Jung und nicht mehr jugendfrei
Berlin...immer noch beliebt bei den Jugendlichen...Lieblingstreffpunkt: Alexanderplatz...größter Störfaktor: Erwachsene...
Die Tür schlug mit solch einem Knall zu, sodass ein Glas auf dem Tisch bedrohlich anfing zu wackeln.
„Vanessa!“, rief eine verzweifelte Frauenstimme.
„Lass sie“, kam eine männliche Stimme aus dem Wohnzimmer.
Vanessa war eine aufsässige Jugendliche der nächsten Generation. Ihre Eltern waren in ihrer Jugend schon schlimm gewesen, doch dies übertraf einfach alles. Die Mutter der 17-jährigen Schülerin stand vor einer Tür von der zwei rote Augen sie diabolisch anlächelten. Auf der anderen Seite lehnte Vanessa mit klopfendem Herzen mit dem Rücken an der Tür. Sie schloss kurz die Augen, drehte den Schlüssel um und sackte dann seufzend auf den Boden. Ihre langen schwarzen Haare mit den roten Strähnen und dem roten Pony hingen wirr über ihre blassen Schultern. Vanessa sah auf ihre Wanduhr. Die Zeit wurde knapp, sehr knapp und ihre Mutter machte ihr die Hölle heiß...nur weil die nicht verstand, was Vanessa bewegte. Keine Seltenheit in dieser Zeit.
Auf dem Nachttisch der Jugendlichen lag ein Foto, dass schließlich von einem Windstoß, der durch das offene Fenster kam, hinunter geweht wurde. Vanessa lag dort in den Armen von zwei Jungs. Auf der Rückseite stand ganz groß und breit „Berlin Bodyguards“, Vanessas Clique zu der sie heute anscheinend nicht durfte.
„Vanessa...jetzt komm da raus!“ Eine junge Frau lehnte sich erschöpft mit den Kopf gegen die Zimmertür ihres Kindes.
„Nein!“, kam es mürrisch aus dem Zimmer. „Erst lässt du mich zum Alex gehen...das ist echt wichtig, aber dich interessiert das eh nicht!“
„Nicht in dem Ton mein Fräulein! Außerdem haben wir darüber gesprochen...du gehst da nicht mehr hin. Punktum! Haben wir uns verstanden?“
„Nein!!! Nie darf ich etwas! Euch interessiert es doch eh nicht was ich mache, da kann es doch egal sein, ob ich zum Alex gehe oder nicht.“
Vanessas Mutter verstand ihre Tochter einfach nicht mehr. Sie glitt ihr mehr und mehr aus den Händen. Es war grausam nichts dagegen machen zu können.
„Das macht sehr viel aus! Ihr Grünschnäbel habt doch keine Ahnung, um was es heute geht!“
Stille...eine beunruhigende Stille.
„Vanessa?“
Vorsichtig öffnete die Mutter die Tür. Es war offen. Das Zimmer war leer, nur die Gardine am Fenster wehte demonstrativ in das Zimmer hinein.
„Dieses Biest.“
Am Alex war viel los. Der Fernsehturm wurde renoviert, das Galeria Kaufhof neu angestrichen. Die Grube um den Brunnen wurde wieder zugeschüttet, der Brunnen sah aus wie vor zwanzig Jahre, als da noch die Erwachsenen als Kinder rumlungerten. Jetzt hingen wieder überall Kinder rum. Es waren keine Punks, Gothics oder HipHopper. Es waren Jugendliche, die durch ihr aussehen provozieren wollten und sich von der tristen Mehrheit von Erwachsenen abheben wollten. Sie waren anders, sie waren besser und sie rebellierten...und das sehr erfolgreich. Die Erwachsenen, die 1989/1990 geboren wurden, wussten nicht was sie tun sollten. Hätten sie vielleicht weniger gearbeitet, ihre Kinder geliebt und mal ein offenes Ohr für sie gehabt, dann wüssten sie was die Jugend bewegte, doch lieber rechneten sie Kurse durch, schmissen mit Geld um sich, wollten immer mehr Macht haben und vergaßen dabei, was es heißt zu lieben und geliebt zu werden.
Vanessa stolperte grinsend aus der S-Bahn. Sie fühlte eine Art Genugtuung in ihrem Herzen. Sie war mal wieder ausgerissen...einfach so.
Am Alex herrschte im Bahnhof hektisches Treiben. Berlin war in der Wirtschaft in den letzten Jahren erheblich gestiegen, obwohl die Arbeitslosenzahlen den Politikern in den anderen Ländern das Blut in den Adern gefrieren ließ. Deutschland hatte durch seine Hauptstadt großes Ansehen bei Amerika, Frankreich, Großbritannien und vielen anderen Großmächten. Jeder stritt sich praktisch darum eine gute Freundschaft mit den Deutschen zu hegen.
Vanessa drehte sich kurz um um die letzten Nachrichten lesen zu können, denn über dem Gleis eins hing ein großer, flacher Bildschirm, der die Erwachsenen über die Situation an der Börse informierte. Gleich danach flimmerten die neuen Arbeitslosenzahlen über den Bildschirm, dann sprach der regierende Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika zu seinen Landsleuten, dass sie doch die Köpfe nicht hängen lassen sollen, denn das mit den Iran ginge schon wieder in Ordnung. Vanessa seufzte leise...irgendwie schwankte die Welt gerade zwischen einem Neuaufbau und einem Absturz. In Berlin wurde ein paar Jugendliche in Kreuzberg festgenommen. Sie haben sich wohl mit ein paar Polizisten um den Kiez geprügelt. Ein Polizist kam mit einer Kopfverletzung ins Krankenhaus.
Vanessa richtete sich ihren Rock, den sie zu ihrer neuen Hose trug. Die Jugendliche sprang pfeifend die Treppen runter. Ihre Ketten rasselten herausfordernd an ihrer Hose, die Haare wippten im Takt mit und die Glöckchen an den Springern freuten sich klimpernd. Anwälte, Spießer, Büromenschen, die selber mal in komplett schwarz rumliefen, warfen der Schülerin kritische Blicke zu. Ja, verleugnet eure Vergangenheit ruhig, dachte Vany und trat aus dem Bahnhof um erst mal von hinten angesprungen zu werden. Ein Nietenarmband bohrte sich unangenehm in ihren Hals. Lachend warf Vanessa den Angreifer über ihre Schulter auf den Boden.
„Guck dir die an“, flüsterte eine Frau zu ihrem Mann.
Vor Vanessa lag ein großer, schlanker Junge, dessen Haare ihm von allen Seiten am Kopf abstanden. Seine schwarze Hose war zerschlissen, die Springer leicht brüchig und das T-Shirt ziemlich löchrig. Nur der Nietengürtel, die Armbänder und das Halsband schienen ziemlich neu zu sein. Vany wollte ihrem Kumpel gerade aufhelfen, als sie mit voller Wucht von einem schrägen, schlaksigen Typen angerempelt wurde. Es war Jean, der total auf Japanrock abfuhr, auch Visual-Kei genannt. So sah er auch aus. Die Haare waren gestylt wie aus einem Manga, schwarz und blond gefärbt. Make-up, schwarze auffällig geschminkte Augen. Der Lidstrich ging fast bis zum Ohr, während die Haare extrem lang und mit Haargeel voll geklatscht waren.
„Mensch! Schön, dass du dich auch mal wieder blicken lässt“, grinste der erste Typ.
„Man Tsukasa.“ Vany boxte ihrem Kumpel lachend in die Seite.
Da räusperte sich Jean. Vanessa umarmte ihn lachend, dann hakte sie sich bei beiden unter und zusammen schlenderten sie zum Fernsehturm, oder zumindest soweit wie sie konnten. An diesem Sonntag waren viele Cliquen anwesend. Vanessa steuerte eine Gruppe an, die auf ihren Rücken ganz groß „Berlin Bodyguards“ zu stehen hatten. Man begrüßte die Neuankömmlinge fröhlich, dann wartete man gespannt.
„Was ist denn heute los?“, fragte Vany verwirrt.
„Weißt du denn nicht wer heute eine Ansprache hält?“
„Man Jean, wenn ich bei meinen Ellis eingesperrt bin, krieg ich gar nichts mehr mit.“
Tsukasa drehte sich eine Zigarette, dann lächelte er: „Heute hält Marily ihre Ansprache...sozusagen zur Lage der Nation.“
Gelächter in der Gruppe, während Tsukasa sich lässig seine Zigarette in den Mund steckte, sodass sie am Mundwinkel raushing. So sprach er weiter und der Glimmstängel wippte bei jedem Wort bedrohlich mit: „Sie will den Reichstag stürmen.“
„Was?“ Vanessa konnte das nicht glauben. „Ist das nicht ein bisschen zu hoch für uns?“
„Tja, das denkt sie nicht...da, es geht los!“ Tsukasa zündete sich seine Zigarette an.
Vor der Abzäunung zu dem Baugelände des Fernsehturms stand ein großes Rednerpult. Eine blonde Jugendliche, total in weiß gekleidet, aber extrem dunkel geschminkt, trat an das Mikrofon. Passanten blieben verwundert stehen, guckten kritisch. Marily wartete bis sie die ungeteilte Aufmerksamkeit der Masse hatte.
„Freunde! Schön, das ihr alle hier seid! Am Montag ist es Zeit unserer Wut Luft zu machen! Lange genug wurden wir unterdrückt, nicht mehr geliebt, abgeschoben und zur Dämlichkeit verurteilt!“ Applaus und Jubelrufe. „Die Unterdrückung muss ein Ende haben! Am Montag werden wir den Reichstag stürmen um auf uns Aufmerksam zu machen!“ Polizisten sicherten den Platz ab. „Wir haben lange genug geschwiegen, jetzt schreien wir!“ Die Masse klatschte in einem unbeschreiblichen Freudentaumel.
Vanessa streckte ihre Faust in die Luft, dann rief sie: „Berlin! Berlin! Berlin!“
Die anderen folgten ihrem Beispiel. Plötzlich ertönte ein lautes Aufstöhnen. Die Polizisten rannten mit Schlagstöcken bewaffnet in die Menge, zogen die Jugendlichen auf den Boden und brachten sie vorübergehend zum Schweigen. Es war erbärmlich, dass man zur Bewusstlosigkeit geprügelt wurde, nur, weil man etwas Liebe und Aufmerksamkeit haben wollte. Vanessa brannten Tränen in den Augen. Sie sah wie immer mehr zu Boden gingen, wie die Polizisten immer wieder ausholten. Ein Mädchen schrie, dass sie schwanger sei. Sie lag auf dem Boden, weinte, hielt die Hände vor ihrem Gesicht. Die anderen Cliquen rannten an ihr vorbei um ihre eigene Haut zu retten, während zwei männliche Polizisten über dem Mädchen standen und sie mit einem gezielten Schlag ruhig stellten. Vanessa wandte sich schweren Herzens ab und sah wie Jean voll eins über den Deckel bekam. Vanessa konnte ihren Kopf noch wegziehen und drückte Tsukasa gleichzeitig mit runter. Man konnte durch den Höllenlärm kein Wort mehr verstehen. Tsukasa schubste den Polizisten weg, dann fiel er mit seiner besten Freundin auf Jean, der leise stöhnend auf dem Boden lag. Vanessa rappelte sich wieder auf.
„Jean! Komm hoch!“ Zusammen mit Tsukasa bekam sie den Kumpel auf die Beinen um zu fliehen, doch sie wurden mit dem Strom zurückgedrängt. Tsukasa sah sich nach einen anderen Weg um, während Vanessa Jean ein Taschentuch an die Schläfe hielt. Ihre Blicke begegneten sich kurz und sehr intensiv, doch da meldete sich Tsukasa, der einen Weg gefunden hatte. Ein Fernsehteam hatte sich breit gemacht und somit eine Lücke in die Wand der Polizisten geschnitten. Die drei Freunde drängelten sich vorbei und landeten Luft schnappend in der Rathausstraße. Tsukasa drehte sich um und sah in einen Hexenkessel. Teilweise wurden Jugendliche, die bewusstlos waren, von dem „Freund und Helfer“ herausgezogen und gefühllos in die Polizeiautos geschubst. Neben Tsukasa stand eine Frau, die „Recht so!“, rief. Tsukasa sah zu ihr und sie zu ihm. Der Jugendliche musste auf die Frau einen schlimmen Eindruck gemacht haben...seine Augen sahen sie nichtssagend, aber verachtend an.
„Verschwinden Sie oder ich vergesse mich“, zischte Tsukasa.
„Warum?“
„Weil Sie ihre eigene Jugend verleugnen!“
Die Passantin hatte es sehr eilig davon zu kommen. Wahrscheinlich hatte sie sich selber dort bei den Polizisten liegen gesehen.
Jean jammerte leise. Vanessa legte seinen linken Arm um ihre Schulter, Tsukasa nahm den rechten Arm. So humpelten sie zu Jean nach Hause. Die Eltern waren unterwegs, sodass Tsukasa und Vanessa nur ungern gingen.
„Soll einer von uns noch mal wiederkommen?“, fragte Tsukasa.
„Mir egal“, brummte Jean mit einer Mordswut auf die Erwachsenen im Bauch die Wand an.
Vanessa stand vom Bettrand auf, ergriff Tsukasa Hand und ging wortlos aus der Wohnung.
Die beiden Freunde liefen noch durch Berlin. Vanessa hatte keine große Lust so schnell nach Hause zu kommen und Tsukasas Eltern war das total egal, wo ihr Sohn gerade steckte. Die Sonne ging langsam unter und warf einen orangenen Schatten über den Alexanderplatz und spiegelte sich an der Kuppel des Fernsehturms wieder. Die deutsche Fahne auf dem roten Rathaus wehte leise im warmen Sommerwind, während Passanten schnell noch den Abendeinkauf erledigten. Tsukasa und Vanessa liefen teilnahmslos an den Leuten vorbei und hingen ihren Gedanken nach. Was soll nur mal aus der Stadt werden? Die Jugend sollten doch eigentlich die Zukunft absichern, doch irgendwie ging alles in eine falsche Richtung. Tsukasa seufzte leise, während Vanessa über etwas anderes grübelte. Wie es wohl Jean ging? Am liebsten wäre sie wieder umgedreht, doch ihre Freundschaft zu Tsukasa, ließ sie an dessen Seite verweilen. Seine Hand tastete sich vorsichtig nach Vanessas und sie wehrte sich nicht, denn sie mussten sich gegenseitig stützen und mich ganz abzudriften, denn dass war von keinem der Wunsch.
Tsukasa brachte Vanessa noch nach Hause. Die Beiden standen vor ihrer Wohnungstür und schwiegen sich an.
„Na ja, dann geh ich mal in die Höhle des Löwen“, lachte Vany.
„Lass dich nicht fertig machen.“
„Ich doch nicht.“
Tsukasa lächelte. Nein, Vanessa ganz bestimmt nicht.
„Wir drei, wir bleiben doch immer Freunde nicht wahr?“ Tsukasa fragte er, als ob Vany ihm jeden Moment die Freundschaft kündigen würde.
„Ja, klar! Wir kleben doch wie Sekundenkleber aneinander.“
Vanessa umarmte Tsukasa noch mal sehr lange zum Abschied, dann schloss sie die Tür auf und winkte zum Abschied. Tsukasa drehte sich um.
Vanessas Vater stand seiner Tochter sehr wütend gegenüber.
„Schön Sie hier zu sehen Madam!“
Vany wurde am Arm gepackt, doch die Jugendliche wandte sich aus dem Griff.
„Ich geh ja schon...man ey!“
Im Wohnzimmer saß Vanys Mutter mit roten Augen. Sie starrte auf den Fernseher und ignorierte ihre Tochter gekonnt. Vanessa stellte sich trotzig in das Wohnzimmer und wartete auf den Knall.
„Wo warst du?“, fragte die Mutter ruhig.
„Am Alex.“
„Da solltest du nicht hin! Ich habe dir das Verboten! Das weißt du ganz genau! Ich habe es dir klar und deutlich gesagt! Und was machst du? Du haust durch das Fenster ab! Spinnst du?!“
„Ist das nicht egal? Ist das nicht scheiß egal was ich mache?! Lasst euch bloß nicht stören!“
„Weißt du was du deiner Mutter damit antust?“
„Wisst ihr, was ihr mir damit antut?! Ich soll wohl verblöden...wir alle! Und ihr sitzt zuhause, verdient Geld und freut euch des Lebens...setzte ein Kind in die Welt und das soll sich dann selbst durchs Leben schlagen! Ihr habt sie doch nicht mehr alle! Was interessiert euch denn?! Macht!“
Vanessas Mutter war bei jedem Wort zusammengezuckt, während der Vater fast zuschlug.
„Sei ruhig!“, rief Frau Baar.
„Nein! Macht und Dummheit! Das zeichnet euch aus und wir sollen am besten auch so werden!“
Vanessa zitterte vor Zorn und Trauer. Sie konnte es nicht fassen, dass ihre Eltern nicht mal auf die Idee kamen, ein ruhigeres Gespräch zu führen.
„Du weißt gar nicht was sich hinter den Kulissen abspielt!“, rief nun Herr Baar.
„Genau! Das weiß ich nicht! Woher auch! Ihr habt es mir ja nie erklärt! Helft mir doch mich zurecht zu finden!“
„RAUS!!!!!“ Vanys Vater explodierte.
Vanessa rannte in ihr Zimmer schlug die Tür zu und sackte weinend auf den Boden. Ihre Eltern fingen an sich zu streiten, doch es wurde bald ruhig, da es ihnen im Endeffekt egal war, was Vany nun machen würde. Diese schnappte sich zitternd ihr Handy und rief Jean an.
„Ja?“, kam aus der Leitung.
„Jean? Ich bin‘s Vany.“
„Kleines, was ist denn mit dir los?“
„Kann ich heute bei dir schlafen? Meine Eltern machen mich verrückt und ich weiß nicht wohin mit mir.“
„Ja, klar...komm her. Soll ich was zu essen machen?“
„Nee, lass mal gut sein. Ich hab echt kein Hunger.“
„Okay, bis gleich.“
Etwas aufgemuntert packte Vanessa ihren Rucksack und schloss die Tür von Innen ab, dann öffnete sie das Fenster und sprang auf die Straße. Sie drehte sich kurz um und sah durch das Wohnzimmerfenster. Dort saßen ihre Eltern. Sie guckten Fernsehen...ganz ruhig und friedlich. Vanessa nahm ihr Portmonee, zerrte weinend ein Foto von ihren Eltern raus und zündete es mit ihrem Feuerzeug an, dann schmiss sie das Foto auf den Boden und ging.
Tsukasa steckte sich eine Zigarette zwischen die Lippen, steckte sich seine Kopfhörer in die Ohren und hörte total laut Musik. Man konnte im Vorbeigehen hören wie jemand sagte: „Nun steh ich hier, ich armer Spielmann und die Krähen auf dem Bäumen lachen mich aus, doch ein neuer Sommer wird den Winter vertreiben...“
Tsukasa dachte über die jetzige Zeit nach. Viele Menschen sitzen zuhause und verdienen ihr Geld, wenn sie denn Arbeit haben, weil die meisten Menschen in Berlin gar keinen Job haben. In Jeans Klasse saßen dreißig Schüler und nur fünf von ihnen haben Eltern, die arbeiten gingen. Tsukasa schlenderte die Straßen entlang, er hatte kein Ziel und nach Hause wollte er nicht. Ein paar Passanten musterten ihn kritisch oder erkannten ihn aus dem Fernsehen. Der Bus rollte an dem Jugendlichen vorbei und hielt an der Bushaltestelle an. Tsukasa rannte drauf los. Seine Ketten klimperten laut und die Musik dröhnte durch die Nacht. Der Busfahrer schnaubte abwehrtend, dann versuchte er den jungen Mann zu ignorieren. Tsukasa entdeckte ein paar Kumpels, die hinten im Bus saßen. Er steuerte die Bande an, begrüßte sie lachend und fuhr mit ihnen in eine noch unbekannte lange Nacht um seine Sorgen zu vergessen.
Jean öffnete die Tür und erschrak als er Vanessa vor sich stehen sah. Sie war total fertig und so sah sie auch aus.
„Oh Gott...Vany.“ Jean kam nicht weiter, weil seine Freundin ihm sofort leise schluchzend in die Arme fiel.
Jean schloss die Tür und führte Vanessa in sein Zimmer. Vany setzte ihren Rucksack ab und ließ sich aus den Rücken in das weiche Bett fallen.
„Willst du was trinken?“
„Tee?“
„Klar, hab ich da.“
Jean ging lautlos in die Küche und kochte den Tee, während er dran denken musste, dass Vany bei ihm war und Schutz brauchte. Vanessa richtete sich wieder auf und betrachtete Jeans Zimmer. Sie war schon oft bei ihm gewesen, doch irgendwie fand ihr Kumpel immer Zeit alles umzudekorieren. Nun hingen an den Wänden Poster von Visual-Kei-Bands oder den Berlin Bodyguards. Die Älteren aus der Clique waren in der Politik tätig und hatten dementsprechend Wahlplakate. Aus dem Radio kamen abstrakte Gitarrenriffs mit einer noch abstrakteren Stimme, die auf Japanisch vom Vergangenen sang. Vanessa stand auf und ging in die Küche. Dort stand der 1.82 Meter große Jean und hantierte mit dem Wasserkocher rum. Der Jugendliche hatte seit ein paar Stunden eine neue Frisur, die er sich anscheint selber geschnitten hatte, als er allein zuhause war. Heute Nachmittag waren seine Haare einheitlich lang und schwarz, nun trug er sie hinten kurz und kreuz und quer gekämmt. Vorne an der Seite hingen ihm lange Überreste seiner frühren Haarlänge am Gesicht entlang und wurde auf die rechte Seite gekämmt. Die Haare waren schwarz, doch nach der Hälfte wurde der circa 30 cm lange Pony blond. Vanessa trat in den Schein des Vollmondes. Sie wollte in Jeans Armen liegen, sich geborgen fühlen, ihn sogar lieben. Jean drehte sich um und sah in Vanessas blaue Augen, die traurig strahlten. Über ihre schwarzen Haare ergoss sich das silbrige Licht des Mondes. Halt mich jetzt nicht auf, dachte Jean, zog Vany zu sich und begann sie sanft zu küssen. Vanessa spürte etwas, dass ihr fast die Brust durchhämmerte...es war ihr Herz, das wie wahnsinnig schlug. Die Jugendliche wollte Jean nie wieder loslassen, denn sie bekam das was sie wollte: Liebe. Jean schwor sich immer auf Vanessa aufzupassen. Ein bekanntes Kribbeln breitete sich in seinem Bauch aus. Er wusste, dass er nie wieder ohne seine Freundin leben konnte.
„Zutto ooki na yume wo daite taisetsu ni nemuru...dareka no kotoba de mezameta toki no itazura de.“
Vanessa starrte den Schreibtisch an. Ihre Augen hatten sich an die Dunkelheit gewöhnt, außerdem schien das Straßenlicht etwas durch das Rollo. Was würde wohl Tsukasa dazu sagen? Dazu, dass sie jetzt mit Jean zusammen war? Hatten sie sich nicht geschworen, dass sie immer zu dritt Freunde bleiben würden, aber so eine Beziehung kann alles ziemlich schnell kaputt machen. Vanessa kuschelte sich mehr in das Kissen. Jean zog sie ein wenig mehr an sich. Wenn er nicht geschminkt war, war er eigentlich ganz schön braun für einen Norddeutschen.
„Kannst du nicht schlafen?“, fragte Jean ganz leise.
Vany drehte sich und fuhr mit ihren Fingern an Jeans Brust entlang.
„Nein, ich bin ziemlich auf morgen gespannt...wie wollen wir eigentlich den Reichstag stürmen. Es wird alles abgesperrt sein.“
„Die Polizei wird sich genau vor den Reichstag stellen...“
„Meinst du, das klappt?“
„Ich hoffe es...was haben wir morgen eigentlich für Unterricht?“
Vanessa legte einen Arm um Jeans Hals. Seine dunklen Augen funkelten im Straßenlicht verklärt.
„Erste Stunde und zweite Stunde fallen aus, dann haben wir Biologie und danach zwei Stunden Deutsch.“
Jean umfasste Vanessas Gesicht, dann küsste er sie sanft und drehte sich auf den Rücken damit Vany ihren Kopf auf seinen Oberkörper legen konnte. Langsam schliefen die Beiden ein.
Der Schultag verlief eigentlich wie immer. Circa 1000 Schüler teilten sich zwei Gebäude, einen Schulhof auf drei Hofpausen, die eine halbe Stunde gingen und zwei Turnhallen. Die Lehrer wurden krank oder es wurden keinen neuen Kräfte eingestellt, weil an allen Ecken und Enden Geld fehlte. Es beschwerten sich sogar schon die Schüler, weil durch den Lehrermangel, die Stunden nur so ausfielen und alle im Stoff mächtig hinterher hingen. Die Zensuren wurden schlechter, die Zeugnisse sahen grausig aus und jeder Arbeitgeber schüttelte bei dem Anblick nur den Kopf.
Jean und Vany hatten Tsukasa noch nicht gesehen, obwohl sie in eine Klasse gingen.
„Weißt du wo Tsukasa ist?“, fragte Vanessa schließlich Anne, eine Klassenkameradin.
„Ich hab ihn heute noch nicht gesehen.“
Jean sah seine Freundin fragend an, doch diese schüttelte nur mit dem Kopf. Jean rief seinen Kumpel an, aber es ging niemand ran. Plötzlich flog eine Glastür auf und Tsukasa schlitterte grinsend über den Flur. Sein langer Mantel umflatterte seine in eine schwarze Hose gehüllten Beine. Vanessa sprang ihrem guten Freund lachend in die Arme.
„Wo warst du denn?“
„Verschlafen...“
„Du, ich muss dir was sagen.“
„Was?“
„Ich bin mit Jean zusammen.“
Tsukasa schloss Vanessa lange in seine Arme, dann sah er Jean an und grinste kurz. Im Deutschunterricht saßen Tsukasa und Vanessa zusammen. Während Frau Ahrend die Kommasetzung wiederholte, machten die beiden Jugendlichen etwas, dass sie nie taten...sie schrieben Zettel.
Habt ihr schon miteinander geschlafen?
Nee...wir sind gestern gerade mal zusammengekommen.
Warum warst‘n du gestern bei ihm?
Meine Ellis ham mich fertig gemacht. Da bin ich zu ihm gegangen und er hat mich getröstet...bist du böse?
Why? Ist doch voll schön...was anderes...kommt ihr beiden nachher mit zu mir, dann können wir zusammen zum Reichstag fahren.
Von mir aus gerne.
Vanessa, Tsukasa und Jean schlenderten über den Alexanderplatz. Sie wollten „Unter den Linden“ entlanglaufen, weil so der Weg kürzer war.
„Seid ihr aufgeregt?“, fragte Vany.
„Nee, ich nicht“, murmelte Tsukasa, während er sich eine Zigarette drehte.
Jean legte einen Arm um Vanessas Hüfte und gab ihr einen sanften Kuss.
„Du brauchst doch nicht aufgeregt zu sein.“
„Bin ich aber...“
„Seht euch mal die Fläche an. Da stand mal der Palast der Republik.“, meldete sich Tsukasa zu Wort.
Wo mal der Palast stand, befand sich eine große ebene Grasfläche, die langsam aufgerissen wurde, weil nach dem Abriss das Geld gefehlt hatte um gleich mit den Aufbau des Schlosses anzufangen, doch nun war das Geld da und die Arbeiten konnten beginnen.
„Wie findet ihr das, dass sie den Palast abgerissen haben?“, fragte Jean.
„Och, das Schloss macht sich da auch ganz gut, denke ich“, antwortete Vanessa sehr nervös.
Tsukasa blieb ein paar Sekunden stehen, dann grinste er: „Der stand da schon extrem lange und ist irgendwie zu einem Wahrzeichen der Stadt geworden. Das wäre ungefähr das Gleiche, als wenn sie den Fernsehturm abbauen würden.“
„Denke ich nicht“, erwiderte Jean. „Der Palast ist nicht so bekannt wie der Turm, glaube ich.“
„Ändern können wir das sowieso nicht mehr...“, überlegte Vanessa.
„Unter den Linden“ war eine Menge los. Polizeiwagen mit Blaulicht fuhren Richtung Reichstag, reiche Menschen schlenderten über die Straßen entlang und guckten in die Schaufenster. Jean, Tsukasa und Vanessa entdeckten ein paar Freunde, doch sie zogen es vor zu Dritt zum Treffpunkt zu laufen. Der Tag war ganz schön. Man merkte, dass der Sommer wiederkam, weil der Himmel nur von ein paar weißen Wolkenschleiern durchzogen wurde. Die Sonne schien angenehm auf die Stadt, während schon die ersten Menschen sich an das Eis wagten.
Vor dem Reichstag hockten schon ein paar Gruppen auf der grünen Wiese. Die Deutschlandfahne wehte flackernd und stolz im Wind, während ein paar Jungs grinsend mit einer anderen Deutschlandfahne zwischen den Reihen der Jugendlichen entlangspazierten. Vanessa setzte sich neben Jean und Tsukasa verschwand gänzlich in den Mengen. Jede Minute kamen ein paar Gruppen dazu und als die Sonne unterging kam auch Marily über die Wiese gelaufen. Sie hob ihre Hand und man stand langsam auf.
„Wo ist Tsukasa?“, fragte Vany.
„Ich weiß nicht.“
Jean ergriff die Hand seiner Freundin und begann sie zärtlich zu küssen.
Auf den Stufen des Reichstages erhoben sich die Polizisten, sie entsicherten ihre Waffen, nahmen die Schlagstöcke in die Hand und bauten eine undurchdringliche Mauer auf. Scharfschützen legten sich in Position, Bundeswehrhubschrauber drehten bedrohlich ihre Runden.
„Wir werden draufgehen“, wimmerte Vanessa.
„Du kannst gehen.“
„Nein, ich lass dich doch nicht allein!“ Vany ergriff Jeans Hand, dann rannten sie los.
Alles schien sich plötzlich zu drehen...Die Schreie brannten sich in den Kopf der Jugendlichen. Dazu kamen noch die Rotoren der Hubschrauber, das Summen der Fernsehkameras und die Warnschüsse der Polizisten. Wenn das vorbei war, konnte Vanessa aufatmen...
Die Polizei sprang von ihren Plätzen und begannen sich richtig mit Schutzschildern aufzustellen. Die Feuerwehr machte ihre Wasserschläuche an. Jean spürte bald Vanessas Hand nicht mehr in seiner, doch er konnte sich nicht umdrehen, da er einfach mitgezogen wurde. Dafür erblickte der Jugendliche in seiner Nähe Tsukasa, der laut brüllend eine Deutschlandfahne schwenkte. Wenn jetzt ein Bulle die Nerven verliert, dachte Jean und da fiel schon der erste Schuss, der die Menge mit einem Mal auseinander trieb. Tsukasa war verschwunden. Jean drehte sich um und konnte einem Wasserstrahl nur knapp ausweichen. Das war zu viel...wie kam er hier nur wieder heil raus?
Vanessa spürte wie sich Körper an sie drückten. Sie selber konnte kaum etwas sehen und Jean war auch weg. Langsam bekam die junge Frau es echt mit der Angst zu tun. Hatten sie sich nicht übernommen, machte das wirklich wieder alles gut? Ein lautes Zischen drang an ihre Ohren. Der Träger der Deutschlandfahne war verschwunden.
„TSUKASA!!!!“, schrie Vanessa verzweifelt.
Tsukasa schwenkte johlend die Fahne hin und her. Marily hatte gefragt, ob er diesen Part übernehmen wolle. Für Tsukasa war das eine große Ehre, außerdem würde er nicht mitten in der Menge stehen, sondern direkt vorne. Der Reichstag kam immer näher, dann ein kurzer Schmerz und Schwärze.
Jean hatte es geschafft sich irgendwie nach vorne zu drängeln. Nun rannte er ganz vorne mit. Die Wand der Polizisten kam immer näher, dann sah Jean die Scharfschützen auf dem Dach. Die würden sie alle gezielt niederschießen! Jean blieb stehen...ganz aprubt und dadurch kam erstaunlicher weise die ganze Massen zum Stehen. Man hielt gespannt die Luft unter dieser erdrückenden Stille an. Die Sonne versank komplett und die ersten Sterne erschienen funkelnd am Himmel.
„Die haben Scharfschützen auf dem Dach!“, rief plötzlich einer.
Man sah gleichzeitig hoch, dann trat Marily hervor. Die Polizisten wagten nicht anzugreifen, dass würde alles nur verschlimmern.
„Ich denke das ist Genug!“, rief Marily.
„Die buchten uns doch ein!“, kam es ganz aus Jeans Nähe.
Bevor Marily antworten konnte, ertönte eine männliche Stimme, verstärkt durch ein Megaphon.
„Nein, dass werden Sie nicht!“
„Der regierende Bürgermeister“, kam es im allgemeinem Getuschel.
Marily wartete bis der Bürgermeister vor ihr stand. Man gab sich nur zögerlich die Hand, dann lächelten sich die Partein freundlich an.
„Ich denke man wird eine Lösung finden, Marily.“
„Peinlich, dass wir nur so Aufmerksamkeit erregen konnten.“
Die Polizisten entspannten sich, während die Hubschrauber abdrehten.
Vanessa drängelte sich mit Tränen in den Augen durch die Masse bis sie über jemanden stolperte.
„Tsukasa!“
Vany kniete sich hin und schüttelte ihren Kumpel schluchzend. Tsukasa wurde am Bein getroffen. Mit der Hilfe seiner Freundin, konnte er aufstehen und mit nach vorne laufen. Dort stand Jean und lauschte gespannt den Einigungen der Partein, als ihn plötzlich jemand in die Arme fiel.
„Vanessa! Tsukasa!“
Die drei Freunde sprangen sich glücklich in die Arme, dann hörten sie gemeinsam zu, worauf man sich einigte: Neue Schulen werden geöffnet, mehr Lehrer ausgebildet, neue Arbeitsplätze geschaffen und das Geld wird nicht mehr in unnötige Baukosten gesteckt sondern mehr in die Bildung.
Die JDP, die Jugendliche demokratische Partei, ging eine Koalition mit der regierenden Partei ein, sodass man die Wünsche aneinander abwiegen konnte.
Es gab Eltern, die ihren Kindern nie verziehen haben. Tsukasa hatte Glück, nach seiner Beinoperation hatten seine Eltern sich rührend um ihn gekümmert und sich mit ihrem Sohn versöhnt. Es gab sehr viel nachzuholen, doch unter diesen Umständen würde Tsukasa das gerne machen.
Vanessa und Jean hatten nicht so ein Glück. Sie zogen aus ihren Elternhäusern in eine gemeinsame Wohnung am Stadtrand von Berlin.
Berlin hatte eine Menge nachzuholen, denn Schulen und Arbeitsplätze ließen sich nicht von heut auf morgen aufbauen, doch mit der Zeit sank die Zahl der Arbeitslosen, denn man brauchte Lehrer und Bauarbeiter für die neuen Schulen, auf denen mehr Kinder konnten, sodass sich nicht frei Schulen zwei Gebäude teilen mussten.
Einfach nur Zeit für seine Mitmenschen haben, kann schon helfen...
ENDE