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Josis Tag
1
"Josi! Aufstehen!"
Josi wollte nicht aufstehen. Ihr Bett war so warm. Sie krümmte sich zusammen und zog die Decke über den Kopf. Ihr Traum war sehr angenehm gewesen. Sie schloss die Augen. Sie versuchte mit solcher Anstrengung, ihn zurückzuholen, dass es schmerzte.
Weshalb erinnere ich mich nicht an meine Träume?
"Lass es lieber", sagte die Fee.
Josi öffnete die Decke zu einem Spalt. Müde schielte sie durch den Tunnel zum Nachttisch. Ja, da saß sie, auf dem Sockel der Lampe. Die Fee schlug ihre langen, schlanken Beine übereinander. Sie legte den Kopf schief und sah dem Mädchen direkt und aufmerksam in die Augen. Josi mochte diesen Blick nicht.
"Du kommst früh heute."
Die Fee lächelte strahlend. "Nicht alle sind solche Schlafmützen wie du."
Das erklärt gar nichts, dachte Josi. Diese Fee redet und redet und sagen tut sie nie etwas.
"Josi! Aufstehen!"
Ihre Mutter hatte recht. Es war jetzt wirklich Zeit zum Aufstehen. In einem Anfall von Tatendrang stieß Josi die Decke von sich. Die kühle Raumluft ließ sie frösteln. Josi krümmte sich zu einem Embryo und wärmte sich selbst.
Ich will nicht! Wieso kann ich nicht einfach liegen bleiben?
"Wir haben noch viel vor", sagte die Fee aufmunternd.
"Was?", murmelte Josi mit geschlossenen Augen.
"Die Schule zum Beispiel."
Ich hasse die Schule.
"Jeder Schüler tut das. Nun ja: fast jeder."
Josi setzte sich auf die Bettkante. Sie betrachtete das kaum handspannengroße Geschöpf.
"Weshalb bist du so klein? Ich dachte immer, eine Fee wäre größer?"
Die Fee lachte. "Es gibt solche ... und solche."
Wieder keine Antwort. Josi sammelte ihre herumliegenden Kleidungsstücke ein und ging ins Badezimmer. Mehr als eine Katzenwäsche wurde es nicht. Sie fühlte einen plötzlichen, ziehenden Schmerz in ihrem Unterleib. Duldend stand sie still, bis er vorbeiging.
Ist es schon wieder soweit? Weshalb ich? Ich sollte wirklich zu einem Arzt gehen. Nur: sie konnte es nicht.
Die Fee machte es sich auf der Ablage unter dem Spiegel bequem. Ihre nackten Beine unter dem kurzen, glitzernden Faltenrock schwangen verspielt vor und zurück. "Du weißt, dass dein Schmerz psychosomatisch bedingt ist", bemerkte sie.
Psychosomatisch ..., wiederholte Josi in Gedanken. Ich weiß ja nicht einmal, was dieses Wort bedeutet.
"Du weißt genau, was es bedeutet!", widersprach die Fee tadelnd.
Josi brummte unwillig. Sie wollte nicht darüber nachdenken, denn es tat ihr weh. Weil ich einsam bin. Weil ich keinen Freund habe.
Die Fee grinste. Josi seufzte. Ja, schon gut, ich habe nicht einmal eine Freundin.
"Du hast mich."
"Eine Phantasiegestalt", stellte Josi fest.
"Das wüsste ich aber!" Die Fee stand auf. Sie drehte sich wie eine Spielzeugfigur auf der Spitze des einen Fußes. "Sehe ich aus wie eine Phantasiegestalt?"
"Ja."
Die Fee hob ihre Arme in einer bedauernd-verzweifelten Geste. "Wenn das so ist ..." Sie verschwand.
Josi beugte sich vor und betrachtete ihr Gesicht im Spiegel. Die Fee hatte kein Spiegelbild gehabt. Die Erklärung dafür gefiel Josi nicht.
Sie existiert nur in meinem Kopf. Einbildung.
Josi zog sich an. Es kümmerte sie nicht, dass es dieselben Sachen waren wie am Vortag. Es würde niemanden auffallen und ihr war es egal. Sie griff nach ihrer Schultasche und sprang die hölzerne Treppe hinunter. Ihre Mutter saß im Bademantel am Küchentisch.
"Du bist spät dran. Deine Schwester ist schon weg."
"Ja."
Josi goss Milch zu ihren Flocken. Sie schlang das Frühstück hinunter.
"Wann kommst du wieder?", rief ihre Mutter hinter ihr her. Josi antwortete nicht.
2
Was habe ich in der ersten Stunde? Sie wünschte sich Mathe. Mathe war einfach. Es genügte, dass sie zuhörte; ihre Zensuren waren auch ohne zu Lernen gut. Und der Lehrer wusste, dass sie keine Hausaufgaben machte. Er würde sie nur drannehmen, wenn sie sich meldete.
Im Bus setzte sie sich auf eine leere Bank. Sie kramte den Stundenplan heraus. Natürlich kein Mathe. Französisch. Ausgerechnet. Der Lehrerin bereitete es einen sadistischen Spaß, ganz spezielle Schüler aus der Klasse herauszugreifen und sie, ja, fertigzumachen. Heute bin sicher ich dran. Danach Physik - einfach! - und danach der Literaturkurs. Sie würde sich in ihre Ecke setzen, und der Lehrer würde sie in Ruhe lassen. Der einzige Lichtblick war, dass heute kein Sportunterricht stattfand. Sie hasste es, mit Lügen die blauen Flecken erklären zu müssen.
Der Bus hielt. Josi sah auf das kalte Schulgebäude. Sie verzog das Gesicht. Dann ging sie zu dem Café ein paar Häuser weiter.
Kein Französisch heute.
Die Bedienung brachte ihr ohne nachzufragen den gewohnten Bananenmilchshake.
"Das ist nicht gut", sagte die Fee. Sie schüttelte missbilligend den Kopf.
"Stör mich nicht", murrte Josi. Sie wusste selbst, dass sie den Unterricht nicht schwänzen sollte. "Ich muss meine Hausaufgaben machen."
Die Fee stolzierte mit ausgebreiteten Armen über den Tisch zum Fenster. Sie verschränkte ihre Hände hinter dem Rücken und sah hinaus. Ihre Haare leuchteten golden in der Morgensonne.
"Weshalb sind deine Haare so kurz?", fragte Josi. "Ich dachte immer, dass Feen lange Haare haben."
Die Fee warf ihr einen Blick über die Schulter zu. "Ich bin noch jung. Wenn ich älter werde, dann wachsen auch meine Haare."
"Ah ja", machte Josi.
Sie konzentrierte sich auf die Aufgaben. Ein leises Seufzen ließ sie aufschauen. Die Fee löste sich in Luft auf.
"Tut mir leid", murmelte Josi, "aber ich muss jetzt lernen."
Der Schultag verlief wie üblich. Josi setzte sich abseits auf ihren Stuhl neben dem Fenster und langweilte sich. In den Pausen ging sie in den Hof und nahm in einer Ecke des Forums Platz. Die anderen Schüler bildeten Gruppen. Josi gehörte nicht dazu. Weshalb nicht? Soweit sie sich zurück erinnern konnte, war sie immer eine Einzelgängerin gewesen. Sie schielte über den Rand des Buches. Da ist Christopher! Er war einer der älteren Jungen. Josi spürte ihr Herz schneller schlagen. Es tat ihr weh, zu sehen, wie er in der Gruppe der Mädchen stand und mit ihnen redete und lachte. Ich wünschte mir, ich könnte so mit ihm reden! Sie starrte auf die Buchstaben und sah sie nicht. Wenn ich doch nur eine Chance bei ihm hätte ... Es musste schön sei, von ihm gehalten zu werden, ihn ganz dicht zu spüren. Dass die Mädchen nichts mit ihr zu tun haben wollten, damit konnte sie leben, dass aber auch keiner der Jungen sie beachtete, schmerzte.
Nein, ich bin nicht hässlich. Ich bin einfach nur anders.
Vielleicht sollte sie sich das von der Fee wünschen: so zu sein wie die anderen.
"Wo warst du gestern abend?"
Josi sah auf. Nikki, in ihrem Alter und der Sohn von Nachbarn, stand neben ihr.
"Was war gestern?", fragte Josi.
"Die Geburtstagsparty bei Angela. Alle waren da."
Alle außer mir, dachte Josi bitter. Niemand hatte ihr von der Party erzählt. Niemand. Weil sie mich nicht dabeihaben wollten. Weil ich nicht dazugehöre.
"Keine Lust." Eine blöde Lüge!
"Kommst du nachher ins Café?", fragte er.
Sie schüttelte den Kopf. "Heute nicht mehr. Ich fahr' sofort nach Hause."
"Schade."
Das Läuten beendete die Pause. Josi nahm ihre Sachen auf.
"Bis später dann", sagte Nikki.
"Bis später", antwortete sie und ließ ihn stehen.
Auch den Literaturkurs würde sie hinter sich bringen. "Josepha", hatte der Lehrer gefragt, am Anfang des Schuljahres, gleich zu Beginn des Unterrichts, "was ist deine Meinung zu dem Text?" Glücklicherweise hatte Josi die Kurzgeschichte noch vor Schulbeginn überfliegen können. Sie hatte aus dem Stegreif geantwortet. Der Lehrer hatte dazu genickt, mehr nicht, und dann mit den anderen Schülern den Unterricht fortgesetzt. Am Ende der Stunde hatte er das Ergebnis zusammengefasst. Es war das gewesen, was Josi gesagt hatte, nur mit anderen Worten. Seitdem ignorierte er sie.
3
Natürlich fuhr sie nicht sofort nach Hause. Sie entschloss sich, den Weg zu Fuß zu gehen, zuerst durch den Park, dann durch das Neubaugebiet mit den leerstehenden Häusern und dann durch die erntereifen Felder. Sie folgte einem Rain vorbei an hochstehendem Mais. An einem versteckt gelegenen Graben setzte sie sich in das kühle Gras. Niemand würde sie hier sehen können. Hier war es einsam genug.
"Zu einsam", sagte die Fee. Sie balancierte auf Josis Schulter. "Einsamkeit tut niemandem gut."
"Es gefällt mir so", murmelte Josi. "Ich brauch' die anderen nicht."
Sie zog die Knie an und legte die Arme um sie.
"Wieviele Wünsche habe ich?", fragte sie. Sie verrenkte den Hals, um die seltsame Gestalt betrachten zu können. "Drei?"
"So läuft das nicht", tadelte die Fee. "Natürlich darfst du dir etwas wünschen. Ob ich deinen Wunsch erfülle, liegt alleine bei mir."
"Du bist überhaupt keine Fee!", provozierte Josi.
Das kleine Geschöpf wedelte mit einem aus dem Nichts erscheinenden kurzen Stab, an dessen Ende ein golden glänzender Stern befestigt war. "Nein? Und was ist das hier? Wenn das kein Zauberstab ist, dann will ich keine Fee sein!"
"Entschuldige", flüsterte Josi betreten. "Ich wollte dich nicht verletzen."
Die Fee lachte. "Keine Sorge. Das ist nicht so einfach. - Du solltest nach Hause gehen. Es wird spät."
Ich will nicht. Aber sie stand auf und machte sich auf den Heimweg. Die Fee verschwand. Erst jetzt fiel Josi auf, dass die Antwort eigentlich wieder keine gewesen war. Josi grübelte. Die Fee war zu schlau.
Sie schlich ins Haus. Aus der Küche nahm sie sich etwas zu essen und zu trinken mit auf ihr Zimmer. Sie setzte sich an ihren Arbeitstisch. Entschlossen breitete sie ihre Schulbücher aus. Sie hatte wirklich vor, ihre Hausaufgaben zu machen. Sie musste einfach irgendwann mal damit anfangen zu lernen, bevor ihre Zensuren zu schlecht wurden. Wie üblich verlor sie schnell die Lust. Sie nahm das Buch, das sie gerade las, und setzte sich in die Ecke des Zimmers, schräg unter das Fenster. Es war ein Liebesroman. Als sie zu der Stelle kam, an der der Held die Heldin fest in seine Arme nahm und küsste, weinte sie.
Ich sollte mich schämen, diesen Kitsch zu lesen, dachte sie, während die Tränen über ihre Wangen rollten. Sie blätterte zurück und las die Seiten ein zweites Mal.
Es wurde dunkler. Das Licht der Straßenlaterne schien durch das Fenster und gab ihr das wenige Licht, das sie zum Lesen brauchte. Oft sah sie auf und starrte hinaus. In ihren Gedanken spann sie die Geschichte aus.
Später verspürte sie Hunger. Die Gewohnheit ließ sie am oberen Treppenabsatz innehalten und lauschen. Unten in der Küche stritten ihre Eltern.
"Du hast wieder getrunken!", schrie ihre Mutter.
"Was geht dich das an?", schrie ihr Vater zurück.
Josi zitterte. Sie wollte den Streit nicht hören. Sie biss sich auf die Unterlippe. Wenn ihr Vater getrunken hatte ...
Sie vergaß ihren Hunger. Neben der Treppe war ein kleiner, schmaler Raum, in dem sich im Laufe der Jahre viele Dinge angesammelt hatten. Josi hatte sich aus ihnen eine kleine Höhle gebaut, die man von außen nicht erkennen konnte. Josi kroch in sie hinein. Eine alte Matratze schob sie so, dass man nicht in ihr Versteck hineinsehen konnte.
Wenn ihr Vater getrunken hatte, war er unberechenbar.
Sie atmete sehr flach und lauschte angestrengt. Sie verstand die Worte nicht, aber ihre Eltern stritten immer noch.
"Wie wär's mit einem Spaziergang?", fragte die Fee. "Ich langweile mich." Sie saß auf dem Rand eines wenige Zentimeter vorstehenden Kartons und wippte mit ihren Beinen. Sie leuchtete aus sich heraus in der Dunkelheit, doch ihr Licht erhellte Josis Versteck nicht.
"Jetzt nicht!", flüsterte Josi. "Dazu müsste ich an der Küche vorbei und ..."
"Er würde dich sehen. Ich weiß." Die Fee gähnte. "Mir ist trotzdem langweilig. Findest du es gut, dich hier zu verstecken? Vor deinem Vater?"
Josi schüttelte den Kopf. "Nein. Aber - er ist betrunken", erklärte sie und ihr Tonfall ließ keinen Zweifel daran, dass damit alles gesagt war.
"Warte. Ich seh' mal nach." Die Fee löste sich auf. Josi starrte auf den leeren Platz. Das war etwas neues.
"Die Luft ist rein. Wir können gehen." Die Fee schwebte jetzt auf der anderen Seite. Langsam senkte sie sich auf Josis Schulter.
"Bist du sicher?"
Die Fee verdrehte ihre Augen. "Ob ich sicher bin ... Natürlich bin ich sicher!"
Josi kroch aus ihrem Versteck. Sie lauschte. Leise schlich sie die hölzerne Treppe hinunter. Sie wusste, wie sie auftreten musste, um das Knarren der Stufen zu verhindern, um jedes verräterische Geräusch zu vermeiden. Sie schielte um die Ecke. Die Küche war leer. Schnell ging sie zur Haustür und öffnete sie.
4
Sie rannte die Straße entlang. Es war kühl, und sie hatte ihre Jacke vergessen.
"Wenn du eine Fee bist, kann ich mir dann eine Jacke wünschen?"
Die leuchtende Gestalt auf ihrer Schulter nickte. "Natürlich", sagte sie und tat nichts.
Josi wechselte auf die Straßenseite, auf der keine Laternen standen. Sie mochte es nicht, durch die Lichtkegel zu gehen. Man konnte sie dort sehen. Sie bog von der Straße ab, auf den Feldweg, der zu dem alten Turm führte. Der Halbmond war hell genug, den Weg zu erkennen. Außerdem kannte sie ihn wie im Schlaf. Sie bog den Maschendraht zu dem verlassenen Fabrikgelände zur Seite und zwängte sich hindurch. Sie kletterte die alten rostigen Stufen des Turms hinauf. Oben war der Wind noch kühler. Sie schlang die Hände um ihre Schultern und zog den Kopf ein. Sie setzte sich an den Rand der geländerlosen Plattform und baumelte mit den Beinen über der Tiefe.
"Du bist meine einzige Freundin", flüsterte sie.
"Ja. Traurig genug", antwortete die Fee.
Von hier aus konnte Josi die Lichter der Straßenlaternen und der Häuser sehen. Sie konnte die ganze Siedlung beobachten.
"Möchtest du dich an deine Träume erinnern?", fragte die Fee sanft.
Josi nickte.
"Gut. Dann sieh mich an. - Welche Farbe haben meine Augen?"
Josi sah in graue Augen. Sie blinzelte.
Sie stand auf, kletterte den Turm hinunter und ging zurück nach Hause. Sie schlich sich hinein. Ihr Vater saß in der Küche und trank.
"Wo warst du? Wie oft habe ich dir schon gesagt, dass du nicht so spät nach Hause kommen sollst? Ich will nicht, dass meine Tochter sich rumtreibt!" Josi wich langsam zurück. Ihr Vater war groß und kräftig. Josi hob schützend die Arme vor ihr Gesicht.
Es würde nichts nützen, denn er schlug nie so hoch. Josi weinte lautlos und ohne Tränen.
"Das ist dein Traum", sagte die Fee in ihr Ohr.
"Nein! Mein Traum ist schön!", widersprach Josi leise.
"Sieh mich an!", befahl die Fee. "Welche Farbe haben meine Augen?"
Josi sah in braune Augen. Sie blinzelte.
Sie stand auf, kletterte den Turm hinunter und ging zurück nach Hause. Sie schlich sich hinein. Lautlos stieg sie die Treppe empor. Sie nahm ihren Reiserucksack und packte ihn. Nur das wichtigste nahm sie mit, nur das, was ihr am meisten bedeutete. Es war nicht viel.
Oben am Treppenabsatz lauschte sie. Sie hörte niemanden. Sie schlich so leise hinaus, wie sie gekommen war. Am Ende der Straße sah sie zurück - zum ersten und zum letzten Mal. Sie wollte es nicht, aber Tränen des Abschieds flossen über ihre Wangen.
"Auch das ist dein Traum", sagte die Fee.
"Nein! Ich erinnere mich nicht an meine Träume. Aber ich weiß, dass sie schön sind!"
"Sieh mich an!"
Josi schüttelte heftig den Kopf.
"Sieh mich an! - Welche Farbe haben meine Augen?"
Josi sah in blaue Augen. Sie blinzelte.
5
Josi zögerte. Sie wischte sich die Tränen aus den Augen und von den Wangen. Weshalb quälte die Fee sie so?
Josi erhob sich. Sie stand am Rand der Plattform. Weit unter ihr, im Dunkel kaum zu erkennen, der Boden. Sie musste nur einen Schritt nach vorne machen. Dann ein, zwei Sekunden warten, und alles würde ein Ende haben. Dann würde dieser Tag ihr letzter Tag gewesen sein. Sie würde nie wieder Schmerzen verspüren. Niemand - weder ihre Mitschüler, noch die Lehrer, noch ihr Vater oder auch die Fee -, niemand würde ihr jemals wieder weh tun.
Josi tat den Schritt. Die Wände des Turms schossen an ihr vorbei.
"Ist es das, was du willst?", fragte die sanfte Stimme der Fee.
Josi antwortete nicht. Der Boden raste ihr entgegen.
"Nein!" Sie klammerte sich an den Pfeiler neben ihr.
"Was ist dein größter Wunsch?", fragte die Fee.
"Ich möchte glücklich sein", erwiderte Josi leise. "Ein einziges Mal nur. Ein einziges Mal."
"Das ist etwas, was dir keine Fee geben kann."
"Ja. Vermutlich hast du recht."
"Aber ich kann dir dabei helfen."
Josi schielte zur Seite. Die Fee schwebte dicht vor ihr. Ihre Augenfarbe war ein leuchtendes, gesprenkeltes Grün.
Die Fee grinste. Sie flog hoch zu Josis Wange und küsste sie. "Du bist ein nettes Mädchen. Ich werde dich vermissen."
"Vermissen?", echote Josi. Die Fee nickte. Sie trieb langsam davon, von dem Turm weg, in die Nacht hinein.
"Eins noch", sagte sie, bevor die Dunkelheit sie verschluckte, "du hattest recht. Ich bin keine Fee."
"Warte ..."
Josi hörte nur noch ein Lachen, das langsam leiser wurde.
Hinter ihr knirschten die Sprossen der Treppe. Jemand kletterte vorsichtig herauf. Das Mondlicht erhellte Nikkis Gesicht. Der Junge sah nicht sehr glücklich aus.
"Ich ... ich wusste, dass du hier bist", stotterte er. Zögernd kam er näher und setzte sich neben sie. Sie schwiegen eine Zeitlang.
"Ist dir nicht kalt?", fragte er.
Josi nickte. Er zog seine Jacke aus, rückte dichter an sie heran und legte sie um ihrer beider Schultern. Josi gab einem plötzlichen, unerwarteten Gefühl nach. Sie lehnte sich an ihn. Es gefiel ihr. Es wärmte sie. Von außen und von innen.
"Woher wusstest du ...", begann sie.
"Bitte lach mich nicht aus. - Ein Engel hat es mir gesagt."
Er legte seinen Arm um sie. Sie nahm den Arm und hielt ihn fest.
Ein Engel?, dachte sie. Das würde ich nicht einmal in meinen Träumen glauben!
(c) by StarScratcher, June 2000