- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 3
Kaleidoskop
(Bunt, wirr und doch geordnet)
»Was siehst du?«
Karin kniete neben mir, der Saum ihrer Röcke mit Erde bedeckt, schob sich näher an mich heran, zupfte an meinem losen Ärmel und flüsterte aufgeregt: »Nun sag schon, was siehst du?«
»Nichts«, antwortete ich, »’s ist bestimmt kaputt. Die Erschütterung, du weißt schon.«
»Darf ich mal sehen?«
Ich umschloss es fest mit beiden Händen. Die Mittagssonne stieg langsam über die schroff aufragenden Betonreste. Karin verharrte einen Moment lang stumm, blinzelte ins Licht (sanftes Glitzern) und rieb sich die Augen, wobei sie den Ruß über ihr Gesicht schmierte.
»Wie ein Indianer in Kriegsbemalung«, dachte ich. »Sei tapfer!«
Ich zog die Zigarrenschachtel aus der staubdunklen Ecke hervor. Der Deckel aus Buchenholz war nur leicht gesplittert. Innen hatten wir einen Sack Murmeln sowie einige durch die Hitze ausgeblichene Fotografien entdeckt. Und es. Ich legte es wieder zurück und nahm noch eine Murmel heraus, bevor ich die Schachtel unter einem Haufen verwitterter Steine vergrub.
»Karin, dieser Schatz bleibt ein Geheimnis, ja? Unser Geheimnis.«
Karin nickte.
Ich ließ die Murmel in ihre Hand kullern und versprach, morgen mit ihr hier zu spielen. Wir gingen. Von der Straße schallte uns russischer Gesang entgegen. Ein Soldat kochte in seiner Feldküche Grütze, verteilte sie an die hungrig Wartenden und sang dabei.
(Bloß ein wenig schütteln -- alles neu, alles anders nach dem Farbenschauer)
Schon vor Morgengrauen stapfte ich allein durch die Trümmer in Richtung Versteck. An den Schutträndern qualmten noch die Feuer der Nacht. Bleiche Gestalten glitten im Nebel an mir vorüber. Ich nickte, grüßte sie stumm. Karin hätte sich bloß vor ihnen gefürchtet, deshalb hatte ich sie nicht geweckt. Und sowieso ging es mir im Augenblick nicht darum, mein Versprechen einzulösen. Vielmehr wollte ich es ganz für mich allein haben. Zumindest für ein paar Stunden. Das wenige Essen oder andere Dinge mit ihr zu teilen fiel mir sonst nie schwer. Aber dieses Mal war es anders. Um nicht aufzufallen, verlangsamte ich meinen Schritt, was mir allerdings, mit den zu Fäusten geballten Händen, die ich unter meine verschränkten Arme presste – es war kalt und die Erde knirschte bei jedem Tritt, Mühe bereite. Ich bahnte mir den Weg, tastete und fühlte mich an den eingestürzten Mauern (aus Stücken wird ein Ganzes, der Bruch geheilt) entlang, bis ich endlich an die Stelle gelangte. Mittlerweile schrammten die ersten Sonnenstrahlen über die Ruinen. Lange Schatten bedeckten das Durcheinander (Chaos wird Harmonie). Ich wälzte den Steinhaufen um, stellte die Schachtel zwischen meine Beine auf und öffnete sie, nachdem ich mich vergewissert hatte, dass niemand mir gefolgt war. Da lag es. Unscheinbar, klein. Doch am Ende der schmalen Röhre verbarg sich eine ganze Welt. Ich balancierte es zwischen den Fingern, hielt den Atem an und linste hindurch (Kirchenfenster, von Licht durchströmt).
(Alles dreht und wendet und ändert sich)
Eine Woche war vergangen. Karin hatte, seit sie an jenem Morgen allein aufgewacht war, kein Wort mehr gesprochen. Ich hatte ihr zwar jedes Mal eine Murmel mitgebracht, aber es half nichts. Sie legte sie zu den anderen, neben ihr Kissen, und schlief. Manchmal glaubte ich, sie ahnte etwas. Ihre Augen, die, wenn sie still da lag, zuckten, verrieten es.
»Karin, ich bin gleich zurück. Versprochen.«
Sie rollte sich auf die andere Seite. Die Rückenwirbel zeichneten sich deutlich unter der dünnen, löchrigen Decke ab. Ich lief auf die Straße und suchte überall nach einem sicheren Platz, an dem wir die kühler werdenden Nächte überstünden, an dem Karin nicht einsam würde. An dem man ihr helfen könnte. Umsonst. Nachdem ich endlose Reihen zerstörter Häuser durchwandert und nirgends etwas Brauchbares gefunden hatte, stieß ich zufällig auf den russischen Soldaten. Anstatt wie jeden Tag Essensportionen auszugeben, stritt er sich nun laut mit einigen Überlebenden. Ich verstand nicht, worum es ging und so schien es auch ihm zu ergehen. Sobald ich versuchte, ihn anzusprechen, jagte er mich fort, indem er drohend sein Gewehr in der Hand schwenkte. Schließlich gab ich auf. Ich kehrte aber nicht auf direktem Wege zurück, sondern machte mich noch einmal auf zum Schatz. Vielleicht könnte es Karin aufmuntern.
(wechselnde Muster, wechselnde Gedanken)
Die Zigarrenschachtel ruhte noch an der alten Stelle. Ich klappte sie auf, hob es vorsichtig heraus, als plötzlich hinter mir ein Scharren die Stille zerriss.
»Karin! Was machst du hier?«
Sie schlich mit gesenktem Blick auf mich zu.
»Darf ich mal sehen?«
»Karin, du …«
Sie hockte und lehnte sich gegen meinen Rücken. Wie leicht sie war. Ich drückte es an ihre Hand, die schlaff herunterhing, und schloss die Augen.
»Und?«
»Es ist wunderschön.«
(Das Licht so nah’, strecke dich und greif’ danach)
Am nächsten Morgen wachte Karin nicht mehr auf.
Seitdem trage ich es immer bei mir, wohin ich auch gehe.
Es bleibt schwarz.