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Jenseits der Trauer

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12.05.2025
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Jenseits der Trauer

Die Grunderfahrung der Trauer ist mir nicht unbekannt. Die ersten Erlebnisse dieser Art liegen Jahre zurück, sie waren ganz anderen Ursprungs als heute: Tod der Großeltern, der Eltern, einiger meiner Freunde, von Nachbarn. Nun der Tod meiner Ehefrau. Siebenunddreißig gemeinsame Jahre lang hatten wir eine funktionierende, überwiegend harmonische Ehe geführt. Mit allem, was dazu gehört, so das Credo meiner Frau. Ich habe einige wenige, wie ich meine nebensächliche Details, anders in Erinnerung als sie, habe diese jedoch nie ausgesprochen, dazu gab es keinen triftigen Grund; denn ich bin zu keiner Zeit in unserer Ehe unglücklich gewesen. Wir gingen überwiegend liebevoll miteinander um. Hierbei habe ich es immer als angenehm empfunden, geführt zu werden, mich anzupassen, mich gelegentlich anzulehnen. Ich fühlte mich wohl an der Seite einer starken Frau.

Nur ein für mich wichtiges Thema habe ich dauerhaft ausgeklammert: Meinen Traum von einer Reise nach Usbekistan, entlang der Seidenstraße, von Samarkand nach Buchara. Dieses Verlangen trage ich seit Jahrzehnten in mir, und es treibt mich im Laufe der Jahre immer stärker um. Ich kann den konkreten Ursprung dieser Sehnsucht nicht erklären - er war irgendwann ganz einfach da. Diese Sehnsucht dominiert seitdem einen großen Raum meiner Tagträume. Mit diesem Wunsch hätte ich meiner Frau jedoch niemals kommen können, unter keinen Umständen, dafür war sie zu konventionell, zu bodenständig gewesen - und ich scheue Konflikte. Gemeinsame Reisen auf die Balearen, sowie Radtouren entlang Elbe, Weser oder Mosel, das war für sie der sehr geschätzte Reisestandard, ich passte mich dem an, nicht ungern, gebe ich zu.

Nun gilt es die ersten schweren Monate der Trauer zu überstehen, den akuten Schmerz des Verlusts zu überwinden. Mein bisheriges Leben war krachend eingestürzt, ich muss herauskommen aus meiner tiefen Niedergeschlagenheit. Als Maßnahme erscheint mir eine Reflexion, oder besser noch, die Verwirklichung meines Lebenstraums, die entscheidende Maßnahme zu sein - ich steige tief in diesen ein. So plane ich den Start in ein neues Leben. Dieses gilt es nun allerdings alleine zu bewältigen. Es würde eine komplett neue Erfahrung für mich bedeuten, ein Leben in Ungewissheit zu gestalten, ohne vertraute Zweisamkeit, aber auch ohne die Verpflichtung einer Rechtfertigung gegenüber einer Bezugsperson. Von der Erfüllung meines großen Traums, einer Reise entlang der Seidenstraße, verspreche ich mir den Übergang in ein anderes Leben.

Im Prinzip steht dieser Plan bereits in allen wichtigen Details fest; ich habe die Reise ungezählte Male im Geiste durchgespielt, alle relevanten Szenarien wieder und wieder in meiner Fantasie durchlebt. Und so benötige ich keine zusätzlichen Informationen über Land und Leute. Und als der Traum dann konkret greifbar ist, bieten die Abläufe alles, was ich mir erträumt habe. Allein das Leben in dieser traumhaften Umgebung, die Magie dieses Sehnsuchtsortes, inmitten der mittelalterlichen orientalischen Kulturstätten, in Samarkand und an anderen Orten in Zentralasien, mit all den prächtigen Moscheen, Mausoleen und Medresen, das fühlt sich unfassbar schön an. Dies allein ist eine solche Reise wert. Ich erlebe mich dort im Rhythmus des orientalischen Flairs, wo ich mich in den engen Gassen in Buchara, einer der ältesten Städte des Orients, gesäumt von jahrhundertealten Häusern, auf eine Moschee mit türkisfarbenen Kuppeln zubewege. Dort, in deren weiträumigem Atrium, ruht das Leben, jetzt in der heißen Mittagssonne. Ich sehe ein paar Katzen in den schattigen Ecken der Gemäuers dösen; einige ältere Männer mit ihren typischen Turbanen ruhen im Schatten der filigran gearbeiteten Arkaden - über dem Ganzen scheint eine Aura von Zeitlosigkeit zu schweben.

Und das von mir erträumte Leben geht weiter, ich erfahre eine Steigerung meiner Fantasien während des Besuchs der kulturellen Schätze in dieser alten Metropole. Dort treffe ich, völlig unvorhergesehen und mit Urgewalt, auf einen Menschen, der mein Leben komplett verändert. Es ist die Begegnung mit einer einzigartigen Frau, deren Ausstrahlung mich augenblicklich in ihren Bann zieht, deren spezielle Aura mir ein Lebensgefühl vermittelt, das für mich vorher nicht vorstellbar gewesen ist, nicht einmal in meinen kühnsten Träumen. Sie ist eine Suchende, die ihre Komfortzone verlassen hat, um den Weg zu sich selbst zu finden, um dann am Ziel ihres Weges den Zustand von Mensch und Natur zu reflektieren und davon zu berichten. So finden zwei forschende Seelen, von unterschiedlichen Impulsen angetrieben, im orientalischen Buchara zueinander. Wir erleben dort eine Zweisamkeit von höchster Intensität, und für mich als überaus geschätzte Erfahrung: auf Augenhöhe. In solch einem Zustand hatte ich mich seitlanger Zeit nicht mehr befunden, jedoch oft davon geträumt. Nun wähne ich mich am Ziel meines Traums; die Widrigkeiten meiner Lebensumstände scheinen hinter mir zu liegen.

Diese Gefühlslage macht mich empfänglich, neue, unbekannte Zieleanzustreben. Ich lasse mich mich von den Projektionen dieser charismatischen Frau mitreißen, deren Weg nicht hier an den vielfältigen Kulturstätten der Seidenstraße enden soll. Diese Orte sollen für sie nur Zwischenstopp sein auf ihrem Weg zu ihrem erklärten Endziel, den Gipfel des Berges Ararat. Als ebenso inspirierter wie zielstrebiger Mensch ist sie dabei nicht von alpinistischer Herausforderung getrieben, auch hat sie keinen biblischen Bezug zum Berg der Arche Noah, wie er im Alten Testament im Buch Genesis beschrieben wird. Etwas völlig anderes beflügelt sie, sie sucht dort das ultimative Erlebnis am Ende einer langen, reflektierten Reise. Das erhoffte Ergebnis: Eine herausragende Erfahrung, deren Werte sie kommunizieren will, inspiriert von den Mythen des Ararats als Symbol verfehlter Lebensweisen der Menschheit. Alttestamentarische Glaubensansätze, wie verweigerter Gehorsam und Bestrafung durch einen zürnenden Gott, haben für sie in diesem Kontext keine Bedeutung.

So erfahre ich, dass das sumerische Gilgamesh-Epos die Motivation ist, die meine neue Gefährtin antreibt. In diesem Werk wird, unter anderem, eine Naturkatastrophe beschrieben, die in eine gewaltige Überflutung der Welt endet, mit der verbleibenden Spitze des Ararat-Massivs als Symbol, als mahnenden, steil aufragenden, weithin sichtbaren Gipfel. Die heutige Befindlichkeit unseres Planeten, der Zustand der Küsten unserer Meere, scheint dem vergleichbar zu sein. Ich kann an dieser Stelle den Sinn ihrer geplanten Manifestation nachvollziehen und begleite diese Frau voller Inspirationen bis an den Fuß des mächtigen Berges und helfe ihr bei den Vorbereitungen für den Aufstieg. Dann verliere ich sie aus den Augen.

Hier endet die Beschreibung meines Traums, der eine Last von mir nimmt, und ich kann erstmals vorbehaltlos über meine Trauer kommunizieren. Eine Deutung des Reisetraums wird meine Psychotherapeutin zu einem späteren Zeitpunkt vornehmen. In einer unserer letzten Sitzungen hatte sie mir bestätigt, dass ich mich auf einem guten Weg der Trauerbewältigung befände.

 

Hallo @rubber sole,

und willkommen im Forum (kann man wohl noch sagen). Ich hatte auch deine erste Geschichte gelesen und war drauf und dran sie zu kommentieren, habe es dann aber aus Zeitgründen nicht hinbekommen. Jetzt also diese hier, die bei mir irgendwie dieselbe Ratlosigkeit hinterlässt, wenn nicht sogar eine noch größere.

Nach einigem Nachdenken bin ich zu dem Schluss gekommen, dass du dich dem Erzählen von Geschichten verweigerst, indem du durch eine Überhöhung der Erzähl(er)stimme eine Abkürzung nehmen willst. Im Stil von Rollenprosa setzt du einen Erzähler ein, dessen Sound zwischen altmodisch-elegant und gekünstelt-affektiert pendelt. Dieser erzählt aber nicht, er berichtet auf eine abgeklärt-distanzierte Weise. Dadurch haben die Texte keine Relevanz und keine innere Spannung. Sie sind wie die Schatten von Texten:

Im ersten Text wurde berichtet, wie jemand zum Hochstapler wird. Aber es gab da kein Risiko, keine Fallhöhe, keinen wirklichen Wendepunkt und keine Konsequenzen. Das ganze war eine Nicht-Geschichte im Rückblick.

Hier ist es genauso: Anstatt von Emotionen und Drama zu erzählen, den Inhalt spürbar zu machen, wird distanziert und hypothetisch von der Existenz dieser Elemente berichtet. Man fragt sich wieder: Was soll das? Warum erzählt jemand, was erzählt werden könnte?

Ich meine das ganz ernst – mir erschließt sich deine Idee hier nicht. Es wirkt alles wie eine seltsame Meta-Literatur, nur dass ich nicht sehe, was hier formal offengelegt oder beleuchtet werden soll. Oder anders gesagt: Mir scheint es, dass du dich mit deinen Texten in eine Idee verrennst, indem du beim Leser irgendetwas voraussetzt oder annimmst, um damit dann formal zu brechen. Die Harlekin-Maske in deinem Profil trägt zu diesem Eindruck bei, dass hier irgendwas Performativ-Spielerisches stattfinden soll.

Aber ich glaube: Das, was du da beim Leser annimmst, existiert nicht. Zumindest ich lese nur langweilige Nicht-Geschichten in einem distanziert-gestelzten Ton, mit denen sich ein Autor vor echten Texten mit Fallhöhe, Spannungsbogen, nahbaren Figuren und Stilfragen drücken will.

Dein Ansatz mit dem starken Erzähler würde vielleicht funktionieren, wenn der Inhalt ein Kontrast zu seiner Erzählweise wäre (Paradebeispiel "Lolita"): Der Erzähler ist reflektiert und distanziert, aber in der Handlung folgt Überraschung auf Überraschung, Tabu auf Tabu – das würde vielleicht verfangen. Oder der Stil ist so altmodisch-elegant wie bei dir, der Inhalt dreht sich aber um etwas Hypermodernes oder Superbrutales. Könnte auch spannend sein. Bei dir ist das hingegen eindimensional und dazu auch nicht "aus dem Leben": Man hört ja hier auch nicht irgendeiner authentischen Person zu, die zwar Banalitäten von sich gibt, aber immerhin so naturgetreu, dass ein Typus von Mensch sichtbar wird.

Nichts für Ungut, vielleicht ist es einfach gar nicht mein Fall oder ich bin zu blöd. So oder so muss ich natürlich betonen, dass das nur meine subjektive Meinung darstellt!

Freundliche Grüsse

Henry

 

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