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Jemand, der den Teufel gesehen hatte
Mein Vater läuft voraus. Das tat er immer schon. Wir hinter ihm; er mit großen Schritten, den Rücken durchgestreckt, fünf Meter vor uns, auf dem Sandweg. „Wie bei den Türken“, nannte mein Bruder das; er sagte es, wenn meine Mutter, er und ich hinter meinen Vater liefen, auf dem Weg zu irgendeinem Italiener, einem Wirtshaus oder dem Parkplatz.
Über diese Schritte sprach mein Vater mit mir, als ich vielleicht zehn war. Wir gingen durch die Stadt, vorbei an Handyshops, Dönerläden, Tageskneipen; er ging mit großen, sicheren Schritten, in Hemd und Sakko, schwarzen Wildlederschuhen; er drehte sich um, zu mir herunter, sah, wie ich hetzte und sagte: „Ich weiß noch, wie das war, wenn ich mit meinem Vater gelaufen bin, dem Obba; dass er so verdammt große Schritte gegangen ist. Dass ich richtig hetzen musste. Daran erinnere ich mich; wie ich neben ihm laufe, und er riesige Schritte macht, und ich nicht hinterherkomme.“
Später fuhren wir mit dem Stadtbus von seinem Schuhladen nach Hause. Auf dem Stoff des Sitzes klebten Kaugummis. An den Rückenlehnen gesprayte Taggs. Mein Vater breitete eine Tageszeitung, die er gerollt unter dem Arm trug, auf meinem und seinem Sitz aus, bevor wir uns setzten. Sein Gesicht wirkte angespannt und ernst; die Babuschkas in der Sitzreihe vor uns grüßte er nickend. Mit geradem Rücken saß er da. Im Bus sprachen wir kein Wort.
Wir stiegen aus, den kurzen Weg zum Reihenhaus zündete er sich eine Zigarette an, ging sehr langsam und inhalierte.
Mein Vater rauchte im Büro über seinem Schuhladen weiße Philip Morris. Das Büro stand immer voller überfüllter Kartons. Einmal zog er den Schreibtischschrank auf, und zeigte mir zwei Stangen türkische Philip Morris. Er grinste, als teilten wir nun ein Geheimnis.
Ich erinnere mich an einen langen, heißen Sommer, als ich ein Kind war. Ich führte stundenlange philosophische Gespräche im kleinen Gartenstück hinter dem Reihenhaus mit meinem Vater; mein Vater vertrat den Standpunkt, dass Geld nicht so wichtig sei und Jesus nie jemanden geschlagen hätte, sich auch nie gewehrt hätte, wenn ihn jemand geschlagen hätte. Das verwunderte mich am meisten.
Einmal fuhren wir mit dem alten Ford in den Italienurlaub, und mein Vater war so von Zorn zerfressen, dass meine Mutter, mein Bruder und ich uns für mehrere Stunden ins Hotelzimmer einsperrten.
„Du kommst hier nicht rein! Bis du dich abreagiert hast!“, rief meine Mutter vom Balkon. Ich sah ihn draußen auf dem italienischen Pflasterstein-Gehweg auf und ab tigern, in schwarzem Hemd, rauchend.
Eine Zeitlang betrank er sich schrecklich abends auf der Terrasse, alleine, und bedrohlich ruhig wie ein Hund, der beißen wird.
Aber dann wurde er wieder der Vater, mit dem ich philosophische Gespräche führte, und er ging mit meinem Bruder und mir die Straße hinauf zum kleinen Spielplatz, um stundenlang gegen meinen Bruder an der Tischtennisplatte Matches zu spielen, bei denen er lachte, die Hände über den Kopf schlug und meinen Bruder auf den Rücken klopfte. Ich stand daneben, lachend, und kommentierte die Matches wie ein Nachrichtensprecher - mit Herzblut, ich schwitzte ebenso, wenn wir zuhause ankamen und meine Mutter das Abendessen gedeckt hatte.
Im Sommer, als ich zwölf war, ertrank mein Bruder in einem der öffentlichen Badeseen, an einem Stück, das nicht zum Schwimmen freigegeben war. Er war sechzehn.
Mein Vater hängte ein postergroßes Foto meines Bruders in dickem Holzrahmen an die Raufasertapete neben seinem Schreibtisch. Die Sonne strahlte auf diesem Foto hinter meinem Bruder, und er ging lächelnd mit Sonnenbrille über einen Sandstrand.
Die Beerdigung über war mein Vater von einem unbändigen Zorn befangen; auf dem Parkplatz prügelten wir uns beinahe. Ich heulte, meine Beine zitterten, und ich schrie: „Ich steige hier nicht aus! Ich will da nicht hin!“ Mein Vater hatte mich am Arm gepackt, mit blutrotem Kopf, dicker, blauer Ader an der Stirn und fauchte: „Du kommst mit!“
„Ich haue dir eine in die Fresse, ich sag‘s dir!“
„Du kommst mit!“
Es machte mich irre, dass er mein Handgelenk nicht losließ; ich schlug und trat nach ihm, auf dem Beifahrersitz.
Er blieb ruhig.
Er trug die Asche meines Bruders zum Grab; mit erhabenen, langsamen, großen Schritten. Die Urne hielt er mit beiden Händen, ein Stück von sich gestreckt, vor der Brust, wie ein Priester. Er blickte nicht vor oder zurück; er weinte nicht. Er verzog keine Miene. Da war nur etwas sehr Müdes und Weiches an seinem Blick; etwas Kindliches. Von der Friedhofskirche den Sandweg entlang, bis zur Urne. Die Sonne brannte vom azurblauen, wolkenfreien Himmel. Es hatte achtunddreißig Grad im Schatten. Er führte den Trauertzug an: die Tanten, Onkels, seine Mutter, mich und seine Ehefrau, die jugendlichen Freunde meines Bruders, seine Klassenkameraden mit deren Eltern hinter ihm. Er trug ein Seidenhemd und schwarzes Sakko, Krawatte und Anzugshose. Er ging mit durchgestrecktem Kreuz.
Der Priester spritzte Weihwasser auf die Urne und ließ sie mit Seilzug in den Boden.
Danach gingen wir alle Essen, wir scherzten und lachten. Niemand sprach über meinen Bruder. Später legte sich meine Mutter in das Bett meines Bruders, steif und auf dem Rücken, und weinte. Mein Vater nahm sie am Handgelenk; er setzte sich auf die Matratze. Er sah unendlich erschöpft aus; das Gesicht voller Falten, aschweiß. Was dann geschah, weiß ich nicht mehr.
In den großen Ferien freundete ich mich mit einem Jungen aus meiner Parallelklasse an, und wir begannen tagelang, mit den Fahrrädern durchs Viertel zu fahren. Wir
tranken Alkopops und rauchten Zigaretten. Aber nie konnte ich meinen toten Bruder, wie er dalag, im Krankenhausbett, vergessen. Die verschrumpelte, gelbe Haut. Der offene Mund. Meinen Bruder so gesehen zu haben, wurde zu meinem Geheimnis; ein Geheimnis, das ich mit meinen Eltern teilte, aber über das wir schwiegen.
Einmal fuhren wir mit den Rädern am Laden meines Vaters vorbei; und ich sah, wie er hinter dem Kassentresen stand und mit einer Frau im kurzen Kleid redete. Er lachte, und so hatte ich meinen Vater noch nie lachen sehen. Sie strich ihm über dem Arm, ganz beiläufig.
Seine Haare verfärbten sich in diesem Sommer von rabenschwarz zu silber. Im Keller fand ich Ölgemälde von ihm, die er als junger Mann angefertigt hatte; signiert mit Kade.
Ich sah ihn einige Male auf der Terrasse sitzen, nachts, mit Rotweinglas, glasigem Blick und schwerer Zunge; „Na, wo kommst du her?“
„Von draußen.“
Er blickte mich lächelnd an, fast stolz. Einmal sah ich, dass er eine geöffnete Bibel in den Händen hielt.
Meine Mutter bekam oft keine Luft; atmend, mit der Hand am Herz saß sie blass auf der Couch, die Beine hochgelegt. Mein Vater hinter ihr, die Hände auf ihren Schultern.
Ein paarmal weckte mein Vater mich nachts. „Komm mit, Kurzer.“
„Wohin?“
Wir fuhren mit dem Ford durch die Stadt, er rauchend am Steuer. Er sprach von Diebesbanden. Vor seinem Laden hielten wir; er rüttelte an der Glastür seines Schuhladens.
Er renovierte seinen Schuhladen; er steckte alles an Vermögen, das er bei der Bank geparkt hatte, in neue Böden, Wände, Regale, Lichter und die Glasfassade.
Er stand vor dem ersten Tageslicht auf, und kam, als ich schon im Bett lag. Von meiner Mutter erfuhr ich, dass er den Umbau wie ein römischer Feldheer führte; obwohl er nur Mieter in diesem Gebäude war. Er befehligte den Bauherrn, die Monteure und Arbeiter.
Einmal warf er Brote über den Esstisch, vergrab sein Gesicht in seine Hände und gab ein zorniges, verzweifeltes, erschöpftes Wimmern von sich.
Bei der Einweihung kam der Bürgermeister, und das Foto eines Lokaljournalisten wurde in der Zeitung gedruckt.
Aber die Kunden blieben aus. Der Verkäuferzuwachs, den mein Vater sich erhoffte, trat nicht ein.
An der Geburtstagsfeier meines Onkels bemerkte ich den Bauch, der sich bei meinem Vater gebildet hatte.
Meine Mutter musste ihn von einer Kneipe abholen, weil er sturzbetrunken in der Toilette einen Weinkrampf bekommen hatte. Seine Beine versagten ihm; er konnte nicht mehr aufstehen. Sie trugen ihn ins Auto, und hatten Sorge, es wäre ein Schlaganfall.
Sie schrien sich in der Küche an; ich hörte es in meinem Zimmer. Wenn ich in die Küche kam, räumten sie Tassen ein oder spülten Teller ab.
Ich zog aus und schwängerte ein Mädchen. Ich war siebzehn. Ich begann eine Ausbildung zum Hotelfachmann und verkaufte Flaschenbier und Doppelzimmer hinter Rezeptionen.
Meine Freundin verlor ihr Kind; dann verließ sie mich.
Meine Mutter bekam Tabletten; aber erst, nachdem sie drei Jahre eine Psychotherapie besuchte, verschwanden ihre Herzschmerzen.
Meine Eltern musste ich mit dem Auto von einer Hochzeit abholen; mein Vater hätte während der Feierlichkeiten einen Heulkrampf in der Toilette bekommen. Er saß völlig fertig hinter mir, auf dem Rücksitz. Er sprach kein Wort, blickte aus dem Fenster, wie jemand, der den Teufel gesehen hatte.
„Das passiert ihm bei Hochzeiten“, sagte meine Mutter.
Eine Zeitlang lieh ich meinem Vater Geld; er hatte mir einen Kontoauszug gezeigt, in seinem Heimbüro, auf dem der Betrag von 283 Euro stand. „Das wirft der Laden aktuell ab“, sagte er. Sie lebten vom Krankengeld meiner Mutter.
Dann endete das abrupt; mein Vater blockierte meine Zahlungen.
Sie beauftragten einen Ausverkäufer und verkauften ihr komplettes Lager; anschließend schlossen sie den Laden.
Er begann schrecklich zu trinken; und nahm so viel zu, dass sich sein Gesicht verformte; er bekam ein neues, anderes Gesicht, pralle Backen, seine Augen wirkten ängstlich. Dann begann etwas, das sein Leben änderte. Es begann damit, dass er die Büsche und den Rasen, die um das Gartensofa, das mein Bruder so liebte, gewachsen waren, herrichtete; er schnitt das Grün in Form, düngte den verdorrten Rasen, mähte und wässerte ihn.
Innerhalb von Wochen richtete er den Garten seines Reihenhauses her; er rüstete sein Werkzeug auf, pflanzte Gemüsebeete, Rosen, Erdbeeren, Himbeeren, Rosmarin, und baute zwei Tomatengewächshäuser. Jede freie Minute verbrachte er in seinem Garten. Unter seinen Nachbarn bekam er den Ruf als derjenige, mit dem schönen, idyllischen, hergerichteten Garten.
Ich war fünfundzwanzig.
Ich besuchte meine Eltern; mein Vater saß im Garten, unter der neu errichteten Pergola, und winkte mir zu, mit überschlagenen Beinen und Weizenglas, als ich durchs Gartentor kam. Neben ihm saß ein Mann, Mitte dreißig. Sein Name war Wadim; er und seine Frau seien vor kurzem ins Nachbarhaus gezogen. Sie hatten ein Baby und einen Dackel.
An der Art, wie mein Vater und Wadim sich anblickten, verstand ich ihre Beziehung. Sie hatten mit der Schubkarre in Wadims Garten gearbeitet. Wadim und Julia brachten meinen Eltern Mitbringsel aus ihrem Italienurlaub mit; am Zaun oder Parkplatz unterhielten sie sich. Meine Mutter erzählte mir, dass Wadims Vater gestorben sei, als er fünfzehn war, in Kasachstan. Wir schütteln uns die Hände. Er arbeitet als Ingenieur in der Großindustrie.
Ich habe eine kleine Tochter. Mein Vater geht vor uns; in großen, geschäftigen Schritten. Wenn ich ihn frage, was er den ganzen Tag tut, antwortet er, er hätte so viel zu tun, er könne das gar nicht alles aufzählen; das Haus; Einkäufe; letzter Papierkram nach der Geschäftsauflösung; Bürokratie mit dem Staat. Natürlich der Garten. Radfahrern weicht er nicht aus. Er geht mit durchgestrecktem Rücken, geballten Fäusten. Er möchte die ganze Welt wissen lassen, dass er im Krieg mit ihr ist; aber da sind auch die Ölgemälde in seinem Keller. Als Kind habe ich mit ihm im Garten gezeltet, und über die Sterne philosophiert. „Warum sieht man manche Sterne nicht, wenn man sie direkt ansieht?“ Er trägt Seidenhemd, Wollpullover und Lackschuhe; am Imbissstand reden wir über die Schönheit dieser Stadt, ich erzähle, meine Tochter sei bereits mit offenen Augen geboren, neugierig und wach. Später erzählt er von Wadim, beiläufig, in einem Nebensatz, und ich merke, wie da mehr ist als das Gesagte. Gemälde in seinem Keller. Er blickt weg von mir, zieht an der Zigarette, der Wind streicht ihm durchs Haar.