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Justitia's Schwert
Es war ein unglaublich schöner Frühlingsabend, die Luft stand still und es war angenehm warm. Die Sonne, die nur noch eine handbreit davon entfernt war den Horizont zu berühren, leuchtete orangegelb und warf lange Schatten. Jeder einzelne Halm des kniehohen Grases und die zahllosen Mücken, die in der Luft schwirrten, schienen von einer leuchtenden Aura umgeben zu sein. In der Luft lag der Duft von Allem was blühte. Es war betörend, ließ einen schwindelig werden, wenn man einen zu tiefen Atemzug nahm. Er ließ seinen Blick noch einmal über das Schauspiel zwischen Licht und Schatten schweifen, das sich in den Blättern der Bäume austobte. Es war unvorstellbar faszinierend, zu wundervoll um wahr zu sein.
Mike schüttelte kurz aber heftig den Kopf. Er musste bei klarem Verstand bleiben!
Dass die Temperaturen jetzt erträglich waren, ließ ihn nicht vergessen, wie unglaublich heiß es tagsüber gewesen war. Und das schon im Frühling! Wenn das so weiterging, durfte er bald nur noch mit einer Tarn-Unterhose rumlaufen, wenn er sich nicht die Seele aus dem Leib schwitzen wollte. Er musste bei der Vorstellung schmunzeln.
Er wischte sich mit der Hand über das total verschwitzte Gesicht.
Bleib bei der Sache, Mann! Jetzt ist wirklich nicht die Zeit für schlechte Witze!
Ein Blick in Richtung Sonne ließ ihn verärgert feststellen, dass die schon ein gutes Stück hinter dem Horizont verschwunden war. Er musste fast zehn Minuten lang sinnlos auf das Feld vor ihm gestarrt haben! Verlorene Zeit, die nicht mehr aufzuholen war. Umso wichtiger, dass er sich wenigstens jetzt voll auf seine Aufgabe konzentrierte.
Von seiner Position aus konnte er das Lager gut einsehen. Es war ungefähr hundert Meter entfernt und befand sich auf der leicht abschüssigen Ebene mitten in einer kleinen Baumgruppe. Er selbst kniete hinter einer ziemlich dicht bewachsenen Buschreihe am Rande eines düsteren Waldes und war damit seinerseits bestens vor neugierigen Blicken geschützt. Das hielt ihn jedoch nicht davon ab, sein Fernglas langsam, mit einer fast schon bedächtig wirkenden Bewegung, aus der Jackentasche hervorzuholen und es anzusetzen.
Das Lager war in Eile errichtet worden und verdiente diesen Namen eigentlich nicht. Es bestand nur aus drei, unordentlich ausgebreiteten Schlafsäcken und einer schlampig hergerichteten Feuerstelle. Um diese saßen die drei Männer, die er seit einiger Zeit, so unauffällig wie möglich, verfolgt hatte. Sie waren damit beschäftigt, die kürzlich erbeuteten Sachen genauer in Augenschein zu nehmen und lachten dabei so laut, dass er es bis hier oben mehr als deutlich hören konnte. Keine Reue oder auch nur ein bisschen Respekt vor dem Tod!
Ihm schoss wieder das Bild der Reisenden in den Kopf, die nur zehn Kilometer entfernt, leblos auf der Straße lagen, jeder für sich in seiner eigenen Blutlache. Sie waren völlig unbewaffnet gewesen! Dem Gepäck nach zu urteilen, das nun von ihren Peinigern durchwühlt wurde, hatten sie wahrscheinlich vorgehabt ein neues Leben in der nächstgelegenen Gemeinde anzufangen. Noch ein hoffnungsloser Traum mehr, der ein fatales Ende gefunden hat.
Anfangs hatte er noch Bedenken gehabt, ob er richtig handelte. Er war zwar unfreiwilliger Zeuge des ungleichen und eindeutig unfairen Kampfs geworden, aber die Drei könnten ihre Gründe für den Angriff gehabt haben. Vielleicht sind sie oder ihre Familien in Not und sie waren dazu gezwungen gewesen es zu tun. Immerhin gehörte das Recht des Stärkeren, in Zeiten wie diesen, zum normalen Tagesablauf.
Aber das, was er gerade beobachtete, fegte auch noch die letzten Zweifel beiseite. So verhielt sich niemand, der töten musste! Das da waren nur gewöhnliche Banditen. Abschaum, der die Schwäche von anderen Menschen skrupellos ausnutzte! Eine Woge der Wut kam in ihm hoch. Um sich zu beruhigen atmete er tief durch, verstaute dabei das Fernglas wieder.
Von Selbstjustiz hatte er eigentlich noch nie viel gehalten. Genauso wenig davon, sich in die Angelegenheiten fremder Leute einzumischen. Dennoch bezweifelte er stark, dass er wegen dem, was er gleich tun würde, ernsthafte Gewissensbisse bekommen würde.
Sein G36 wanderte fast schon wie von selbst in Anschlag. Er blickte durch die vertraute Vergrößerungsoptik noch einmal auf das Lager hinab. Gerade rechtzeitig, um mitzubekommen, wie der Mann mit Bart, offensichtlich der Anführer der kleinen Gruppe, mit einer herrischen Geste etwas befahl. Unmittelbar darauf stand ein schmächtiger Typ, wahrscheinlich erst vor kurzem erwachsen geworden, gehorsam aber trotzdem mürrisch auf, schulterte seine Waffe und entfernte sich von den beiden Anderen. Grimmige Entschlossenheit machte sich in Mike breit.
Gut, dann würde er also der erste Glückliche sein.
Er warf noch einen kurzen Blick auf das Gras zwischen ihm und dem Lager - die Luft stand immer noch still - und folgte dann dem schlendernden Mann mit dem Fadenkreuz, als würde dessen Kopf daran festkleben. Die Entfernung war nicht besonders groß, aber er legte trotzdem etwas höher an. Seine Atmung wurde immer flacher, setzte schließlich vollkommen aus und der bis jetzt ausgestreckte Zeigefinger krümmte sich, übte unaufhörlich mehr und mehr Druck auf den Abzug aus.
Plötzlich verschwand sein Ziel hinter einem Baum, sodass er keine freie Schussbahn mehr hatte. Luft holend, nahm er den Zeigefinger vom Abzug und beobachtete das Geschehen weiterhin durch die Zieloptik. Er würde auf eine neue Chance warten müssen.
Die ließ allerdings nicht lange auf sich warten, denn nur einen kurzen Augenblick später kam der Mann hinter dem Baum hervor. Mike war bereits wieder mitten im routinierten Ablauf, als er registrierte, was sein Opfer nun mit der Rechten festhielt. Er blickte verdutzt auf und ließ den Lauf ein wenig sinken. Bei dem Gegenstand handelte es sich um nichts Besonderes, ganz im Gegenteil, er war sogar ziemlich gewöhnlich. Ein zusammengerollter Schlafsack, wie er ausgebreitet bereits dreimal um das Lagerfeuer lag. Aber genau das war der springende Punkt!
Sie sind nur zu dritt, also wieso holt er noch einen Vierten?!
Sein Herzschlag setzte für den Bruchteil eines Augenblicks aus. Seine Augen weiteten sich und er spürte, wie er jegliche Farbe im Gesicht verlor. Gleichzeitig lief es ihm heiß und kalt den Rücken herunter. Wie das nun einmal so war, wenn man etwas sehr wichtiges vergessen oder, wie in seinem Fall, übersehen hatte.
Nachzügler! Verdammt, sie haben eine Nachhut! Wieso hab ich das nicht eher…
Genau in diesem Augenblick hörte er direkt hinter sich ein leises Knacken, kaum lauter als das Fallen einer Stecknadel. Immer noch kniend, drehte er den Kopf erschrocken herum und bemerkte so den dunklen, hoch gewachsenen Schatten aus den Augenwinkeln, der unmittelbar hinter ihm stand. Blitzschnell rollte Mike über die rechte Schulter ab. Und das keine Sekunde zu früh, denn etwas sirrte mit einem ungeheuren Luftzug, der die Wucht dahinter nur erahnen ließ, an seinem linken Ohr vorbei. Nun auf dem Rücken liegend, riss er sein Gewehr hoch, richtete es auf den Oberkörper des Angreifers und gab zwei ungezielte Schüsse ab. Das peitschende Knallen durchbrach die Stille und hallte durch den ganzen Wald.
Noch durch den Lärm der Schüsse leicht betäubt, wurden die Geräusche aus der Umgebung ausgeblendet. Für einen kurzen Augenblick schien die ganze Situation wie eingefroren zu sein. Sein Gegenüber blieb in einer seltsam anmutenden Haltung stehen, leicht gekrümmt, den Arm für einen weiteren Hieb erhoben. Den würde er allerdings nicht mehr ausführen können, weil er jetzt in die Knie sank und dabei die Machete fallen ließ.
Ein Lichtstrahl verirrte sich auf den Sterbenden. Mike konnte das verzerrte Gesicht gut erkennen, dass nicht wusste, was es zuerst zeigen sollte, Erstaunen, Wut oder Schmerz. Die zwei dunklen, feucht glänzenden Flecke im schwarzen Shirt waren auch zu sehen. Sie breiteten sich rasend schnell aus und vereinten sich bald zu einem Einzigen. Der Getroffene fiel nun endgültig mit einem letzten Keuchen nach vorne über. Es war vorbei. Mike stand auf und sah sich die Machete nun genauer an. Die Klinge war so lang wie sein Unterarm, zwar ein wenig verrostet, aber die Schneide wurde erst kürzlich sorgfältig geschliffen.
Scharf genug, um jemandem damit den Kopf abzuschlagen!
Ihm wurde bei dem Gedanken kurz übel, die Freude darüber, noch zu leben, überwiegte jedoch. Trotzdem sollte er vielleicht nicht vergessen, dass noch drei von der Sorte auf ihr Ticket warteten!
Hastig ging er wieder kniend in Stellung. Wie erwartet, war der kurze Kampf nicht unbemerkt geblieben. Die Drei näherten sich, mit den Sturmgewehren im Anschlag, dem Waldrand in einer Art Linienformation und ungefähr zehn Meter Abstand zueinander. Sie hatten erstaunlicherweise schon die Hälfte der Strecke hinter sich gebracht. Großartig, auf das Überraschungsmoment konnte er also nicht mehr zählen! Zwar würde er den Ersten noch mit einem gezielten Schuss ausschalten können, aber die anderen Beiden mussten das Mündungsfeuer dann einfach sehen!
Noch achtundzwanzig Schuss im Magazin und nur drei Ziele, also warum geizig sein?
Er stellte den Hebel mit dem Daumen auf Feuerstoß, setzte an und die erste Salve entlud sich auf den Gegner, der am nächsten war. Der fiel, wie vom Blitz getroffen, sofort um. Mike sah das allerdings nicht mehr, denn er legte schon auf den Zweiten an, der bereits anfing wild in seine Richtung zu schießen. Es blieb jedoch nur bei ein paar Kugeln, die einige Meter entfernt durch die Büsche zischten, denn er teilte schnell das Schicksal seines Kameraden.
Ein wirkliches Problem war der Dritte, der Anführer. Der war nämlich ein ungleich besserer Schütze als sein Untergebener. Eine Salve flog direkt in seine Richtung und er spürte wie etwas Heißes über seine Wange strich. Sofort schmiss er sich flach auf den Boden und hörte wie weitere Salven das Blattwerk knapp über ihm zerstörten. Wahrscheinlich auf der Höhe, wo bis vor kurzem noch sein Kopf war. Er tastete mit Zeige- und Mittelfinger seine Backe ab und zog sie gleich wieder zurück, als es brannte. Ein Streifschuss. Nichts Schlimmes, aber die Wunde würde bald anfangen hässlich zu bluten!
Er wartete auf eine Pause, schließlich konnte sein Gegner nicht ewig weiterfeuern. Als es dann soweit war, richtete er sich wieder auf und zielte auf den bärtigen Mann. Der beobachtete noch eine Weile den Waldrand und begann dann langsam nachzuladen. Anscheinend war er sich ziemlich sicher, sein Ziel getroffen zu haben, nachdem keine Gegenwehr mehr kam. Mike drückte ab …und es geschah nichts!
Scheiße, Ladehemmung!
Seine Waffe muss einen ungesunden Stoß abbekommen haben, als er sich hingeworfen hatte. Das sollte eigentlich nicht passieren! Er hatte noch seine Pistole, aber auf die Entfernung konnte er keinen treffsicheren Schuss abgeben und der war nötig, wenn er nicht durchlöchert werden wollte! Darauf warten, dass der Typ näher kam, konnte er auch nicht, immerhin wies sein Sichtschutz mittlerweile doch einige Mängel auf. Na gut, dann blieb ihm nur noch eines.
Er ließ sein Gewehr fallen, zog mit der Rechten die Pistole aus dem Halfter am Oberschenkel, brach durch die Buschreihe und sprintete los, als würde er vor dem Tod höchstpersönlich fliehen. Sein Opfer blickte erschrocken auf und hatte es auf einmal sehr eilig ein neues Magazin aus der Tasche zu holen, was ihm nicht ganz reibungslos gelang.
Nur noch ein paar Meter!
Er schaffte es dann doch noch und schob es ungeschickt in den Magazinschacht.
Noch ein Stück!
Er lud das Gewehr durch und riss es hoch.
Aber zu spät, Mike war jetzt nah genug. Er bremste ab, ging in die Hocke, stützte seine Rechte mit der linken Hand ab, brachte Kimme und Korn auf eine Höhe mit dem Kopf seines Gegenübers und drückte ab. Dem, bis jetzt letzten Überlebenden des Trupps, riss es, begleitet von einem roten Sprühnebel, den Kopf nach hinten. In einem letzten Akt des Aufbegehrens, verkrampfte sein Zeigefinger und führte zu einem unkontrollierten Entladen des Magazins. Mike hechtete sofort zur Seite, die Hände schützend über den Kopf geschlagen. Das Rattern verstummte aber bald und er konnte wieder aufstehen. Außer ihm lebte hier keiner mehr. Es war endlich vorbei.
Er musste immer noch schwer atmen von seiner kleinen Sprinteinlage und brauchte unbedingt eine Verschnaufpause. Also setzte er sich mitten auf dem Feld ins Gras, holte ein sauberes Tuch hervor, dass er sich an die mittlerweile stark blutende Wange presste und beobachtete das, was vom Sonnenuntergang noch übrig blieb.