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Jorinde, Kastanienkind

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20.10.2002
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Jorinde, Kastanienkind

Sie steht und streckt die dünnen Arme in die untergehende Sonne wie eine Gottesanbeterin. Ihre beiden Blätter hat sie leicht zum letzten Licht geneigt, um es zu speichern, wenn der dunkle Abendwind über sie treibt und es kühl wird. Die Nächte sind noch zu kalt für so eine kleine Kastanie. Wenn sie morgen erwacht, wird sie eine Perle aus Tau in der Mitte ihrer Blätter tragen.

Vor einigen Wochen habe ich Jorinde in meinen Geranienkasten gepflanzt. Samuel hat mich ausgelacht, wie kann man nur einem Baum einen Namen geben. Schaff dir doch einen Hund an oder eine Katze, wenn du einen Kinder-Ersatz brauchst. Er hat gewusst, wie sehr er mich damit verletzt. Ich hätte immer gern ein Kind gehabt.

Ich will keinen Hund, will keine Katze. Sie sterben. Eine Katze wird nicht älter als zwanzig, höchstens; ein Hund nicht mal das. Myrrthe ist keine drei geworden, bevor ihn ein Irrer mit einem giftigen Köder umgebracht hat. Beim Tierarzt hat er sich noch ein paar Tage aus dem Leben gequält, bis seine Seele endlich die zerstörte Hülle verlassen durfte. Und Benjie, die Meersau, ist eines Tages steif und tot in ihrem Heubett gelegen, nach knapp sechs Jahren. Ich will kein Tier mehr. Einen Baum vergiftet man nicht. Einen Baum, wenn er erst richtig zu leben anfängt, viele Meter hoch, kann man auch nicht überfahren, aus Versehen. Nicht erstechen oder treten oder … er schläft auch nicht einfach ein, ohne wieder aufzuwachen.

Vor einigen Wochen habe ich sie also gepflanzt – ich habe sie aus dem großen Gemeinschaftsgarten ausgegraben, als ich gesehen habe, dass der Hausmeister mit seinem Rasenmäher alles umschneidet, was ihm vor die Messer kommt. Die Glockenblumen und den Löwenzahn, kleine Sprösslinge und wilden Bärlauch. Jorinde hätte er nicht einmal wahrgenommen. Bis sie groß genug ist, um wieder im Garten oder im Park zu stehen, werde ich sie hier beschützen.

Vor genau einer Woche dann habe ich Samuel hinausgeworfen. Nein, hinausgeworfen ist das falsche Wort. Geh halt, wenn du mit Jorinde nicht klarkommst, habe ich gesagt. Und er ist gegangen. Seitdem hat er auch nicht angerufen. Ich habe seine Sachen zusammengestellt und sie in den Flur gepackt. Dort stehen sie immer noch.

Das Abendrot verschwindet langsam und lässt einen samtenen Sternenhimmel zurück. Jorinde hat ihre beiden Blättchen zusammengefaltet wie Schmetterlingsflügel, um sie vor der Nacht zu schützen. Sie ist nicht größer als der Schnittlauch, der neben ihr wuchert. Irgendwann wird sie vielleicht fünf oder zehn Meter hoch sein oder noch höher, und so breit, dass ich sie nicht mehr umfassen kann, mit so vielen Blättern, dass sie nie jemand zählen wird. Sie wird Schatten spenden und im Herbst Kastanien bekommen, die sich nach ein paar Tagen schrumpelig anfühlen. Sie hat Zeit. Sie wird nicht sterben.

Meine Jorinde, Kastanienkind.

 

Hallo Wolto,

vielen Dank fürs Lesen und Dein Lob. Die beiden angesprochenen Stellen (und noch 3 andere) habe geändert, Du hast ja Recht. :)
Ich weiß nicht genau, was Samuel gefürchtet hat. Aber für diese Gedanken hätte er sich erst einmal in die Erzählerin einfühlen müssen und das Wesen von Jorinde erkennen müssen - ich weiß nicht, ob dieser unsensible Mensch das geschafft hat ... Aber man kann hoffen, dass die Frau mit Jorinde mitwachsen kann. Vielleicht findet sie, selbstbewusster, auch einen Lebensgeführten, der eine starke Frua schätzen und lieben kann. Vielen Dank für Deine Gedanken.

liebe Grüße
Anne

 

Hallo Maus!

Echt ein lesenswerter Beitrag :) . Die Gedanken des Mädels waren stimmig und eigentlich wahr.
Bis auf den komisch klingenden Namen Myrrthe, des Hausviechs, hat mir die kleine Geschichte supergut gefallen.

Lg, kleiner :silly:

 

Hallo kleiner - danke für Dein Lob. Es freut mich, dass sie Dir gefallen hat.

liebe Grüße
Anne

 

Ein Kind zeugen, einen Baum pflanzen und ein Buch schreiben* - das sollte ein Mann tun, bevor er stirbt, aber nun scheinen auch Frauen das Gleiche zu wollen. :D Und sie machen es auch, keine Frage, allerdings nicht ohne ein Drama daraus zu machen. Und in einem Drama geht es nicht ohne Namen, folgerichtig muß auch ihr Baum einen Namen tragen, wie vermutlich auch ihr Auto.

So kann Jorinda, das jungfrauliche Kastanienkind, gerettet werden, Zum Dank schenkt sie ihrer Retterin jeden Morgen eine Perle aus Tau, und so leben sie lange vergnügt zusammen - die Macht der bösen Hexe in Gestalt des Hausmeisters reicht ja nicht bis zum Balkon.

Okay, das Drama ist eher ein Märchen, allerdings ein sehr schönes, modernes, nachdenkliches. Ich sehe sie, die Frau, wie sie jeden Morgen und jeden Abend auf den Balkon geht und nachschaut, wie es ihrem Kind geht. Bald wird sie anfangen, einen Kindergartenplatz für Jorinda zu suchen, sicher irgendwo in der Nähe, damit sie es nicht zu weit hat, wenn sie und Jorinda älter werden. Sie wird den Kindergartenplatz in die Schule umdeklarieren, ihr später einen Bräutigam besorgen - den sie vielleicht Joringel taufen wird -, damit die beiden viele Kinder haben und sie, die Kinderlose, Enkel.

Ich habe deine Geschichte gern gelesen, Anne, sie hat etwas Melancholisches in sich, aber dank Samuels Rauswurfs auch eine Prise Kritik an uns Männern, sei mir also nicht böse, wenn auch ich ein paar kritische Töne einfließen ließ. ;)

Dion

* in Schwaben gilt das nicht – dort wird kein Buch geschrieben, sondern ein Haus gebaut. :D

 

Guten und Tag,

der Name der Geschichte hat mich schon arg angesprochen, ich mag gewisse Wortkombinationen, die sich am Intellekt direkt in den Bauch wühlen und dort Laut geben. Kastanienkind ist so eine Kombi.

Die Geschichte hat eine Stimmung die rüberreicht bis zu mir als Leser, ihre Hand ausstreckt und dann sich jedoch als eher zu lascher Händedruck herausstellt.
Die Idee finde ich gut bis sehr gut, ein Mensch gibt menschliche Bindungen auf und schenkt die Liebe gerade ihrer Vergänglichkeit wegen einem Baumschößling (...schössling ?), das hat Potential.
Mir bleibt es zu sehr in der Oberfläche, was der Qualität der Geschichte für sich keinen Abbruch tut, die habe ich gerne und unterhalten gelesen, nur für die Idee finde ich es schade, die wäre ausbau- und vertiefungsfähig.

Doch schliesslich muss nicht jede Traube zu einem Jahrhundertwein reifen, manche werden einfach direkt gegessen und schmecken dann auch schon lecker süß und fruchtig.

Grüße,
C. seltsem

 

Hallo Dion,

zunächst freue ich mich darüber, dass Du die Geschichte gelesen hast. Auch über das halbversteckte Lob

Okay, das Drama ist eher ein Märchen, allerdings ein sehr schönes,
freue ich mich sehr. Auf kritische Töne oder ironische Zwischengedanken zum Werdegang Jorindes erwiedere ich lieber nichts, auch wenn ich Dir keineswegs böse bin (und Du in einigen Anklängen auch das Richtige getroffen hast) - sonst würde die Diskussion um etwas eigentlich nebensächlichs viel zu groß. Ich freu mich einfach und danke Dir für Deine Rückmeldung :)

Hallo C. Seltsem - und herzlich willkommen erstmal, wir sind uns bis jetzt ja noch garnicht begegnet. :)

der Name der Geschichte hat mich schon arg angesprochen, ich mag gewisse Wortkombinationen, die sich am Intellekt direkt in den Bauch wühlen und dort Laut geben. Kastanienkind ist so eine Kombi.
das freut mich sehr - gerade Titel müssen einfach gut gewählt sein - wie der erste Eindruck.

Dass die Geschichte Deine Erwartungen aber nicht erfüllen konnte, tut mir natürlich leid. Du hast ja eine Menge Potential in dem (simplen) Plot erkannt - ich selbst wollte eigentlich eher eine Charakterstudie, Momentaufnahme schaffen, als ein großes, bedeutungsvolles Drama (auch wenn Dion es als solches bezeichnet) ... wenn Dir der Stoff gefällt, kannst Du natürlich aber gerne eine Variante dazu schreiben. Ich wäre sehr gespannt auf Deine Umsetzung. :)

liebe Grüße an Euch beide -
Anne

 

Hallo Maus,

ich danke für Dein herzliches willkommenheissen. Und für Dein Angebot, die Idee für eine Geschichte von mir nutzen zu dürfen, ich lasse es Dich wissen, wenn ich Konkretes habe (was bei meinem Schreibtempo noch dauern kann), erstmal lasse ich den Gedanken wirken. Doch angesichts des spannenden Plots bin ich selber gespannt, was dabei rauskommen wird. Ob's allerdings ein Drama wird, bedeutungsvoll und groß, kann ich heute noch nicht versprechen :) Mussmanmaschaun.

Grüße,
Copywrite Seltsem

 

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