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Kachel, Treppe, Ende
Frau Mazurek ist tot. Das behauptet mein Bruder. Außer Atem steht er vor mir, er hat die Hände in die Hüften gestemmt und das dunkle Haar fällt ihm ins Gesicht.
„Woher willst du das wissen?“, frage ich. „Hast du ihre Leiche gesehen?“
Er schüttelt den Kopf.
„Der Mazurek stand mit zwei Männern vor dem Haus. Da war auch ein Leichenwagen mit diesen Vorhängen vor den Fenstern, damit man die Toten hinten drin nicht sehen kann, und die Männer, das waren Bestatter, glaub ich. Haben geschwitzt wie die Schweine – alle beide mit schwarzen Pullundern und langen Hosen.“
„Die müssen so was tragen“, behaupte ich, bin aber nicht sicher. Mein Bruder wischt sich Schweiß von der Stirn und zuckt mit den Schultern.
„Hatten die einen Sarg dabei?“, will ich wissen.
Er schüttelt den Kopf.
„Die meinten, dass die sie erst morgen holen wollen, damit der Pfarrer heute noch mal vorbeikommen kann.“
„Aha“, sage ich. Dann schweigen wir und irgendwann beginnt er mit seinem Zeh Muster in den Sand zu malen. Seine Stirn liegt dabei in Falten, wie bei dem alten Mann, der morgens den Bus fährt, mit dem wir zur Schule kommen.
„Frau Mazurek ist tot“, sagt unser Vater beim Abendessen und nimmt einen Bissen von seinem Brot. Mein Bruder beginnt auf seinem Stuhl herumzurutschen. Vater kaut und sein Bart bewegt sich dabei. Ich sehe, dass sich ein paar Krümel und etwas Leberwurst darin verfangen haben.
„Sie war alt“, sagt er. Er sagt es, als wäre er uns eine Erklärung schuldig. „Ist wohl auf der Treppe gestolpert und heruntergestürzt – eine Scheiße so was.“ Er schüttelt den Kopf und sieht an uns vorbei. „Manchmal ist das so - das geht dann schnell.“ Er schaut zu mir. Dann sieht er meinen Bruder an. Er nickt und wir nicken auch.
Nach dem Essen zündet er sich eine Zigarette an. Das tut er jeden Abend. Wenn er daran zieht, knistert es. Die Finger, mit denen er die Zigarette hält, sind dick und mit Hornhaut überzogen. Unter seinen Nägeln ist immer Dreck, da kann er machen, was er will. Das kommt von der Arbeit in der Fabrik, sagt er. Als unsere Mutter noch da war, hat sie ihm gesagt, dass er sich vor dem Essen gefälligst die Hände waschen soll. Sie arbeitete auch in der Fabrik, aber ihre Nägel waren in Ordnung und wenn sie ihre Stimme hob, tat man, was sie einem sagte.
An der Küchenwand hängen weiße Kacheln mit grünen Pflanzen und roten Kirschen darauf. Eine der Kacheln hat einen Riss. Wenn ich den Kopf schräg halte, sieht der Riss aus wie das Maul eines Haifischs. Je länger ich dort hinsehe, desto mehr habe ich das Gefühl zu kippen. Mir wird schwindelig. Meine Gedanken kreisen um Frau Mazurek und um Treppenstürze. Manchmal ist das so, denke ich. Kachel, Treppe, Ende, geht es mir durch den Kopf. Ich denke an meine Mutter. Vater raucht und mein Bruder nimmt einen Schluck aus seinem Glas, verschluckt sich und muss husten. Eigentlich wollte ich fragen, wann sie wiederkommt, traue mich aber nicht. Vater beugt sich vor und klopft meinem Bruder mit der Hand ein paar Mal fest auf den Rücken. Dabei behält er die Zigarette zwischen seinen Lippen und bläst Rauch durch die Nasenlöcher. Falls ich einmal mit den Zigaretten anfange, möchte ich so rauchen, wie er es tut. Mein Bruder schnauft und grinst mich an. Seine feuchten Augen sind wegen des Hustens beinahe so rot wie die Kirschen auf den Kacheln. Ich denke an Frau Mazurek und dass ich noch nie eine echte Leiche gesehen habe.
Später liegen wir in unseren Betten. Der Mond scheint in das Zimmer. Sein Licht färbt alles blau, selbst die Schatten. Als es Zeit ist, stehen wir auf. Wir schlagen stumm die Decken zurück, unsere Sachen haben wir noch an und schleichen zum Fenster. Ich steige zuerst hinaus. Barfuß lande ich im nassen Gras. Im Sommer tragen wir selten Schuhe. Der Sand auf den staubigen Feldwegen ist heiß und im Wald fühlt sich das weiche Moos so an, als würde man auf Teppich laufen. Mein Bruder landet neben mir. Er kichert und hält sich die Hand vor den Mund.
Wir gehen schweigend am Bach entlang, dicht neben dem Schilf. Grillen und Zikaden machen einen unglaublichen Lärm und ich frage mich, wie im Dorf irgendwer schlafen kann. Nach ein paar Minuten biegen wir ab und laufen über die verlassene Straße. Eine Laterne beleuchtet den Weg. Insekten bewegen sich um das orangene Licht, einige hängen in einem Spinnennetz und ich höre das elektrische Brummen der Glühbirne.
Vor dem Haus der Mazureks bleiben wir stehen. Das Fenster im Erdgeschoss steht offen. Ein schmaler Streifen Rasen liegt zwischen uns und dem Haus. Wir zögern auf das Gras zu treten, denn dann müssten wir weitergehen, dürften nicht mehr stehen bleiben, das wissen wir. Wir schweigen und warten und sammeln unseren Mut.
Das Fenster ist nicht sonderlich hoch, aber um hindurchschauen zu können, müssen wir uns strecken. Ich kann wenig erkennen, nur ein paar Schemen. Einer davon sieht so aus, als könnte er zu einem Bett gehören. Ich stelle mir vor, dass sie da liegt, Frau Mazurek, die ich eigentlich nur kenne, weil ich manchmal an ihrem Haus entlangkam und sie im Garten stand, mit erdigen Händen Giersch und anderes Kraut aus dem Boden herausgerissen hat, das graue Haar zu einem Dutt gebunden, mit Flecken auf dem blumigen Kleid. Ich höre, wie mein Bruder neben mir keucht und ächzt, so sehr strengt er sich an, um nach drinnen sehen zu können. Mit seinen Händen fasst er den Rahmen, steht auf seinen Zehenspitzen und dann plötzlich zieht er sich hoch und klettert hinein. Das geht so schnell, dass ich nichts machen kann. Einen kurzen Moment zögere ich, dann ziehe auch ich mich hinauf und steige hinterher. Als meine Füße den Boden des Zimmers berühren, knarzt es und ich halte die Luft an. Wir lauschen. Doch da ist nichts, nur das Zirpen der Zikaden. Vor uns steht ein Bett. Darauf liegt Frau Mazurek. Nicht mal zugedeckt hat man sie. Ein Windhauch streift durch das Fenster über meinen verschwitzten Nacken und ich bekomme eine Gänsehaut.
Frau Mazurek ist eine dicke Frau. Ihr Bauch zeichnet sich im Mondlicht ab und auch ihre Beine und Arme sind kräftig. Sie trägt geschnürte Sandalen, eine Strumpfhose, einen Rock und eine Strickjacke. Ihre Hände sind ineinander gefaltet und liegen auf ihrer Brust. Zwischen den Fingern hält sie etwas, eine Kette oder einen Rosenkranz, ich bin mir nicht sicher. Die Augen hat sie geschlossen und ich bin froh darüber. Ich gehe näher an sie heran. Ich will hören, ob sie atmet. Will wissen, ob sie Geräusche macht, die beweisen, dass sie in Wirklichkeit nur schläft und morgen wieder in ihrem Garten stehen wird, um Blumenzwiebeln zu vergraben oder Unkraut herauszuziehen. Doch natürlich atmet sie nicht, weil sie ja tot ist, und ich selbst traue mich auch kaum noch Luft zu holen. An ihrem Kinn und auf der linken Wange hat sie Schürfwunden. Auf ihrer Stirn ist ein dunkler Fleck. Ihre Backen, das ganze Gesicht sieht aufgebläht aus und ihre Lippen sind zusammengepresst, als hielte sie dahinter etwas verborgen. Dennoch wirkt es, als hätte man ihr etwas weggenommen. Mein Mund ist trocken, ich schlucke und weiß nicht, wohin mit meinen Händen. Obwohl das Fenster offensteht, riecht es nach altem Holz und Muff und auch nach etwas anderem. Es riecht sauer und ich denke, dass man so vielleicht riecht, wenn man tot ist. Mit einem Mal ekelt es mich, aber ich gehe noch ein wenig näher an Frau Mazurek heran. Ich zögere, dann strecke ich meine Hand aus und berühre mit meinen Fingern ihren nackten Unterarm. Ich zucke zurück. Ihre Haut ist kalt wie Eis und es fühlt sich falsch an.
Neben mir höre ich meinen Bruder. Ich drehe mich zu ihm. Tränen laufen ihm über die Wangen. Er versucht ein Schluchzen zu unterdrücken, aber je mehr er es versucht, desto lauter passiert es dann doch. Erschrocken von dem Geräusch, das so plötzlich das Zimmer ausfüllt, hält er sich die Hand vor den Mund.
„Klappe!“, zische ich und merke, wie wütend ich werde. Mein Bauch zieht sich zusammen. Es kribbelt in meiner Brust und das Gefühl steigt bis zu meinem Hals empor. Ich mache einen Schritt auf ihn zu und dann gebe ich ihm eine Ohrfeige. Er starrt mich an. Immer noch laufen ihm Tränen über das Gesicht, aber das Schluchzen ist vorbei. Einen Moment stehen wir so voreinander, dann zeige ich zum Fenster. Leise gehen wir zurück, steigen auf den Sims und springen ins Gras.
Auf dem Weg nach Hause reden wir kein Wort miteinander. Kachel, Treppe, Ende, rotiert es in meinem Kopf und mein Bruder zieht nach jedem siebten oder achten Schritt die Nase hoch.
Am Samstag fahren wir mit dem Bus in die Stadt. Wir fahren vorbei an gelben Feldern und an der Fabrik, in der unser Vater arbeitet. Wir reden nicht viel, das tun wir nie, wenn wir in die Stadt unterwegs sind. Unser Vater schaut aus dem Fenster und er macht ein ernstes Gesicht. Mein Bruder und ich beobachten die anderen Fahrgäste und schlagen die Zeit mit stummem Daumenketschen tot.
Im Krankenhaus drücken wir uns auf den Gängen herum, während unser Vater neben dem Bett unserer Mutter auf einem kleinen Stuhl sitzt. Im Aufenthaltsbereich steht ein Tablett mit kaltem Pfefferminztee und einigen pyramidenförmigen Bechern aus Papier. Wir trinken viel zu große Schlucke, ziehen Grimassen und als mein Bruder Tee auf den Boden spuckt, boxe ich ihm auf den Oberarm. Er wirft seinen leeren Becher nach mir, trifft aber nicht und eine Schwester, die aus einem der Zimmer herauskommt, sieht uns böse an. Wir verziehen uns, gehen die langen Gänge entlang, auf denen es komisch riecht, folgen verschiedenfarbigen Linien auf dem Boden, balancieren darauf herum und wenn eine Tür offensteht, versuchen wir einen Blick zu erhaschen. Im Innenhof ist der Raucherbereich. Auf einer schmalen Bank sitzen zwei dürre Patienten und ziehen an ihren Zigaretten. Ein dritter in einem Rollstuhl sieht ihnen dabei zu. Unser Vater hat hier noch nie geraucht, überlege ich.
Bei den Aufzügen beobachten wir einen großen Mann mit nur noch wenigen Haaren. Er schiebt ein Gestell mit sich herum. Daran hängt ein Beutel und ein Schlauch führt vom Beutel bis unter das Hemd des Mannes. Langsam geht er an uns vorbei, schiebt das Gestell mechanisch vor sich her. Er schaut uns nicht an, hat den Blick starr geradeaus gerichtet und ich sehe, dass seine Wangen ganz grau und eingefallen sind. Die Bartstoppeln darauf sehen aus, als hätte man sie ihm angeklebt. Was machen die hier mit den Leuten, frage ich mich und höre das leise Quietschen seiner Gummischlappen auf dem Boden. Ich verziehe mein Gesicht, hebe die Hände und mein Bruder prustet los. Auch ich grinse, obwohl mir überhaupt nicht mehr zum Lachen ist.
Manchmal ist das so, denke ich, als wir wieder im Bus sitzen und nach Hause fahren. Das geht dann schnell. Hinter den gelben Feldern geht die Sonne unter und ich merke, wie mir Tränen in die Augen steigen. Ich schlucke, beiße meine Zähne fest aufeinander und kneife mit meinem Daumennagel meinen Zeigefinger. Ich sehe aus dem Fenster, richte meinen Blick auf den Feuerball, der am Horizont verschwindet. Ich beiße in die Innenseite meiner Wange und schmecke Blut. Ich mache eine Faust, denke an den dürren Mann bei den Aufzügen und an Schläuche und Beutel, denke an die Schule, an Frau Mazurek und ihre eiskalte Haut, an Kacheln, Treppen und das Ende. Und an unsere Mutter denke ich, die vorhin in ihrem Krankenhausbett, als wir uns verabschiedet haben, so klein gewirkt hat, wie es eigentlich verboten sein müsste.