Was ist neu

Kaleidoskop

Mitglied
Beitritt
31.10.2004
Beiträge
381
Zuletzt bearbeitet:

Kaleidoskop

(Bunt, wirr und doch geordnet)

»Was siehst du?«
Karin kniete neben mir, der Saum ihrer Röcke mit Erde bedeckt, schob sich näher an mich heran, zupfte an meinem losen Ärmel und flüsterte aufgeregt: »Nun sag schon, was siehst du?«
»Nichts«, antwortete ich, »’s ist bestimmt kaputt. Die Erschütterung, du weißt schon.«
»Darf ich mal sehen?«
Ich umschloss es fest mit beiden Händen. Die Mittagssonne stieg langsam über die schroff aufragenden Betonreste. Karin verharrte einen Moment lang stumm, blinzelte ins Licht (sanftes Glitzern) und rieb sich die Augen, wobei sie den Ruß über ihr Gesicht schmierte.
»Wie ein Indianer in Kriegsbemalung«, dachte ich. »Sei tapfer!«
Ich zog die Zigarrenschachtel aus der staubdunklen Ecke hervor. Der Deckel aus Buchenholz war nur leicht gesplittert. Innen hatten wir einen Sack Murmeln sowie einige durch die Hitze ausgeblichene Fotografien entdeckt. Und es. Ich legte es wieder zurück und nahm noch eine Murmel heraus, bevor ich die Schachtel unter einem Haufen verwitterter Steine vergrub.
»Karin, dieser Schatz bleibt ein Geheimnis, ja? Unser Geheimnis.«
Karin nickte.
Ich ließ die Murmel in ihre Hand kullern und versprach, morgen mit ihr hier zu spielen. Wir gingen. Von der Straße schallte uns russischer Gesang entgegen. Ein Soldat kochte in seiner Feldküche Grütze, verteilte sie an die hungrig Wartenden und sang dabei.

(Bloß ein wenig schütteln -- alles neu, alles anders nach dem Farbenschauer)

Schon vor Morgengrauen stapfte ich allein durch die Trümmer in Richtung Versteck. An den Schutträndern qualmten noch die Feuer der Nacht. Bleiche Gestalten glitten im Nebel an mir vorüber. Ich nickte, grüßte sie stumm. Karin hätte sich bloß vor ihnen gefürchtet, deshalb hatte ich sie nicht geweckt. Und sowieso ging es mir im Augenblick nicht darum, mein Versprechen einzulösen. Vielmehr wollte ich es ganz für mich allein haben. Zumindest für ein paar Stunden. Das wenige Essen oder andere Dinge mit ihr zu teilen fiel mir sonst nie schwer. Aber dieses Mal war es anders. Um nicht aufzufallen, verlangsamte ich meinen Schritt, was mir allerdings, mit den zu Fäusten geballten Händen, die ich unter meine verschränkten Arme presste – es war kalt und die Erde knirschte bei jedem Tritt, Mühe bereite. Ich bahnte mir den Weg, tastete und fühlte mich an den eingestürzten Mauern (aus Stücken wird ein Ganzes, der Bruch geheilt) entlang, bis ich endlich an die Stelle gelangte. Mittlerweile schrammten die ersten Sonnenstrahlen über die Ruinen. Lange Schatten bedeckten das Durcheinander (Chaos wird Harmonie). Ich wälzte den Steinhaufen um, stellte die Schachtel zwischen meine Beine auf und öffnete sie, nachdem ich mich vergewissert hatte, dass niemand mir gefolgt war. Da lag es. Unscheinbar, klein. Doch am Ende der schmalen Röhre verbarg sich eine ganze Welt. Ich balancierte es zwischen den Fingern, hielt den Atem an und linste hindurch (Kirchenfenster, von Licht durchströmt).

(Alles dreht und wendet und ändert sich)

Eine Woche war vergangen. Karin hatte, seit sie an jenem Morgen allein aufgewacht war, kein Wort mehr gesprochen. Ich hatte ihr zwar jedes Mal eine Murmel mitgebracht, aber es half nichts. Sie legte sie zu den anderen, neben ihr Kissen, und schlief. Manchmal glaubte ich, sie ahnte etwas. Ihre Augen, die, wenn sie still da lag, zuckten, verrieten es.
»Karin, ich bin gleich zurück. Versprochen.«
Sie rollte sich auf die andere Seite. Die Rückenwirbel zeichneten sich deutlich unter der dünnen, löchrigen Decke ab. Ich lief auf die Straße und suchte überall nach einem sicheren Platz, an dem wir die kühler werdenden Nächte überstünden, an dem Karin nicht einsam würde. An dem man ihr helfen könnte. Umsonst. Nachdem ich endlose Reihen zerstörter Häuser durchwandert und nirgends etwas Brauchbares gefunden hatte, stieß ich zufällig auf den russischen Soldaten. Anstatt wie jeden Tag Essensportionen auszugeben, stritt er sich nun laut mit einigen Überlebenden. Ich verstand nicht, worum es ging und so schien es auch ihm zu ergehen. Sobald ich versuchte, ihn anzusprechen, jagte er mich fort, indem er drohend sein Gewehr in der Hand schwenkte. Schließlich gab ich auf. Ich kehrte aber nicht auf direktem Wege zurück, sondern machte mich noch einmal auf zum Schatz. Vielleicht könnte es Karin aufmuntern.

(wechselnde Muster, wechselnde Gedanken)

Die Zigarrenschachtel ruhte noch an der alten Stelle. Ich klappte sie auf, hob es vorsichtig heraus, als plötzlich hinter mir ein Scharren die Stille zerriss.
»Karin! Was machst du hier?«
Sie schlich mit gesenktem Blick auf mich zu.
»Darf ich mal sehen?«
»Karin, du …«
Sie hockte und lehnte sich gegen meinen Rücken. Wie leicht sie war. Ich drückte es an ihre Hand, die schlaff herunterhing, und schloss die Augen.
»Und?«
»Es ist wunderschön.«

(Das Licht so nah’, strecke dich und greif’ danach)

Am nächsten Morgen wachte Karin nicht mehr auf.

Seitdem trage ich es immer bei mir, wohin ich auch gehe.
Es bleibt schwarz.

 

Hi moonay,

ich fang erst mal beim positiven an. Sprachlich und stilistisch gibts nichts zu meckern. Dein Text liest sich flüssig weg.

Auch die Grundiee fand ich nett. Ich würde nur nicht gleich im Titel verraten das es um ein Kaleidoskop geht und den Leser etwas im ungewissen lassen. Am Schluss könnte dann sie fragen, was es ist und er es ihr verraten. So baust du etwas Spannung auf.

Was mich gleich zum nächsten Punkt bringt. Die Geschichte war mir in der Umsetzung zu fad. Du beschreibst die Situation serh außführlich und eindringlich. Die Hauptpersonen, vor allem Karin bleiben aber sehr blass. Deshalb konnte ich kein Mitleid mit ihr oder mit ihm empfinden, und deshalb wirkt auch die Pointe, das schwarz bleibende Kaleidoskop nicht auf micht.

Ich würde dir vorschlagen, die Ortsbeschreibung zu kürzen und dafür mehr Personenbeschreibung reinzubringen. Denn darum geht es ja eigentlich, damit willst du den Leser erreichen.

So wie sie jetzt ist es eine solide Geschichte, bei der aber noch einiges rauszuholen ist.

lg neukerchemer

 

Hi moonaY,

schön, mal wieder etwas von dir zu lesen. :)
Das Kaleidoskop bringt Farbe in das Leben der beiden Kinder. Neben dem russischen Soldaten, der anfangs Essen verteilt, ist es der Lichtblick in ihrem Leben und der Ich-Erzähler enthält seiner Schwester diesen Lichtblick vor. Ihre Farben gedenkt er ihr in den Murmeln zu. Gleichzeitig ist er besorgt um sie, verbringt seine Tage damit, eine bessere Unterkunft zu suchen, wenn auch ohne Erfolg.
Vielleicht gibt es keinen Ausstieg aus solch einer Geschichte, möglicherweise wäre es zu kitschig, wenn der Junge Erfolg hätte, und vielleicht muss dieses Plätschern des Grauens ein bisschen beliebig sein, weil es so viele gleiche Schicksale in dieser Zeit gab.
Für mich liegt trotzdem darin die Schwäche des Textes, denn er endet mit einer Spekulation.
Karin mag ihrem Bruder gefolgt sein, aber sie hatte nicht einmal ein Geheimnis zu entdecken, hat sie die Kiste doch mit dem Jungen gemeinsam versteckt.
Er fantasiert eine Haltung in ihrem Auftauchen, dass sie sich betrogen ocer verraten fühlen könnte, projiziert also sein schlechtes Gewissen in sie.
Ob sie wirklich böse war, können wir jedenfalls nicht wissen. Ihr Auftauchen bleibt auch ohne Konsequenz, auch ohne vorstellbare.
Deine Geschichte ist schön geschrieben und baut gut Stimmung auf, die Bedeutung des Titels und des sächlichen Protagonisten für die beiden Kinder wird klar.
Mir erscheint sie nur ein wenig kraftlos.

Details:

zupfte an meinem losen Ärmel und flüsterte aufgeregt:
"Nun sag schon, was siehst du?"
Nach einem Doppelpunkt würde ich keinen Zeilenumbruch vor der wörtlichen Rede machen.
blinzelte ins Licht (sanftes Glitzern) und rieb sich die Augen, wobei sie den Ruß über ihr Gesicht schmierte.
kein Fehler, sondern nur die Überlegung, ob der Satz nicht schöner klingen könnte, wenn du ihn umstellst und dabei auf den mit "wobei" eingeleiteten Nebensatz verzichtest: blinzelte uns Licht und schmierte sich den Ruß über das Gesicht, als sie sich die Augen rieb.
Und sowieso ging es mir im Augenblick nicht darum, mein Versprechen einzulösen. Vielmehr wollte ich es ganz für mich allein haben.
Das ist im Bezug unglücklich, denn du meinst ja nicht, dass er das Versprechen ganz für sich allein haben wollte, wie du es ausdrückst, sondern das Kaleidoskop.
Wo man ihr helfen könnte.
Anstelle des "wo" würde ich hier die dritte Wiederholung von "an dem" nutzen, dann ist es auch eindeutig eine stilistische Wiederholung.
Ich kehrte aber nicht auf direktem Wege zurück, sondern machte mich noch einmal auf zum Schatz. Vielleicht könnte es Karin aufmuntern.
Abgesehen davon, dass ich diese Stelle recht dürftig formuliert finde, bringst du dich mit dem Verschweigen des Gegenstands und der gleichzeitig korrekten Fallanwendung, die du schon darauf beziehst in Schwierigkeiten. In Verbindung mit Schatz liest sich "es" einfach falsch.
(wechselnde Muster, wechselnde Gedanken)
allgemein würde ich diese Klammergedanken auch immer noch durch Auslassungspunkte "schweben" lassen. (... wechselnde Muster, wechselnde Gedanken ...)
Sie schlich mit gesenkten Blick auf mich zu.
gesenktem Blick (Dativ)

Lieben Gruß, sim

 

Hallo neukerchemer, hallo sim,

Erst einmal recht herzlichen Dank für eure Kritiken und Verbesserungsvorschläge. Sofern diese Rechtschreibung und kleinere stilistische Aspekte betrafen, habe ich sie in meinen Text einfließen lassen. Ich gebe zu, dass die beiden Hauptpersonen nicht eindringlich genug charaktersiert sind, was zu Lasten des Emphatiegefühls geht. Allerdings stehen nicht sie, sondern das optische Spielzeug, das Kaleidoskop, (griech.: »Schönbildseher«) im Vordergrund. Es verändert fundamental die Wahrnehmungsweise und Gefühlswelt beider Kinder. Es spielt mit ihnen, nicht umgekehrt.

Ich bin froh, dass ihr meine Geschichte als sprachlich gelungen, stimmungsvoll und größtenteils schlüssig wertet. Eure Anmerkungen werde ich mir zu Herzen nehmen.

Schöne Grüße,
moonaY

 

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom