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Jorinde, Kastanienkind
Sie steht und streckt die dünnen Arme in die untergehende Sonne wie eine Gottesanbeterin. Ihre beiden Blätter hat sie leicht zum letzten Licht geneigt, um es zu speichern, wenn der dunkle Abendwind über sie treibt und es kühl wird. Die Nächte sind noch zu kalt für so eine kleine Kastanie. Wenn sie morgen erwacht, wird sie eine Perle aus Tau in der Mitte ihrer Blätter tragen.
Vor einigen Wochen habe ich Jorinde in meinen Geranienkasten gepflanzt. Samuel hat mich ausgelacht, wie kann man nur einem Baum einen Namen geben. Schaff dir doch einen Hund an oder eine Katze, wenn du einen Kinder-Ersatz brauchst. Er hat gewusst, wie sehr er mich damit verletzt. Ich hätte immer gern ein Kind gehabt.
Ich will keinen Hund, will keine Katze. Sie sterben. Eine Katze wird nicht älter als zwanzig, höchstens; ein Hund nicht mal das. Myrrthe ist keine drei geworden, bevor ihn ein Irrer mit einem giftigen Köder umgebracht hat. Beim Tierarzt hat er sich noch ein paar Tage aus dem Leben gequält, bis seine Seele endlich die zerstörte Hülle verlassen durfte. Und Benjie, die Meersau, ist eines Tages steif und tot in ihrem Heubett gelegen, nach knapp sechs Jahren. Ich will kein Tier mehr. Einen Baum vergiftet man nicht. Einen Baum, wenn er erst richtig zu leben anfängt, viele Meter hoch, kann man auch nicht überfahren, aus Versehen. Nicht erstechen oder treten oder … er schläft auch nicht einfach ein, ohne wieder aufzuwachen.
Vor einigen Wochen habe ich sie also gepflanzt – ich habe sie aus dem großen Gemeinschaftsgarten ausgegraben, als ich gesehen habe, dass der Hausmeister mit seinem Rasenmäher alles umschneidet, was ihm vor die Messer kommt. Die Glockenblumen und den Löwenzahn, kleine Sprösslinge und wilden Bärlauch. Jorinde hätte er nicht einmal wahrgenommen. Bis sie groß genug ist, um wieder im Garten oder im Park zu stehen, werde ich sie hier beschützen.
Vor genau einer Woche dann habe ich Samuel hinausgeworfen. Nein, hinausgeworfen ist das falsche Wort. Geh halt, wenn du mit Jorinde nicht klarkommst, habe ich gesagt. Und er ist gegangen. Seitdem hat er auch nicht angerufen. Ich habe seine Sachen zusammengestellt und sie in den Flur gepackt. Dort stehen sie immer noch.
Das Abendrot verschwindet langsam und lässt einen samtenen Sternenhimmel zurück. Jorinde hat ihre beiden Blättchen zusammengefaltet wie Schmetterlingsflügel, um sie vor der Nacht zu schützen. Sie ist nicht größer als der Schnittlauch, der neben ihr wuchert. Irgendwann wird sie vielleicht fünf oder zehn Meter hoch sein oder noch höher, und so breit, dass ich sie nicht mehr umfassen kann, mit so vielen Blättern, dass sie nie jemand zählen wird. Sie wird Schatten spenden und im Herbst Kastanien bekommen, die sich nach ein paar Tagen schrumpelig anfühlen. Sie hat Zeit. Sie wird nicht sterben.
Meine Jorinde, Kastanienkind.