- Beitritt
- 24.01.2009
- Beiträge
- 4.130
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 27
Jetzt lass mal die Sofia erzählen
Auf dem rechten Arm halte ich Hanno, in der linken Hand den Koffer. So stehe ich vor der Wohnung meiner Mutter. Der Koffer wiegt gefühlt, als hätte ich einen Grabstein durch die Stadt getragen. Daniel, mein kleiner Bruder, öffnet mir die Tür. Sofort verlangt der stolze Onkel nach seinem Neffen. Ich gebe ihm Hanno, froh, wenigstens ein Gewicht los zu sein.
„Es ist Sofia“, ruft Daniel und ich wuschle ihm zur Begrüßung durchs Haar. Mutter kommt. Sie trocknet sich die Hände mit einem Küchenhandtuch.
„Das ist ja eine schöne Überraschung“, sagt sie und will mich umarmen. Als sie nah genug bei mir ist, bemerkt sie die Schramme und die Beule in meinem Gesicht. Dann starrt sie auf den Koffer. Sofort verflüchtigt sich ihre Freude.
„Geh mit Hanno ins Wohnzimmer", bittet sie Daniel und schließt hinter ihm die Stubentür. „Wie ist das passiert? Und was soll der Koffer? Bitte sag, dass es nicht das ist, was ich denke.“
„Es ist nicht das, was du denkst. Lass uns in Ruhe drüber sprechen. Nicht hier im Flur.“
„Ich werde dir nicht helfen. Vergiss es!“
Ich lege meine Arme um ihre Schultern, flüstere: „Ich haue nicht ab. Versprochen.“
Sie schaut mir geradewegs in die Augen, sucht nach Lüge oder Wahrheit, aber ich halte ihrem stummen Verhör stand, bis sie nickt. „Dein Zwilling ist auch da.“ Mit dem Kopf deutet sie zur Stube hin, aus der der Fernseher zu hören ist.
Verdammt, denke ich.
Mutter deckt den Tisch fürs Abendbrot. „Der Fritz hat mir einen Räucheraal besorgt. Ganz frisch.“ Stolz wickelt sie den Fisch aus der Zeitung und hält ihn hoch. Es ist die Zeitung von heute. Bilder vom gestrigen 40. Jahrestag der Republik auf der Titelseite. Honecker, wie er die Faust nach oben streckt. Gorbatschow, der neben ihm winkt. Vor ihnen die Militärparade. Alles glänzend im Fischfett.
Sie teilt den Aal in vier gleichgroße Teile und legt auf jeden Teller eines. Hanno spielt mit unseren Hausschlappen unter dem Tisch. Daniel berichtet stolz, wie er gestern mit Thomas die Parade angeschaut hat, zählt die Namen der Panzer auf, der Waffen, die die Soldaten trugen, erzählt, dass er Gorbi gesehen hat, auch den Fleck auf seinem Kopf. Er meint, er hätte noch nie so leckere Erbsensuppe gegessen, wie die gestern aus der Gulaschkanone. „Erbsensuppe mit Bockwurst!“ Ich lächle. Für Bockwurst würde mein kleiner Bruder seine Seele verkaufen.
„War bestimmt ein toller Tag für euch beide“, sage ich in Richtung meines Zwillings. Thomas hat an Waffen einen Narren gefressen, ist nie der Cowboy- und Indianerphase entwachsen. Deshalb hat er sich auch für die Kampfgruppe gemeldet. Männer jeden Alters spielen an ein paar Wochenenden im Jahr Manöver. Schlafen auf Stroh, zündeln Lagerfeuer. Marschieren, bekommen Muskelkater, um im Ernstfall der Held zu sein, der unsere Betriebe gegen die feindliche Übernahme verteidigt. Volkseigentum wird vom Volk geschützt. Lächerlich. Was liegt auf der Wiese, ist grau und zittert? Die Kampfgruppe.
„Jetzt ist genug mit Waffen“, sagt Mutter. „Jetzt lass mal die Sofia erzählen.“
Sie schaut mich an und ich weiß, sie wartet auf eine Erklärung für die Verletzungen in meinem Gesicht und den Koffer im Flur. Ich wünschte, Thomas wäre nicht hier. Nicht heute. Ich habe keine Kraft und auch keine Lust auf eine politische Diskussion mit ihm. Aber ich brauche Mutters Hilfe, und dafür bin ich ihr eine Antwort schuldig.
„Gestern Nachmittag war ich mit Mike, meinem Nachbarn, am Palast. Hanno war bei seinen Großeltern. Ulrichs Eltern.“
„Haben sie etwas von ihrem Herrn Sohn gehört?“, fragt Thomas.
Ich schüttle den Kopf. „Nein. Nichts.“
„Wundert mich gar nicht. Ich sag dir, dein Künstler hat sich verpisst. Hat euch sitzen lassen. Ist schön über Prag in den goldenen Westen geschwebt. Die werden da sicher keinen Freudentanz aufführen. Noch so ein Spinner für ihre Arbeitslosenstatistik.“
„Halt doch deinen Mund! Was weißt du schon?“
„Hört auf! Sofort! Alle beide! An diesem Tisch wird heute nicht mehr über Waffen oder Hannos Vater gesprochen.“ Mutters Worte zeigen Wirkung, Thomas schweigt. Er widmet sich jetzt ganz dem Fisch. Schaut weder sie noch mich an.
„Kommt Ulrich denn nicht zurück?“, fragt Daniel.
„Das gilt auch für dich!“ Dass sie ihr Nesthäkchen in einem solch scharfen Ton angeht, habe ich noch nie erlebt. Normalerweise tropft purer Honig aus ihrer Stimme. Altersmilde, denn uns Zwillinge hat sie früher ständig angebellt. Mutter atmet durch. „Erzähl weiter.“
„Wir standen auf dem Marx-Engels-Forum, dem Palast der Republik gegenüber. Darin die Könige des Sozialismus beim Abendessen. Zwischen uns und denen die Spree. Das Gebiet abgesperrt, die Brücken zugestellt. Ein unglaubliches Aufgebot an Polizei und Stasi und LKWs und Einsatzfahrzeugen. Man hätte denken können, unsere Gruppe wäre der komplette Westen, bereit, Erichs Lampenladen zu stürmen.
„Und da hat mein Schwesterchen wieder nicht den Mund halten können, und hat eins auf den Deckel bekommen.“ Thomas grient.
„Nein. Nicht da.“
Wir schweigen. Auch Thomas. Wahrscheinlich dachte er tatsächlich, er hätte einen Witz gemacht.
„Sie haben uns abgedrängt, Richtung Liebknechtstraße. Wer nicht freiwillig ging, wurde weggeschleppt. Direkt auf die LKWs. Aber die meisten sind einfach ganz ruhig gegangen. Immer weiter. Passanten und Fenstergucker schlossen sich dem Zug an. Es blieb friedlich. Liebknechtstraße, Prenzlauer Allee, Dimitroffstraße. Je weiter wir gingen, je mehr Menschen wurden es. Auch mehr Staatsmacht und FDJ. Auf einmal schlugen sie los. Von allen Seiten. Mit Gummiknüppeln. Viele sind in die Seitenstraßen geflüchtet, liefen in Richtung Stargarder Straße, weiter zur Gethsemanekirche. Wir auch. Sie kamen von überall, selbst aus den Hausaufgängen. Mike hob sofort die Hände, trotzdem haben sie ihn festgenommen. Mich haben sie an die Hauswand geschubst, als ich ihnen im Weg stand. Versteht ihr? Mike hat nichts gemacht. Und trotzdem hat man ihn verhaftet. Wahrscheinlich erschien er ihnen subversiv genug, wegen seiner langen Haare oder, weil er auf seiner Jeansjacke groß UDO L. stand. Vielleicht gefiel einfach jemandem seine Brille nicht. Er ist noch nicht zurück.“
Mutter schlug eine Hand vor den Mund. „Er hat doch Kinder?“
„Ja. Drei.“
Sie schüttelt den Kopf, kann gar nicht aufhören damit.
„Was ist subversiv?“, fragt Daniel.
„Das sind die Freunde deiner Schwester, wegen denen sie sich noch eine Menge Ärger einhandeln wird“, erklärt ihm Thomas.
„Glaube nicht jeden Mist, den dein Bruder dir erzählt.“ Zur Bekräftigung meiner Glaubwürdigkeit schenke ich ihm meinen restlichen Aal.
„Wo soll das alles noch hinführen?“ Mutter ist klein geworden auf ihrem Stuhl.
„Nirgendwohin. Wirst sehen. In ein paar Tagen ist der Spuk vorüber“, versucht Thomas sie zu beruhigen. Er steht auf und geht zum Kühlschrank, um sich ein Bier zu holen. Stellt es auf dem Tisch ab und geht weiter zum Badezimmer. „Ich muss mal.“
„Im Koffer sind Sachen für Hanno drin“, sage ich. Während ich seinen Namen ausspreche, fällt mir auf, wie still es seit Längerem unter dem Tisch ist. Mutter scheint den gleichen Gedanken zu haben, wir sehen beide nach. Hanno schläft. Sein Kopf liegt auf unseren Schuhen.
„Ich will, dass er heute Nacht bei dir bleibt.“
„Wieso?“
„Leute treffen sich an der Gethsemanekirche, um Kerzen für die Freilassung der Inhaftierten anzuzünden. Ich will dahin und ich weiß nicht, wie es ausgeht. Vielleicht sind heute schon Strasssteine subversiv genug.“
Thomas ist zurück. „War die Stasi wieder bei dir in der Bude?“
„Letzte Woche. Sie haben sich Kaffee gekocht, das übliche Chaos angerichtet, meine Schallplatten zerbrochen und mir einen Haufen ins Klo geschissen.“
„Du solltest da heute nicht hingehen. Wegen Hanno“, sagt Mutter.
„Ich will dahin. Ich muss.“
„Nein. Lass das die anderen machen. Du hast ein Kind zu versorgen. Seinen Vater hat Hanno schon verloren.“
Die Worte zwirbeln wie Hagelkörner und ich merke, wie mir wieder die Tränen kommen. Aber ich darf jetzt nicht weinen. Ich will Mutter nicht zeigen, dass sie eine Chance hätte. Auf jedem Wäschestück meines Sohnes im Koffer sind Tränen.
„Mama, bitte. Versuche es nicht. Denk doch an Mike und seine Kinder.“
„Doch, das werde ich sehr wohl tun. Als deine Mutter mache ich mir Sorgen. Und die solltest du dir auch machen.“
Ich möchte ihr den Mund verbieten. Möchte, dass sie aufhört. Aber ich kann nicht mit ihr streiten. Wenn ich Hanno bei ihr weiß, ist das meine einzige Chance, es überhaupt durchzustehen.
„Thomas hat für heute Abend Einsatzbefehl“, flüstert sie.
„Du hast was?“ Fassungslos starre ich meinen Bruder an, der bis eben seelenruhig unserem Gespräch zugehört hat. „Sag, dass das nicht wahr ist!“
„Deswegen bin ich hier. Ich wollte es Mama sagen. Man kann ja nie wissen. Nachher trifft mich so ein blöder Stein, den deine Kumpels werfen.“
„Moment! Nur damit ich das hier richtig verstehe. Thomas darf also gehen, aber ich nicht?“
„Er hat einen Befehl. Was soll er denn tun?“
„Denen seinen Mitgliedsausweis auf den Tisch werfen, wenn die von ihm verlangen, seine eigene Schwester, seine Kollegen, seine Freunde zu verraten. Wir sind keine Betriebe. Er soll Volkseigentum schützen. Nicht das Volk lynchen.“
„Und du und deine Freunde, ihr seid also das Volk?“, fragt Thomas.
„Natürlich sind wir das!“
„Ihr seid also alle in diesem Land? Und ihr bringt es nicht gerade in Schwierigkeiten?“
„Dieser Staat fault doch. Es stinkt bis ins letzte Rattenloch. Fälschung der Wahlergebnisse, die Schönrederei, all die absurden Verhaftungen in den letzten Wochen. Leipzig, Dresden. Hast du überhaupt eine Ahnung, was da losgeht? Aber keine Zeile in unseren Zeitungen, kein Ton in den Nachrichten. Da propagieren sie Friede und Eierkuchen.“
„Auf der Straße: Gorbi, Gorbi rufen, ändert auch nichts daran. Ich sage ja nicht, dass alles gut ist, aber das ist nicht der richtige Weg. Gegeneinander. Das ist Verrat an der Idee des Sozialismus.“
Ich gebe es auf. Mit Thomas über Politik zu reden, ist, als würde ein Hund versuchen, sich mit einem Huhn zu unterhalten. Er macht mich wütend, aber es bestärkt mich in meinem Entschluss.
„Ich werde hingehen. Seid ihr bewaffnet?“
„Gummiknüppel.“
„Und du wirst mich damit verdreschen? Deine eigene Schwester?“
„Du musst nicht hingehen.“
„Nein! Nein! Nein!“ Mutter ist aufgesprungen. Früher wart ihr wie zusammengeschweißt. Habt ihr denn völlig den Verstand verloren?“
Sie sinkt zurück auf ihren Stuhl. Ihr Körper zittert. Ihre Hände bedecken das Gesicht. Ich lege meine Hand auf ihren Arm, aber sie wischt sie fort.
„Wird Thomas Sofia wehtun?“, fragt Daniel.
„Nein. Das wird er nicht tun“, sagt Mama und schaut Thomas an, bis er unter ihrem Blick nickt.
„Und wird einer von Sofias Freunden Thomas wehtun?“
„Vielleicht.“
„Und darf Thomas dem dann auch wehtun?“
„Ich weiß es nicht. Frag doch nicht solche Fragen“, sagt Mutter.
Eine Weile sagt niemand etwas. Ich schaue noch einmal nach Hanno. Er schläft. Ich denke an den Koffer und am liebsten würde ich zu ihm unter den Tisch krabbeln, mich neben ihn legen und ihn ganz dicht bei mir halten. Aber ich darf nicht, wenn ich erst seinen Geruch in der Nase habe, werde ich ihn nicht mehr loslassen können. Ich muss gehen, so schnell wie möglich hier raus. Ich schließe kurz die Augen und konzentriere mich auf Thomas. Wir sitzen uns gegenüber und aus unseren Blicken ist die Wut gewichen. Es sieht eher so aus, als hätte Thomas Angst. Angst vor der Ungewissheit. Die habe ich auch.
„Wird es Krieg geben?“, fragt Daniel.
Schockiert starren wir ihn an. Alle drei. Und wie aus einem Mund sagen wir: „Nein.“
Im Oktober 1989 wurden 3500 Angehörige der Kampfgruppe direkt zum Einsatz gebracht, zusätzliche 7100 Mitglieder in Bereitschaft versetzt.
188 Mitglieder erklärten ihren Austritt, 146 verweigerten den Einsatzbefehl.
Am Abend des 8.10.1989 kam es zu weiteren Verhaftungen von über 1000 Männern, Frauen und Minderjährigen.