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Jolene

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27.09.2020
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Jolene

Wäre mein Kaffee nicht zu heiß gewesen, hätte ich ihn wahrscheinlich nie gesehen. Aber nachdem ich mir bereits den Gaumen verbrannt hatte, beschloss ich, noch ein wenig zu warten und die Leute auf der Straße zu beobachten. Da entdeckte ich ihn, wie er draußen stand und sich mit einer Frau unterhielt. Ich wollte glauben, dass ich ihn im Vorbeigehen nicht erkannt hätte, dass sein Gesicht, sollte es mir je wieder auf der Straße begegnen, nur eines von vielen gewesen wäre. Aber das war es nicht. Ich hätte ihn auch mit verbundenen Augen erkannt, an seinem Parfüm, an den Geräuschen, die er beim Gehen macht, an seiner Stimme. Ich sah ihn nur flüchtig durch die Fensterscheibe und wusste sofort, dass er es war. Er stand mit dem Rücken zu mir, aber würde er sich umdrehen, würde er mich sehen können. Ich stellte mir vor, was er wohl sagen würde, wenn er mich sehen würde. Auf der Straße plötzlich vor mir stehen würde, oder im Supermarkt. Ich könnte ihm in jeder Lebenssituation begegnen und hatte diese Begegnung bereits in allen möglichen Situationen in meinem Kopf ausgemalt. Trotzdem hatten wir uns danach nie mehr getroffen, obwohl er nie weggezogen war. Ich malte mir aus, wie ein Gespräch zwischen uns wohl aussehen würde:
Er dreht sich um, entdeckt mich, wie ich im Café sitze, meinen Cappuccino trinke und mein Buch lese. Ich beobachte ihn aus dem Augenwinkel, bedacht darauf, meinen Blick auf das Buch gerichtet zu lassen. Dann lehne ich mich zurück und lasse meinen Blick über die Straße schweifen. Unsere Blicke treffen sich und er lächelt mich schüchtern an, winkt mir vorsichtig zu. Ich lächle zurück. Wir gestikulieren, dass er sich zu mir gesellen soll. Er gibt der Frau zum Abschied die Hand und kommt auf mich zu, tritt ins Café ein.
„Hey“, höre ich die vertraute Stimme sagen. „Hätte nicht erwartet, dich heute zu sehen.“
Ich lächle verlegen. „Ebenso“, antworte ich. Das war gelogen. Er sieht sich um, sieht auf seine Uhr.
„Kann ich mich setzen?“, fragt er schließlich.
Ich schiebe zur Antwort mit dem Fuß einen Stuhl in seine Richtung und schließe mein Buch, lege es neben meinem Cappuccino ab.
„Wie geht’s?“, will ich wissen. Eine dumme Frage. Ich wusste, dass er Smalltalk hasste. Andererseits, wie fängt man sonst ein Gespräch mit jemandem an, den man monatelang nicht gesehen oder gesprochen hatte? Und es war eine ernstgemeinte Frage. Ich will wirklich wissen, wie es ihm geht.
„Gut, gut. Dir?“
Die Frage war sinnlos. Natürlich ging es ihm gut. Natürlich würde er mir nicht verraten, wenn es ihm nicht gut gehen sollte. Würde ich auch nicht tun.
„Auch.“ Ich nehme einen Schluck Kaffee.
„Also, ähm. Lang nicht gesehen, was?“, stammelt er.
Ich warte darauf, dass der quälende Smalltalk vorbeigeht, nicke nur zur Antwort.
Wir schweigen uns an. Die unangenehme Stille nimmt den ganzen Raum ein und es scheint, als ob sie sich auch über alle anderen Gäste legt. Ihm ganzen Café wird es ruhig.
„Kann ich dich was fragen?“, setzt er nach einer langen Pause an.
„Klar“
„Hasst du mich?“
Die Frage kam unerwartet. Okay, Lüge. Ich hatte mir dieses Gespräch schon tausend Mal zuvor vorgestellt. In Wahrheit wusste ich genau, was er fragen würde, aber ich tue vor ihm so, als hätte ich die Frage nicht erwartet. Um meine Überraschung zu verdeutlichen, gebe ich vor, mich an meinem Kaffee zu verschlucken und huste gekünstelt.
Er lacht.
„Sorry, da hab ich dich wohl etwas überrumpelt.“ Ich nicke und huste weiter, kann mich dann aber wieder fassen.
„Sei bitte ehrlich. Ich kann’s verkraften.“ In seiner Stimme schwingt Unsicherheit mit. Nervosität.
Ich spiele vor, mir eine Antwort sorgfältig zu überlegen. Natürlich wusste ich bereits, was ich sagen würde.
„Hass ist das falsche Wort.“ Ich nehme noch einen Schluck Kaffee, warte seine Reaktion ab. Ich will ihn auf die Folter spannen. Er zieht die Augenbrauen hoch, was bedeuten soll „und was ist das richtige Wort?“
„Weißt du, Hass ist immer aktiv. Ein aktives Gefühl. Es gibt keinen passiven Hass, weil Hass immer mit einer gewissen Leidenschaft verbunden ist. Es bedeutet, dass man aktiv an jemanden denkt, dass man einen Teil seiner Zeit damit verbringt, Gedanken an eine Person zu verschwenden.“
„Und das tust du nicht?“
„Ich würde sagen, es gibt 4 Stufen einer jeden Beziehung. Das muss nicht immer eine romantische Beziehung sein, das kann auch platonisch sein. Die erste Stufe ist Liebe. Nicht jede Beziehung muss mit Liebe beginnen, aber ich kann mit Sicherheit sagen, dass keine Beziehung mit Liebe endet.
Und dann kommt Hass. Aus Hass kann wieder Liebe werden. Manchmal kommt der Hass auch zuerst. Wichtig ist nur, dass Hass oft nur ein Zwischenstadium ist. Man kann wieder zurück zur Liebe, oder man geht weiter.“
„Und was kommt nach Hass?“ Er scheint ernsthaft neugierig zu sein.
„Danach kommt Gleichgültigkeit.“
„Da kommt man nicht mehr raus?“
„Schwierig. Gleichgültigkeit ist passiv. Man denkt nicht mehr an die Person. Man lebt sein Leben weiter, wie zuvor und anders als beim Hass ist die Person kein Teil des Lebens mehr. Aber wenn man die letzte Stufe erreicht hat, gibt es kein Zurück mehr. Wenn man einmal bei Stufe 4 ist, kommt man nie wieder raus.“
Ich trinke wieder von meinem Cappuccino. Inzwischen ist er kalt.
„Was ist Stufe 4?“, drängelt er.
Bevor ich antworte, lege ich noch eine dramatische Pause ein, sehe ihm einfach nur in die Augen. Er lehnt sich voller Erwartung in seinem Stuhl nach vorne. Schließlich sage ich:
„Vergessen.“
Dazu muss ich wohl nichts weiter erklären. Er lässt sich zurück in seinen Stuhl fallen, blickt ins Leere.
„Hm.“ Er streicht sich über den Bart. Das tat er immer, wenn er nachdachte.
„So hab ich das noch gar nicht gesehen.“ Natürlich hatte er das nicht. Über solche Dinge machte er sich keine Gedanken.
„Um deine Frage zu beantworten: ich hasse dich nicht.“
Er sieht wieder zu mir. Ich habe seine volle Aufmerksamkeit.
„Ich schätze, du bist mir wohl einfach egal.“
Ich sah von meinem Buch auf. Der Stuhl neben mir war leer. Mein Kaffee war noch fast bis zum Rand voll. Kalt. Als ich noch einmal aus dem Fenster blickte, war er weg.
Plötzlich ging die Tür auf und der bekannte Geruch seines Parfüms wehte zu mir hinüber. Aber da war noch ein anderer Parfümgeruch, ein lieblicher, blumiger Duft. Ein Frauenparfüm. Hinter ihm betrat die Frau, mit der er sich auf der Straße unterhalten hatte, das Café. Ich beobachtete die beiden. Diesmal war ich nicht bedacht darauf, unauffällig oder desinteressiert zu wirken. Ich sah ihn direkt an. Ich wollte, dass er mich sieht. Als er gerade auf einen Tisch in der rechten, hinteren Ecke des Cafés deutete, fiel sein Blick auf mich.
Wir sahen uns direkt in die Augen. Der Moment schien mir eine halbe Ewigkeit vorzukommen. Schließlich zuckte er leicht mit dem Mundwinkel und nickte mir, kaum merkbar, zu.
Ich nickte, ebenfalls kaum merkbar, zurück. Und damit drehte er sich weg von mir, wandte sich wieder der Frau zu und ging weiter. Es wäre mir so gern egal gewesen. So wie all die anderen Male zuvor, bei denen ich mir diese Begegnung ausgemalt hatte. Wie in all den imaginären Gesprächen, in denen ich immer wieder betone, wie er egal er mir ist.
War er aber nicht.
„Hasst du mich?“, fragte die vertraute Stimme in meinem Kopf erneut.

„Ja.“

 

Trennung und das Danach, gerade, wenn vieles Unausgesprochen bleibt, sind ein großes Thema und erzählenswert.
Ich finde, du machst hier vieles richtig und auf anderem Terrain ist der Text noch ausbaufähig. Das ist insofern nichts Schlechtes, alsdass ich auf jeden Fall glaube, dass bei dir noch einiges gehen wird/kann.
Was du richtig gut machst, ist dein Erzählton und die Gedankengänge der Figur. Das klingt authentisch, ich glaube dir die Welt und das Alter, von dem du erzählst. Man liest den Text auch gerne, es passiert etwas, ein Konflikt, man spürt den Frust der Erzählerin.
Was mich gestört hat, sind die wechselnden Zeiten. Ich würde mich auf eine festlegen - Vergangenheit - und dann den Text so durcherzählen; in deiner jetzigen Fassung stiften die Zeitsprünge mehr Verwirrung als dass sie dem Text dienen. Ich verstehe, was du versuchst mit Präsens und Fiktion deiner Prot, aber für mich ist das unlogisch, da selbst ihre Fiktion in der Vergangenheit spielen müsste. Insofern macht Präsens keinen Sinn.

Wenn ich eine Kritik an den Text legen möchte, könnte ich sagen, ich würde gerne mehr über den jungen Mann und die Erzählerin wissen, wissen wie ihr Treffen verlief und wer die Figuren sind, was sie ausmacht, was sie einzigartig macht und was der Mann an sich hat, das ihn für die Erzählerin unvergesslich macht. In der jetzigen Version funktioniert dein Text, er ist gut, aber wenn du noch einen drauflegen wolltest, würde ich in die Richtung gehen; ich will nicht gemein klingen, es geht mir nur um den Text, bitte versteh das nicht persönlich, aber letztendlich funktioniert dein Text, weil der Text aus der persönlichen Vita des Lesers schöpft, weil ich mich und ähnliche Situationen in deinen Figuren sehe und deswegen Emotionen darauf projeziere; das ist auch nicht schlecht und das passiert immer, aber intensiver wäre die Leseerfahrung, wenn du einzigartige Figuren schaffen würdest, mir zeigst, wer sie sind und was sie machen, sagen und tun, mir diese Menschen quasi vorstellst in der Geschichte, ich sie kennenlerne und du sie dann in das Dilemma führst. Dann würde ich mit diesen Figuren mitfühlen, natürlich auch mich
selbst darin wiedererkennen, aber eben die Emtionen des Lesens aus den Figuren und dem Text hauptsächlich ziehen. So sind deine Figuren noch etwas schablonenhaft und der Text zieht seine Emotionen aus den eigenen Erfahrungen deiner Leser; das merkt man daran, dass man deine Figuren beliebig austauschen könnte, und beim Lesen das selbe empfinden würde.

Wäre mein Kaffee nicht zu heiß gewesen, hätte ich ihn wahrscheinlich nie gesehen. Aber nachdem ich mir bereits den Gaumen verbrannt hatte, beschloss ich, noch ein wenig zu warten und die Leute auf der Straße zu beobachten.
Vorschlag: Hätte ich mir meinen Gaumen nicht mit dem viel zu heißen Kaffee verbrannt, hätte ich ihn wahrscheinlich nie wieder gesehen. Aber so beschloss ich, noch ...

Also, gerne gelesen, das ist eine nette, kleine Story, schöner Einstieg im Forum.

Viele Grüße!
zigga

 

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