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Juanita
Juanita
„Winnie der Puh-Bär …“ klang es mechanisch aus der mit Kunstfell überzogenen Metallbrust des Teddybären. „W-i-n-n-i-e P-u-h“, buchstabierte Juanita. Sie konnte nämlich schon lesen. In die dritte Klasse geht sie. Na ja, jetzt nicht mehr: Mutter meint, die Schule sei zu teuer. Außerdem könne sie ihr ruhig bei der Arbeit helfen.
Juanita konnte es nicht lassen. Immer wieder drückte sie auf die orange-farbene Brust des Stoffbären. „Winnie der Puh-Bär …“ trällerte es erneut. Sie liebte ihr neues Spielzeug. Gestern hatte sie es bekommen. Der nette weiße Mann in dem glänzenden Auto hatte ihr den Winnie Puh geschenkt. Sie war mit ihrer Mutter auf dem Weg nach Hause gewesen, als das Auto hielt und der nette weiße Mann ihr ein Geschenk machte.
Von ihren Freundinnen hatte niemand so eine Puppe. Ein sprechender Bär! Winnie Puh war ihr ganzer Stolz.
Einmal hatte Juanita im Fernsehen einen Zeichentrickfilm gesehen, wo ein Bär genauso aussah wie ihre Puppe
„Juanita! Juanita, hörst du nicht?“ durchdrang ihre Gedanken. Die Mutter stand vor ihr, sah sie verärgert an: „Jetzt leg’ dieses Ding weg und hilf mir!“
Vor dem wackeligen Ofen stand jetzt eine Schlange von Passanten an. Juanita und ihre Mutter verkauften Maiskolben. „50 Centimos, bitte!“ erklärte ihre Mutter gerade einer dicken Frau. Jeden Tag kamen sie hierher. Jeden Tag bauten sie im Morgengrauen den Metallofen auf, jeden Tag bauten sie ihn in der Dämmerung wieder ab und gingen nach Hause. Juanita wohnte nicht in einem Weißen Haus, wie die fröhlichen Kinder im Fernsehen. Ihre Hütte war … kleiner und auch nicht so hübsch.
Juanita sah nämlich oft Fernsehen. An der Straßenecke, an der sie jeden Tag mit dem Mais und dem Ofen saßen, war ein Elektrogeschäft. Die Fenster waren groß und sauber. Und in den Fenstern standen viele Fernseher – alle zeigten einen anderen Sender!
Heute jedoch stand Juanita nicht vor dem Schaufenster. Der Stoffbär, den sie in der Hand hielt und das Lied trällern konnte, war heute faszinierender.
„Wenn ich doch nicht immer helfen müsste“, bedauerte Juanita sich und warf einen Blick auf die Bäume, die ihren Schatten auf die kleine Menschengruppe an der Straßenecke warfen. Bald wird es dunkel, stellt sie Juanita zufrieden fest und drückte erneut auf Winnie Puh’s Brust. „Winnie der Puh-Bär“, sang sie und merkt erst Sekunden später, dass Winnie sie gar nicht begleitet hatte. Überrascht schüttelte sie den Bär. Wieder und wieder. „Wiiinniiiieee!“
Doch es hilft nichts: Sie hämmerte förmlich auf dem Stoffbär, bis sie resigniert aufgibt. Enttäuscht lässt Juanita die Puppe in ihren Händen sinken. Ihr Spielzeug, ihr Winnie – kaputt! Er singt nicht mehr.
„Juanita, wach auf! Zeit zum Gehen“, drängelt ihre Mutter. „Komm!“
Enttäuscht und traurig lässt Juanita den Stoffbären zurück – inmitten abgenagter Maiskolben und Straßendreck.
Die letzten Sonnenstrahlen spiegeln sich im Schaufenster des Elektrogeschäfts, das grelle Licht verwehrt den Blick auf die Fernseher, und das ausgestellte Sortiment von Batterien – große und kleine, in den verschiedensten Variationen -, während Juanita um die Straßenecke in die Dunkelheit der Straße taucht.