause hielt Sand an einem Musikgeschäft an, nur um dort von einem Fünfzehnjährigen zu hören, dass man keine Kassetten mehr führe. Genauer: Nie etwas von ihnen gehört habe. Und auch nicht von „Here comes the sun“ oder einer britischen Band namens „The Beatles.“
Sand verfluchte den pickligen Verkäufer bis ins dritte Glied und stieg wieder in seinen Wagen. Er brauchte länger als sonst bis nach Hause, einige Straßen schienen sich verändert zu haben, da wo früher Wenigs Wäscherei war, stand nun nur noch eine graue Häuserwand und die alte Mercedes-Filiale schien auch zugemacht zu haben. Aber wahrscheinlich hatte sich Sand nur in der Straße geirrt.

Sand saß in seinem BMW, dem mit dem sterilen Geruch und den Ledersitzen. Er hatte ihn in die Auffahrt zu seinem Haus gestellt und zweifelte an seinem Verstand. Ein Nervenzusammenbruch vielleicht? Sand strich über seine Augen und Schläfen, hielt sich mit zwei Fingern die Nase zu und pustete mehrmals. Manchmal half das.
Er schüttelte den Kopf, öffnete die Tür und sah in den Nachmittagshimmel. Gierig sog er die Vorstadtluft ein. Also doch weiter den lauwarmen Saft der Erkenntnis verkaufen. Der Alte hatte nicht gut ausgesehen. Er musste Laura sagen, dass sie seinen schwarzen Anzug in die Reinigung bringen sollte. Aber nicht zu Wenig, die hatten wohl zugemacht. Oh Gott, Laura. Er hatte gar kein Geschenk für sie.
Nach der Nummer heute morgen würde sie ihn vierteilen.

Als Sand sein Haus betrat, sah er, dass Marie-Christine fernsah. Nicht auf der Couch, wie er es ihr hundertmal erklärt hatte, sondern ausgestreckt auf dem kalten Fußboden direkt vor dem Fernseher. Mit den Händen stützte sie ihren Kopf ab und ihre Füße streckte sie in die Luft.
In einer ganz ähnlichen Stellung hatte er damals die Frau auf dem Foto …
„Na, junge Dame. Was machen wir wohl gerade falsch?“
„Ups“, sagte Marie-Christine, stützte sich vom Fußboden ab, sah Sand kokett von unten an, ging gemessenen Schrittes auf die Couch zu und flegelte sich dort in die Kissen.
Sand verschränkte die Arme vor der Brust.
„Besser so?“
„Mm“, knurrte Sand. Im Fernsehen lief eine Serie mit asiatisch aussehenden Zeichentrickfiguren: Sie hatten riesige Köpfe und noch größere Augen. Es war furchtbar schrill und laut. Irgendwelche Viecher kämpften gegeneinander und die Leute schrien ohne ersichtlichen Grund oder hüpften herum und blieben in der Luft stehen. Ständig wiederholten sich Bilder oder bleiben eingefroren, während sich nur der Mund eines dieser riesenäugigen Dinger bewegte.
„Mach das aus“, sagte Sand.
„Aber, Papa, ich hab die Hausaufgaben doch schon gemacht.“
Sand ging auf den Fernseher zu und schaltete ihn aus. „Lies doch mal ein Buch.“
„Aber Papa … das Nächste kommt doch erst zu Weihnachten, und die anderen hab ich schon alle dreimal gelesen.“
Sand schaute über die Schulter auf seine Tochter. Die saß mit untergeschlagenen Beinen auf der Couch und verdrehte genervt die Augen, so als spräche sie mit einem Idioten. Das hatte sie von Laura und nicht von der Frau auf dem Foto.
„Was?“, fragte Sand. „Ach so, dieser blöde Zauberer da.“
„Der ist nich blöd“, sagte Marie-Christine und warf ein Kissen nach ihm. „Überhaupt nicht!“ Und dann, da der Wurf zu kurz war und das Kissen harmlos zwischen Sofa und Sand gelandet war, warf sie noch eins, kräftiger diesmal, gar kein schlechter Wurf für ein Mädchen, aber Sand fing es dennoch. Er warf das Kissen vorsichtig zurück und drehte sich zum Bücherschrank um, irgendwo hier musste es doch sein.
„Wo sind eigentlich Mama und das Ba … Lukas?“
„Einkaufen und Mama hat gesagt, dass ich Fernseh gucken darf.“
„Jetzt bin ich aber hier.“
„Menno.“
Sand hatte das Buch gefunden: Schwabs Sagen des klassischen Altertums. Er nahm es heraus und warf es seiner Tochter zu. In der Luft flatterten die Seiten auseinander, wie bei einem Vogel. Und es stürzte ab.
Marie-Christine hob es vom Boden auf, blätterte darin herum, sagte aber nichts.
Bestrafung durch Ignorieren, erkannte Sand.
„Du wirst mir dafür danken. Deutsch, Latein später. Wird alles leichter dadurch.“
„Ich mach doch kein Latein“, sagte sie.
„Rauf auf dein Zimmer“, sagte Sand, blieb noch eine Weile im Raum stehen und versuchte sein Bestes, einen erzürnten Vater zu geben. Ohne Publikum fiel ihm das leichter. Schließlich setzte er sich auf die Couch, ließ sich zurückfallen, streckte die Beine irgendwie aus, mummelte sich ein und dann träumte er.
In letzter Zeit träumte er häufiger.

Sand spürte ein sanftes Ziehen an seinem Schwanz. Er genoss es, Saugen, oh, wie sehr hatte er das vermisst. Er spürte keine Schwere, sie lag nicht auf ihm, nur dieser Mund dieser leichte Hauch. Sand schlug die Augen auf. Und da: Sie hatte nur ein weißes Neglige an. Er sah die Schwangerschaftsstreifen und sie blies ihm einen.
„Bist du verrückt?“, keuchte Sand. „Die Kinder.“
Laura ließ von ihm ab. Es schmatzte. „Bei meiner Schwester. Bis morgen Mittag. Die ganze Nacht.“
Sand lächelte: „Ich bleib bei der Zeitung. Das wolltest du doch, oder?“
„Nicht jetzt“, sagte sie mit einer Stimme, die er liebte. „Ich hab dich vermisst.“
„Ich dich auch“, sagte Sand und schloss die Augen wieder. „Ich dich auch. Ich habe uns vermisst.“
Aber sie antwortete ihm nicht mehr. Den ganzen Abend nicht und auch nicht den großen Teil der Nacht. Zumindest nicht mit Worten.

Als er irgendwann erwachte, lag sie warm und weich neben ihm. Sand küsste ihre Haare und stand auf. Sie lag auf dem Bauch. Hatte alle Viere von sich gestreckt. Schlagsahnereste hingen ihr noch am verlängerten Rückgrat.
„Mein Käferchen“, sagte Sand, ging nackt hinunter ins Wohnzimmer und las einige Kleidungsstücke vom Boden auf. Auch die Jeans, die er gestern noch getragen hatte. Sand griff nach der Gesäßtasche. Das Sukkubusfoto hatte ausgedient. Doch es war verschwunden.
Sand fiel zurück in sein Leben.
Wenn sie es gefunden hatte, vielleicht deshalb?
„Das Ergebnis zählt wohl“, sagte Sand. Jetzt nicht verrückt machen. Nicht schon wieder. Alles mal langsamer angehen und die Kontrolle …, ach einfach genießen. Sein Blick fiel auf das angefangene Gemälde. Das Wandschranktor in eine andere Welt. Er sah es lange an, noch nackt, nur mit seiner leeren Jeans im Arm.
Sand nickte einmal, zweimal stumm vor sich hin. Und dann musste er auch wirklich wieder an die Arbeit. Er hatte ja einen Abgabetermin und gestern nicht viel geschafft.

Doch kaum hatte Sand die Einfahrt verlassen, begann er wieder an seinem Verstand zu zweifeln. Straßen waren verschwunden, Umleitungen endeten im grauen Nichts, ganze Gebiete waren wie ausgestorben, nur Grau in Grau in Grau, wo gestern noch Geschäfte standen und Passanten und Hydranten.
Endlich im Verlagsgebäude angekommen, wandelte er durch eine verwaiste Vorhalle, auch der Aufzug war leer und auf der Nummernleiste - da fehlten viele Zahlen. Doch die mit seinem Stockwerk, die stand noch da. Und Sand drückte sie, bereit alles auszublenden, was sein Nervenzusammenbruch ihm bescheren würde.
Der Vorhof zur Hölle, wo sich gestern noch Praktikanten getummelt hatten und Kaffeemaschinen: eine Geisterstadt. Nur hier und da sah er noch den Schopf einer Person aus den Kabinen lugen.
Und als er sich in sein Eckbüro rettete, da sah er nur noch seine Seite des Schreibtischs. Die andere, Gunters Seite, die war leer. Und während er noch auf die leere Seite starrte, da überzog ein Grau sie. Wie aus dem Nichts. Das Grau türmte sich auf zu einem Würfel und, und Sand rannte aus dem Büro. Rannte an immer weniger Schöpfen und Köpfen vorbei in den Fahrstuhl, von dort in seinen BMW und mit ihm brauste er nach Hause, versuchte es zumindest, doch er verfuhr sich, verfuhr sich weiter und weiter. Verlor Hoffnung und Verstand. Nicht Schrittweise, nicht peu à peu, in Wellen, in grauen, einsamen Wellen.

Sand riss die Tür zu seiner Wohnung auf. „Wir müssen hier weg“, schrie er. „Schnell!“
Laura schaute ihn an. Ihre Augen waren weit aufgerissen, ihr Mund nur zur Hälfte. Marie-Christine saß neben ihr. „Papa?“
„Los, hol das Baby, wir müssen weg.“
„Schatz, was ist denn? Beruhig dich doch. Du machst mir Angst.“
„Los!“ Sand starrte Marie-Christine an. „Hol deinen Bruder!“
„Wen?“, fragte Marie-Christine und begann zu schluchzen.
Laura stand auf und ohrfeigte Sand mit voller Wucht. Es klatschte.
„Es war eine Fehlgeburt, du Arsch. Das weißt du doch. Bist du jetzt völlig übergeschnappt?“
Sand rieb sich seine Backe. „Los jetzt!“, schrie er. So laut er konnte. Er warf seine Frau zurück auf das Sofa, fasste grob nach seiner Tochter, die wie eine Sirene heulte, und schrie: „Hol deinen Bruder!“
Als sie nicht aufstehen wollte, riss er sie hoch, gab er ihr einen Klaps auf den Po und endlich, endlich setzte sie sich in Bewegung.
„Und du packst das Nötigste ein. Wir müssen raus aus dieser verdammten Stadt.“
Laura sah ihn von der Couch an. Wie einen Fremden.
„Aber, aber wohin willst du denn?“
„Irgendwohin, scheiß egal. Nur weg von hier.“
„Aber wohin denn?“
„Zu meinen Eltern. Aufs Land vielleicht.“ Kopfschmerzen rasten durch seinen Schädel.
„Marie-Christine!“, rief er. „MARIE! Komm endlich.“
„Wer?“, fragte Laura.
„Meine Tochter, verdammt. Sie sollte doch Lukas …“ Sands Herz schmerzte, seine Knie wurden weich.
„Setz dich doch erstmal“, sagte Laura. „Komm, setz dich zu mir.“
Laura zog ihn zu sich auf die Couch, barg seinen Kopf zwischen ihren Armen und streichelte über seinen Nacken: „Es wird alles wieder gut. Ich bin doch dein Käferchen, das weißt du doch. Wir stehen das schon durch.“
„Marie“, schluchzte Sand. „Sie soll sich beeilen.“
„Wer ist denn Marie?“, fragte Laura.
„Unsere Tochter.“
„Aber Schatz.“ Sie sprach zu ihm wie zu einem störrischen Baby. „Wir haben noch keine Kinder.“

Sand träumte. In letzter Zeit träumte er häufiger. Und jedes Mal, kurz nach dem Aufwachen, da hatte er ein Gefühl, als falle er wieder in sein Leben zurück.
Als er diesmal erwachte, konnte er sich nicht bewegen. Und als er die Augen öffnete, sah er, dass er fixiert war, an ein Bettgestell. Eine Zwangsjacke. Über seinem Bett unterhielt sich Laura mit einem Mann in einem weißen Kittel.
Dann sah er abwechselnd das Gesicht des Arztes und das seiner Frau.
„Wir wissen nicht, was mit ihm los ist. So einen Fall gab es in der ganzen Geschichte unserer Medizin noch nicht.“
„Warum passiert uns das? Können Sie nicht einen Kollegen konsultieren?“
„Ja, sicher“, sagte der Arzt. „Ich werde gleich … unheilbar.“
In Sands Kopf raste ein Gedanke: Keine Ärzte mehr zum konsultieren da.
„Können wir es ihm denn nicht leichter machen?“
„Ich weiß nicht, ich habe wirkliche keine Erf …“
Mitten im Satz hörte die Stimme auf zu existieren.
Laura beugte sich über ihm: „Ich bin’s doch dein Käferchen.“
Sand lachte, lachte wie von Sinnen. Und über ihm: Das Gesicht seiner Frau und grau. Wie ein grauer Wasserfleck, der auf ein Bild geklatscht sich nun immer weiter ausbreitete. Immer mehr Farbe überdeckte, immer mehr Fleisch verschlang und überwucherte. Bis schließlich alles verschwunden war und nur noch grau.
Dann war sie verschwunden.

Und mit ihr seine Zwangsjacke. Und mit ihr das Gebäude und auch alles. Und Sand stand alleine auf einer leeren Straße. Und um ihn herum da war alles grau. Nur der Himmel nicht und nicht die Straße und er nicht. Sand ging einige Schritte, an grauen Häuserwänden vorbei und irgendwo funkelte es in weiter Ferne. Sand begann zu rennen, stürmte auf das Funkeln zu und schließlich sah er es: Dort in einer Hauswand war noch ein Spiegel eingelassen. Ein Friseur-Salon vielleicht. Mit aufgedruckten Buchstaben. Sand sah sich in dieser spiegelnden Schaufensterscheibe. Und er sah die Sonne in seinem Rücken. Sand griff mit beiden Händen an die Scheibe. Sie fühlte sich kalt und glatt an. Er leckte auch an ihr und drückte sein Gesicht daran. Und als er sie genug gespürt und begriffen hatte, da schlug er sie ein, mit seiner blanken Faust. Sie barst und zersprang und gab den Blick frei auf … auf Grau.
Sand sah zu Boden, in einer Spiegelscherbe erkannte er sich. Ein grauer Fleck hatte sich auf seiner Stirn gebildet.

 

Hallo Quinn,

da hast Du ja eine im guten Sinne seltsame Geschichte ausgebrütet, eine, die mich durch ihre sureale Bildwelt beeindruckt. Ich kann nicht sagen, daß ich sie direkt beim ersten Lesen verstanden hätte, ihr nur hätte folgen können, doch der Erzählfaden hat mich dennoch festgehalten und mitgenommen.

Wirklich klasse finde ich den fortschreitenden Verfall der Realität, die Einbrüche am Anfang, die völlige Auflösung am Ende, auch hier verstehe ich die Bilder nicht, nicht die Hintergründe, doch ich sehe sie dennoch recht klar und präzise und vor allem nimmt mich die Stimmung mit. Erst die heile Jungfamilie, nach und nach demontiert sie jedes einzelne Kind, bis am Ende nur kaum noch Sand übrig bleibt. Ich kapiere es nicht, doch ich mag es in seiner Wirkung.

Jedenfalls hast Du es geschafft, mich in den Bann zu ziehen. Bis auf den Passus mit seinem Chef, der schwierig zu lesen ist und mich deswegen ein wenig gequält hat, habe ich sehr gestaunt und habe sie gerne Wort für Wort gelesen und gesehen.
Und das vermutlich nicht zum letzten Mal.

Kleinkram :

Ein Stöhnen entkam ihm.
entkam klingt sehr seltsam, vielleicht entfuhr ihm, oder direkt im Aktiv ?
„Ist doch okay, oder?“, fragte der Spross seiner Lenden.
nee, die Fragestellung glaube ich der kleinen Tochter nicht, während sie im späteren Verlauf im gleichen Wortlaut bei der Kanarienvogel-Studenten-Freundin passt. Vielleicht fragt sie einfach ob sie zu ihren Eltern kuscheln darf, während sie schon ins Bett klettert ?
Piepsige Stimmen sprachen Worte in Head-Sets
Er mochte keine Headsets.
„Geh lieber zu ihm. Am Telefon war er schon:“ Gunter räusperte sich, richtete sich kerzengerade in seinem Stuhl auf und schrie::
war er schon"KOMMA

Grüße
C. Seltsem

 

Hallo C. Seltsem

da hast Du ja eine im guten Sinne seltsame Geschichte ausgebrütet, eine, die mich durch ihre sureale Bildwelt beeindruckt. Ich kann nicht sagen, daß ich sie direkt beim ersten Lesen verstanden hätte, ihr nur hätte folgen können, doch der Erzählfaden hat mich dennoch festgehalten und mitgenommen.
Das war mein best-case Szenario an Reaktionen. Vielen dank dafür. ;) Wenn der Erzählfaden mitnimmt, das ist schon toll.

Wirklich klasse finde ich den fortschreitenden Verfall der Realität, die Einbrüche am Anfang, die völlige Auflösung am Ende, auch hier verstehe ich die Bilder nicht, nicht die Hintergründe, doch ich sehe sie dennoch recht klar und präzise und vor allem nimmt mich die Stimmung mit. Erst die heile Jungfamilie, nach und nach demontiert sie jedes einzelne Kind, bis am Ende nur kaum noch Sand übrig bleibt. Ich kapiere es nicht, doch ich mag es in seiner Wirkung.
Ich weiß nicht, ob es da unbedingt, um kapieren gehen soll.

Jedenfalls hast Du es geschafft, mich in den Bann zu ziehen. Bis auf den Passus mit seinem Chef, der schwierig zu lesen ist und mich deswegen ein wenig gequält hat, habe ich sehr gestaunt und habe sie gerne Wort für Wort gelesen und gesehen.
Und das vermutlich nicht zum letzten Mal.
Der Passus mit dem Chef - ja, ich weiß nicht, der Dialekt soll eben eine ganz bestimmte Stimmung vermitteln, etwas "Persönliches", wenn man so will, aber wenn es "eine Qual" wird, sollte ich da nochmal entschärfen.

Deine Anmerkungen übernehme ich. Freut mich, dass dir die Geschichte gefallen hat und dass du sie sogar noch mal lesen möchtest.
Danke dir
Quinn


Hey Blackwood,

Aber erst das Positive: Ein durchweg sauberer Stil, eine schöne Art des Erzählens, ein Blick für Kleinigkeiten und vermeintliche Unwichtigkeiten, von denen manche sagen, sie würden Geschichten unnötig aufblähen - ich behaupte, sie machen Geschichten erst lebendig und lesenswert.
Der Anfang der Geschichte lebt ja von den Details und den Nebensächlichkeiten. Freut mich, dass dir das gefallen hat. "Schöne Art des Erzählens" höre ich natürlich auch gern.

selten nur hatte ich den Eindruck, dass Du auf Klischee-Charakterisierungen zurückgreifst; Marie-Christine erscheint mir zum Beispiel als solche.
Ja, ich hab nen Faible für dieses spezielle Klischee. Dieses trotzig-altkluge, halb-damenhafte Kind. Weiß der Geier, ich finde es komisch und ... auch ein wenig süß. ;)

(wobei mir der Fiscus etwas zu sehr betont ist, und die Sache mit seiner neuen Arbeit hinterfragt er kaum: hat er die korrekte Nummer? Will er nicht mit einer anderen Person sprechen? Warum gibt er so schnell auf?)
Der Ficus ... ja, es ist halt ein Anhaltspunkt, vielleicht hätte ich da eine Erwähnung rausnehmen sollen. Mit der anderen Person, mit seinem neuen Job ... das sehe ich anders. Er will ihn ja gar nicht und lenkt nur zu gerne ein.

Und dann reißt die Wand ein, nicht weil es die Geschichte so verlangt, sondern weil Du offenbar schnell zum Ende kommen wolltest.
Ist bitter, dass es so erscheint. Ich kann nur beteuern, dass mir dieser Verlauf, das Ende und auch das Tempo des Endes von Anfang so klar war. Der Stein wird den Berg hinaufgerollt und saust dann runter.
Dass es so scheint, als wolle ich "schnell zum Ende kommen" ärgert mich natürlich, auch wenn ich die Gründe für die Aussage sehe.

Die Klinik-Szene würde ich, so wie sie dasteht, ersatzlos streichen, weil sie in das allzu oft gelesene Psychose-Klischee driftet. Man möchte argumentieren, das sei nur konsequent, ich nenne es billig. Du hast es geschafft, die Psychose in den stilleren Momenten greifbar zu machen, Du musst sie weiß Gott nicht mit Zwangsjacke garniert beim Namen nennen.
Ja, das sehe ich auch ein, wobei die Szene - finde ich - schon wieder innerhalb logisch unausweichlich ist. Laura macht sich Sorgen um ihn und benachrichtigt die Behörden.

So einen Fall gab es in der ganzen Geschichte unserer Medizin noch nicht.
gehören nun wirklich in die unterste Schublade. Nicht, dss es keine unbekannten/neuen Fälle mehr geben würde, aber kein Arzt würde dies so offen zugeben.
Ja, stimmt, wenn man es von dieser Warte aus betrachtet, ist es wirklich unterste Schublade und billige Effekthascherei. Ich hatte da beim Schreiben eine ganz andere Position, ich wollte betonen, dass mit dem Auflösen auch medizinische Errungenschaften verschwinden.
Das ist aber sicher eine der schwachen Stellen der Geschichte, da hast du Recht.

Deshalb: Überlege Dir mal, ob Du nicht noch ein wenig mehr Arbeit in die Geschichte stecken willst, das abrupte Ende etwas ausführlicher gestaltest, vielleicht auch etwas anderes ausprobierst. Damit wird die Geschichte länger und für viele unattraktiver, aber wenn das ein schlagfertiges Argument sein soll, kannst Du den gesamten Text um vier fünftel streichen. Damit wäre er für mich freilich lange nicht mehr attraktiv.
Die Länge ist mir ja wurst, Geschichten sind so lang, wie sie eben lang sind. Und wenn eine Geschichte gefällt, kann sie - mir jedenfalls - gar nicht lang genug sein. An der Arbeit sollte es auch nicht liegen; es ist nur schwer für mich, an dem Ende und dem Aufbau des Endes zu rütteln, weil es für mich unabdingbar zu der Geschichte gehört, wie ich sie von Anfang an im Kopf hatte. Durch ein "langsameres Ausgleiten" lassen, durch zwei, drei zusätzliche Szene hätte man auch rein handwerklich das Problem, dass der Perspektivträger, Sand, sich in einem Zustand befindet, in dem die Panik immer weiter dominiert, das wird dann schnell eintönig. Aber okay, ich lasse es mir nochmal durch den Kopf gehen.
Vielleicht melden sich auch noch andere zu der Geschichte.

Dir auf jeden Fall vielen Dank für die Kritik, gerade weil du nach dem ersten Absatz schon keine Lust mehr hattest.

Gruß
Quinn

 

Hej Quinn,

das Problem, dass der Perspektivträger, Sand, sich in einem Zustand befindet, in dem die Panik immer weiter dominiert, das wird dann schnell eintönig.

hier bringst Du auf den Punkt, was mir an der Geschichte fehlt, die ich ansonsten bis auf Winzigkeiten sehr gut, unterhaltsam und spannend finde.

Ich glaube, dass Du ein großes Potential der Geschichte verschenkst, wenn Du so denkst.
Was in Sand vorgeht, während dieses undefinierbare Grau überall auftaucht (etwas zu schnell für meinen Geschmack) was die Panik bewirkt, ist mMn schon interessant, bildet es doch den Gegenpol zur vorher so gut und ausführlich geschilderten "heilen" Welt. Sand wird hier nach meinem Empfinden jedoch unklarer, weniger greifbbar, als hättest Du Dir mehr Gedanken darüber gemacht, wie Du das Grau und die veränderte Umgebung glaubhaft rüberbringst, anstatt Sand und seinen immer kleiner und enger werdenden Gefühlsraum zu zeigen.

Die Überschrift stört mich in ihrer Beliebigkeit.

Und gefallen hat's mir im Großen und Ganzen eben doch!


Grüße von
Ane

 

Hey Ane,

Ich glaube, dass Du ein großes Potential der Geschichte verschenkst, wenn Du so denkst.
Das ist immer gemein, sowas zu sagen. ;)
Potential und so - ja, es wäre halt eine "andere" Geschichte, die dann vielleicht auch "besser" gefallen würde. So eine runde, mit gleichbleibendem Erzähl-Tempo, klassischer, aber ich "wollte" ja extra diesen harten Schnitt, nach der letzten Nacht mit seiner Frau. Und die Gefühlswelt wird ja weiter dargestellt, nur im Zeitraffer, eher von außen.

Was in Sand vorgeht, während dieses undefinierbare Grau überall auftaucht (etwas zu schnell für meinen Geschmack) was die Panik bewirkt, ist mMn schon interessant, bildet es doch den Gegenpol zur vorher so gut und ausführlich geschilderten "heilen" Welt.
Ja, Gegenpol. Die Gewichtung verschiebt sich, Sand Welt kollabiert und die Geschichte mit ihm, sozusagen.
Da hab ich als Autor einfach versagt, wenn ich es nicht gebacken kriege, das zu unterstreichen.

Sand wird hier nach meinem Empfinden jedoch unklarer, weniger greifbbar,
Ja, ich seh das ein. Es tut mir auch in der Seele weh, das einzusehen und zu sagen: Ich bin ratlos. Vielleicht müsste ich da "Kill your darlings"-mäßig von der ursprünglichen Geschichte weg und es so machen, dass die Geschichte "runder" wirkt, es kratzt natürlich an meinem Ego, wenn es dann:

als hättest Du Dir mehr Gedanken darüber gemacht, wie Du das Grau und die veränderte Umgebung glaubhaft rüberbringst, anstatt Sand und seinen immer kleiner und enger werdenden Gefühlsraum zu zeigen.
heißt. Nach Blackwoods Sicht hätte ich am Ende die Lust verloren und wollte nur noch schnell zum Ende kommen.
Das ist schon wirklich ärgerlich. Ehrlich.

Die Überschrift stört mich in ihrer Beliebigkeit.
Das ist kein Fehler der Überschrift, sondern meiner. Weil ich das Thema der "Überschrift" wohl nicht so in das Bewusstsein des Lesers schieben konnte. Offenbar ist es so alltäglich, dass es keinem auffällt, dass in der Geschichte niemand miteinander spricht. Hätte es wohl viel, viel deutlicher schreiben sollen; und mir andere Ideen und Passagen sparen müssen.

Und gefallen hat's mir im Großen und Ganzen eben doch!
Ach, geh. ;) Das sagst du nur so!

Danke dir fürs Lesen und Kritisieren, viel Stoff zum Nachdenken
Quinn

 

Oh, Mann, du schreibst ja schneller Geschichten als ich Kommentare schreiben kann. :D

Diese jedenfalls hat mich nicht ganz überzeugt. Sie ist ohne Frage lesenswert und unterhaltsam, aber irgendwie leer. Wirkt auf mich ein bisschen lustlos. So als ob dir jemand die Aufgabe gestellt hätte, eine gute gebaute Horrorgeschichte nach dem Stilbuch zu schreiben und das hast du halt brav erledigt.
Auch ist für mich der Sinn der Geschichte viel zu offensichtlich: Sand ist ja jemand, der sich zunehmend zurücknehmen und unsichtbar machen will - Er schleicht durch sein eigenes Haus wie ein Einbrecher, seine Frau ist diejenige, die den Platz im Haus beansprucht. Während ihre Dinge ausgestellt sind in Vitrinen, sind seine (alten) Dinge in Schachteln verpackt. Während sie ihren Traum vom Malen verwirklichen kann, muss er sich beruflich zurücknehmen, seinen geliebten Journalistenberuf gegen eine zwar besser bezahlten, aber nicht gerade seinen Träumen entsprechenden Job austauschen. Und auch in der Arbeit versteckt er sich zuerst hinter dem ominösen Ficus. Warum eigentlich? Und auch seine Vergangenheit, ein wesentlicher Teil seiner Identität, muss er auslöschen. Wahrscheinlich soll der Name des Lokals, das er besucht, auch was bedeuten - Atlas - sieht er sich als jemanden, der die Last der Welt zu tragen hat? Und gerade deswegen lässt er sie dann stückchenweise verschwinden? ;) Das mit dem Grau ist wenig einfallsreich und auch sonst kommt dieser Horror nicht sehr subtil daher. Geht wirklich etwas sehr plötzlich.

Was mir sehr gut gefallen hat, sind allerdings diese kleinen Dinge, die Sand macht, diese ganzen Details seiner Handlungen, die du sehr sinnlich beschreibst.

Die Frage ist halt, ob die Geschichte nicht ohne Horrorelement besser geworden wäre, denn diese ganzen sehr realen Familienszenen und das Gespräch mit dem Chef hast du doch sehr gut hinbekommen.

Und wer zum Teufel ist Annalena-Sophie? Ein weiteres Kind, auf das sogar er selbst vergessen hat? ;)

Gruß
Andrea

 

Hey Andrea,

Oh, Mann, du schreibst ja schneller Geschichten als ich Kommentare schreiben kann. :D
Ich seh ja immer das Elend bei meinem Freund, Nick, dem Fisch. Und bevor ich in eine Schreibblockade rutsche, schreib ich halt. ;)
Nein, es stimmt schon, in den letzten beiden Monaten hatte ich einen ziemlichen Kreativ-Schub, werden auch wieder andere Zeiten kommen.

Diese jedenfalls hat mich nicht ganz überzeugt. Sie ist ohne Frage lesenswert und unterhaltsam, aber irgendwie leer. Wirkt auf mich ein bisschen lustlos. So als ob dir jemand die Aufgabe gestellt hätte, eine gute gebaute Horrorgeschichte nach dem Stilbuch zu schreiben und das hast du halt brav erledigt.
Lesenswert, unterhaltsam ist ja schon mal was. Leer - hm, das ist bitter, vor allem weil mich gerade diese Geschichte über einen relativ langen Zeitraum beschäftigt und umgetrieben hat. Sie ist vom Ansatz her schon "ernster" als das meiste, was ich sonst so schreibe. Vielleicht fehlt gerade das und deshalb wirkt sie so "leer".

Auch ist für mich der Sinn der Geschichte viel zu offensichtlich:
Das hat mir ja noch nie einer gesagt, bisher war es eher immer die andere Richtung.

Sand ist ja jemand, der sich zunehmend zurücknehmen und unsichtbar machen will - Er schleicht durch sein eigenes Haus wie ein Einbrecher, seine Frau ist diejenige, die den Platz im Haus beansprucht. Während ihre Dinge ausgestellt sind in Vitrinen, sind seine (alten) Dinge in Schachteln verpackt. Während sie ihren Traum vom Malen verwirklichen kann, muss er sich beruflich zurücknehmen, seinen geliebten Journalistenberuf gegen eine zwar besser bezahlten, aber nicht gerade seinen Träumen entsprechenden Job austauschen. Und auch in der Arbeit versteckt er sich zuerst hinter dem ominösen Ficus. Warum eigentlich? Und auch seine Vergangenheit, ein wesentlicher Teil seiner Identität, muss er auslöschen. Wahrscheinlich soll der Name des Lokals, das er besucht, auch was bedeuten - Atlas - sieht er sich als jemanden, der die Last der Welt zu tragen hat? Und gerade deswegen lässt er sie dann stückchenweise verschwinden? ;)
Das sind alles schöne Überlegungen, ja. Ich wollte auch noch den Aspekt betonen, dass in der Geschichte keine wirkliche Kommunikation stattfindet, jeder treibt für sich alleine dahin. Seine Frau malt, für die Kellnerin ist er nur ein Gesicht unter vielen, seine Tochter lebt in einer anderen Welt, sein Arbeitskollege, sein Chef. Ist mir wohl nicht so gut gelungen.

Das mit dem Grau ist wenig einfallsreich und auch sonst kommt dieser Horror nicht sehr subtil daher. Geht wirklich etwas sehr plötzlich.
Zum Ende hin sollte es sich so rasant entwickeln. Ich dachte dadurch entsteht der Effekt, den ich hervorrufen wollte. Gerade nachdem er mit seiner Frau geschlafen hat. Ging wohl ziemlich in die Hose.

Was mir sehr gut gefallen hat, sind allerdings diese kleinen Dinge, die Sand macht, diese ganzen Details seiner Handlungen, die du sehr sinnlich beschreibst.
Danke, dadurch wird die Geschichte allerdings auch so lang und wohl auch sperrig.

Die Frage ist halt, ob die Geschichte nicht ohne Horrorelement besser geworden wäre, denn diese ganzen sehr realen Familienszenen und das Gespräch mit dem Chef hast du doch sehr gut hinbekommen.
Ach, ja. Wahrscheinlich wäre es ohne das surreale (Horror würd ich gar nicht dazu sagen) Element eine rundere Geschichte geworden. Aber ... ich brauch für mich wohl dieses Phantastik-Element.

Und wer zum Teufel ist Annalena-Sophie? Ein weiteres Kind, auf das sogar er selbst vergessen hat? ;)
Die Fehlgeburt, das eigentlich "zweite Kind".

Danke, dass du dir mal wieder die Zeit genommen hast und dich mit dieser Geschichte befasst hat, auch wenn sie dir nicht so zugesagt hat (was natürlich wirklich Schade ist)
Quinn

 

Hallo Herr Bernhard,
ich schreibe ja Geschichten, um zu gefallen. Also wenigstens unter anderem. Und wenn sie nicht gefallen - und zwar nicht nur dir, sondern auch den anderen "Lesern" nicht, dann sind sie misslungen. Jedenfalls in dieser Absicht.
Sie könnten natürlich für meine persönliche Entwicklung wichtig sein, oder weiß der Geier was. Aber das ist dann erstmal ein Nebenschauplatz.
Wenn ich hier Geschichten einstelle, dann natürlich, "um zu gefallen".

Die hier hat dir (und den anderen) in vielen Punkten nicht gefallen. Schade. Wirklich.

Danke dir für deinen Kommentar und deine Zeit
Quinn

 
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Zuletzt von einem Teammitglied bearbeitet:

Hallo Quinn,

Ich muss zugeben, ich wollte diese Geschichte schon seit einiger Zeit lesen, konnte mich aber nie so richtig dazu durchringen, weil sie mir immer zu lang war. Aber jetzt hab ichs geschafft :bounce: juhu!

Also im Großen und Ganzen hast du mich flüssig durch die Handlung gebracht, aber an einigen Stellen habe ich mich dabei erwischt, wie ich mit den Gedanken schon woanders war.

Der Dialekt des Chefs hat mich auch ein bisschen gestört. An sich ist ja ein Dialekt klasse, lockert alles ein bisschen auf und so, aber was war das bitte für einer? Am Anfang dachte ich, da weiß einer nicht, wie Berlinerisch klingt, aber dann war ich der Meinung, das sollte Hessisch sein. Täusche ich mich? Klang für mich irgendwie nicht authentisch, das würde ich überarbeiten.


Und das Ende fand ich auch nicht so überzeugend, da bin ich ganz Blackwoods Meinung.
Mein letzter Kritikpunkt wären die Namen der Kinder (oder Pseudokinder). Da blickt man irgendwie nicht durch.


So das wär alles was ich zu meckern hab. Deinen Schreibstil finde ich sehr gut, den trockenen Humor in den Dialogen fand ich auch klasse.

Sand starrte an dem Alten vorbei auf die Weltkarte und fragte: „Warum fehlt da Australien?“
:D
„Was?“, fragte Sand. „Ach so, dieser blöde Zauberer da.“
:rotfl:
Vielleicht hab ich ja nen komischen Humor aber die Dialoge waren top. :thumbsup:
Alles in Allem wars zwar für mich ne schwere Geburt, aber trotzdem gern gelesen!

Liebe Grüße
Apfelstrudel

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo apfelstrudel,

Ich muss zugeben, ich wollte diese Geschichte schon seit einiger Zeit lesen, konnte mich aber nie so richtig dazu durchringen, weil sie mir immer zu lang war. Aber jetzt hab ichs geschafft :bounce: juhu!
Die Geschichte ist ziemlich sperrig, ja. Bestimmte Teile (wahrscheinlich gerade der Teil im Atlas-Restaurant) - die funktionieren wohl nur, wenn der Leser tief drin ist.

Also im Großen und Ganzen hast du mich flüssig durch die Handlung gebracht, aber an einigen Stellen habe ich mich dabei erwischt, wie ich mit den Gedanken schon woanders war.
Das meinte ich. ;)

Der Dialekt des Chefs hat mich auch ein bisschen gestört. An sich ist ja ein Dialekt klasse, lockert alles ein bisschen auf und so, aber was war das bitte für einer? Am Anfang dachte ich, da weiß einer nicht, wie Berlinerisch klingt, aber dann war ich der Meinung, das sollte Hessisch sein. Täusche ich mich? Klang für mich irgendwie nicht authentisch, das würde ich überarbeiten.
Sollte so eine Art Hessisch sein, ja. Kann das einfach nicht. Ist dann auch immer der Kompromiss, wie man es noch versteht, usw. Ich guck noch mal drüber, aber ich fürchte: Das kann ich einfach nicht. ;)

Und das Ende fand ich auch nicht so überzeugend, da bin ich ganz Blackwoods Meinung.
Mein letzter Kritikpunkt wären die Namen der Kinder (oder Pseudokinder). Da blickt man irgendwie nicht durch.
Die Kindernamen sind doch süß. Mit dem Ende - okay.

So das wär alles was ich zu meckern hab. Deinen Schreibstil finde ich sehr gut, den trockenen Humor in den Dialogen fand ich auch klasse.
Sand starrte an dem Alten vorbei auf die Weltkarte und fragte: „Warum fehlt da Australien?“
:D
„Was?“, fragte Sand. „Ach so, dieser blöde Zauberer da.“
:rotfl:
Vielleicht hab ich ja nen komischen Humor aber die Dialoge waren top. :thumbsup:
Alles in Allem wars zwar für mich ne schwere Geburt, aber trotzdem gern gelesen!
Jau, das freut mich doch. Schwere Geburt, aber gern gelesen. Das ist ja was.
Die beiden zitierten Stellen mag ich auch gerne.

Danke dir fürs Lesen, gerade wenn damit eine Anstrengung verbunden war
Quinn

P.S.: Oh, Gott. Ich sehe gerade, ich habe meine neue Macht als Moderator unterschätzt und statt den Beitrag zu zitieren, auf bearbeiten geklickt!
Ehm ... öhm .... ich muß weg!

P.P.S.: Ich hab jetzt deinen Beitrag wieder rekonstruiert (Gott, sei Dank hatte ich ihn komplett zitiert, das einzige, wo ich raten musste, waren die Gruß- und die Abschiedsformel ... ehm, "Hallo"/"Liebe Grüße"? Wirklich, das tut mir leid!)

 

Hallo Quinn!
Du hast Glück, ich verzeihe dir. :D Die gruß und Abschiedformel weiß ich selber nicht mehr so genau, aber ich denke du hast es richtig gemacht. Wär mir also gar nicht aufgefallen ;)
Also dann!
Apfelstrudel

 

Hi Quinsy

Der Titel ist schon mal passend - fängt ja gut an, was? Wer hat das nochmal gesagt, jedermann ist eine Insel, und ich meine jetzt nicht "Castaway".

Allein schon der Anfang ist einfach so ein typischer Männeranfang, echt jetzt, EheMann holt sich einen runter, weil er schon länger keinen Sex hatte, da seine heiße Frau schwanger war, direkt neben ihm liegt und doch fern ist. Er hat Angst sie gar zu berühren und auf soviel Samt ist er nicht vorbereit, oder darauf nicht, dass sie ihn wirklich ranlassen wird. Bei deinen Geschichten interpretiere ich nichts Großartiges rein, weil ich sie als reine Unterhaltung ansehe, ist doch okay, oder? :D ;)

„Oh, Mister Clooney. Sie machen das aber gut.“
Sie ist natürlich nicht nur jung und schön und heiß, nee, sie ist auch noch lustig.
Laura kicherte leise. Sand holte Luft, setzte erneut an. Dann schrie das Baby. Lukas, ermahnte sich Sand. Sein Stammhalter.
Der Typ erinnert mich an Jim.
Du hast frühestens Sex, wenn du fünfunddreißig bist. Glaub ja nicht, dass ich das vergesse. Und während er sich ausmalte, wie er in zehn Jahren alle fünf Minuten in ihr Zimmer platzen würde, um nachzusehen, ob seine liebe Tochter und ihr Schulkamerad, die für irgendeine wichtige Arbeit „lernten“, genug Getränke hatten … während er also in Rachephantasien schwelgte, ging er Windeln wechseln und nach dem Kleinen sehen.
Jim!! Aber sowas von. Wie welcher Jim? "Immer wieder Jim"!
„Ich bin ein irischer Kobold und entführe Euer Kind, Mylady, wenn Ihr mir nicht sofort zu Diensten seid!“ oder vielleicht Strahlenpistolengeräusche imitieren oder „Ach, wie gut, dass niemand weiß“ sagen in einer Pumuckl-Stimme oder einfach „Hallo, Mutter; ich finde es nicht gut, dass du mich hier alleine lässt; ich fühle mich einsam und sehne mich nach Kommunikation; ich habe einen IQ von zweihundertundachtzehn, bin die fünfzehnte Inkarnation des Dalai-Lamas, kann mich an meine eigene Geburt erinnern und ich möchte Tequila, Salz und eine Zigarre.“
:lol:
„Wir wissen nicht, was mit ihm los ist. So einen Fall gab es in der ganzen Geschichte unserer Medizin noch nicht.“
Das ist natürlich furchtbar billig.

Ich hab die Geschichte schon zwei Mal gelesen und diesmal habe ich sie nur überflogen, weil ich endlich mal meinen Kommentar dazu loswerden wollte.
Ich mag diese ganzen Männerphantasien, ehrlich, wie der Typ sich einbildet, er hätte ein schönes Leben, mit dieser tollen Frau, sein tolles Haus (die Yacht hat nur noch gefehlt.) mit seinen tollen Kindern, in seiner reellen Welt, die dann schlagartig ins Surreale kippt und dieser Punkt wurde schon angemerkt, und du weißt, dass dieses Schlagartige die Geschichte schwächt. Das Ende, speziell die Szene mit den Ärzten ist mE zu plump. Die letzte Passage finde ich gut, ein passendes Ende, die Ärzte würde ich rausnehmen, er muss nicht in die Klinik landen. Es kann ruhig damit enden, wie er seine schöne Traumwelt löscht und droht selbt gelöscht zu werden. Wie auch immer. Das Grau frisst alles, was er kennt und am Ende wird er gefressen.
Was hier noch bemängelt wurde, was ich aber toll finde, sind die ganzen kleinen Details, die, wie ich finde, diese Geschichte eigentlich tragen. Diese Geschichte wäre ohne diese Details, wie z.B mit der Pflanze, mit der Lederjacke, mit dem Aufzug, mit dem Foto, mit seinen Witzen, mit dem Post-it, mit dem Kollegen, der eine Idee für eine Werbung hat, all diese Kleinigkeiten bilden die Welt des Protagonisten und wenn du diese Kleinigkeiten rausnimmst, dann haben wir eigentlich das Ende, das Grau.
Och Gott, ich wollte ja eigentlich nicht zu viel schreiben, wollte nur dir sagen, dass ich die Geschichte ganz toll finde. Empfehlung folgt! (Denn ich denke, die GEschichte ist nach der Nummer mit dem freien Wille, die zweitbeste Geschichte von dir : )

Cu JoBlack

Edit:

Wie praktisch, du bist der Mod. Dann empfehl mal deine Geschichte. :D

 

Hallo JoBlack,

Der Titel ist schon mal passend - fängt ja gut an, was? Wer hat das nochmal gesagt, jedermann ist eine Insel, und ich meine jetzt nicht "Castaway".
Niemand ist eine Insel ... das ist das Gedicht, das Hemingway zu dem Titel "Wem die Stunde schlägt" inspiriert hat. John Donne heißt der Mann.

Bei deinen Geschichten interpretiere ich nichts Großartiges rein, weil ich sie als reine Unterhaltung ansehe, ist doch okay, oder? :D ;)
Unbedingt.

Sie ist natürlich nicht nur jung und schön und heiß, nee, sie ist auch noch lustig.
Meine Geschichte, meine Traumfrau! Woran siehst du, dass sie jung ist? Nebenbeibemerkt.

Jim!! Aber sowas von. Wie welcher Jim? "Immer wieder Jim"!
Ja, du schreibst ja auch noch wie super-sympathisch du ihn findest, das sind schon so kleine Tricks. Ich wollte von Anfang an, dass man Sand wirklich mag, denn man begleitet ihn ja durch die ganze Geschichte, gibt keine Perspektivwechsel und nichts.

Ich mag diese ganzen Männerphantasien, ehrlich, wie der Typ sich einbildet, er hätte ein schönes Leben, mit dieser tollen Frau, sein tolles Haus (die Yacht hat nur noch gefehlt.) mit seinen tollen Kindern, in seiner reellen Welt, die dann schlagartig ins Surreale kippt
Freut mich, dass dir das gefällt.

und dieser Punkt wurde schon angemerkt, und du weißt, dass dieses Schlagartige die Geschichte schwächt. Das Ende, speziell die Szene mit den Ärzten ist mE zu plump. Die letzte Passage finde ich gut, ein passendes Ende, die Ärzte würde ich rausnehmen, er muss nicht in die Klinik landen. Es kann ruhig damit enden, wie er seine schöne Traumwelt löscht und droht selbt gelöscht zu werden. Wie auch immer. Das Grau frisst alles, was er kennt und am Ende wird er gefressen.
Ja, die Arzt-Szene wird wohl allgemein als zu effektheischend empfunden, ich fand beim Schreiben es war noch einmal ein Zwischenschritt nötig, zwischen der Szene mit den Kindern und dem Ende.

Was hier noch bemängelt wurde, was ich aber toll finde, sind die ganzen kleinen Details, die, wie ich finde, diese Geschichte eigentlich tragen. Diese Geschichte wäre ohne diese Details, wie z.B mit der Pflanze, mit der Lederjacke, mit dem Aufzug, mit dem Foto, mit seinen Witzen, mit dem Post-it, mit dem Kollegen, der eine Idee für eine Werbung hat, all diese Kleinigkeiten bilden die Welt des Protagonisten und wenn du diese Kleinigkeiten rausnimmst, dann haben wir eigentlich das Ende, das Grau.
Das freut mich sehr, dass du es so gelesen hast.

(Denn ich denke, die GEschichte ist nach der Nummer mit dem freien Wille, die zweitbeste Geschichte von dir : )
Das sind aber zwei ganz verschiedene Schuhe. :) Aber freut mich, dass dir die Geschichte so gut gefallen hat und dass sie dir sogar eine Empfehlung wert war.

Vielen Dank fürs Lesen und dass du dir die Zeit freigeräumt hast, doch noch einen Kommentar zu schreiben :)
Quinn

 

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