Kalt Teil 1
Als er aufwachte, vernahm er Geräusche, wie im Wohnzimmer geräumt wurde. Vermutlich war seine Frau, wie die letzten Tage schon, mit der Weihnachtsdekoration und der Vorbereitung des erwarteten Besuchs beschäftigt. Er schlug die Augen auf. Das Schlafzimmer lag im Halbdunkel der teilweise geöffneten Rollladen und der offenen Tür. Seit gestern Abend wütete ein Sturm und der Wind schlug den Regen gegen das Fenster, grau und kalt, so wie die kalte Leere ihrer Seite des Betts. Wie jeden Morgen. Er drehte sich, um sich zu strecken. Der Hund lag neben dem Bett, blinzelte, gähnte und wedelte beim Anblick seines Herren ein paar Mal, wobei der Schwanz ein klopfendes Geräusch auf dem Boden verursachte.
Seine Frau steckte den Kopf zur Tür herein. „Das wird aber auch Zeit, dass du aufstehst. Ich bin schon die ganze Zeit beschäftigt. Vor dem Haus sieht es grauenhaft aus. Alles voller Laub! Das ist deine Arbeit. Du solltest das gestern machen. Ich habe heute morgen im Keller schon zwei Säcke gefüllt, die du zum Altkleidercontainer bringen kannst, wenn du nachher die Kinder abholst. Nach den Feiertagen fahren wir mit den Kindern zum Shopping. Du könntest dir auch mal was Neues kaufen. Vielleicht schaust du mal kurz durch, was weg kann, wenn du sowieso zum Container fährst.“
Er schlurfte ins Bad. „Du wolltest jetzt doch wohl nicht duschen? Hast du mal auf die Uhr geschaut? Das kannst du nachher machen, wenn du draußen fertig bist. Und dann im kleinen Bad! Ich muss hier gleich noch alles putzen. Ich will dass es ordentlich aussieht, wenn die Kinder mit dem Baby hier sind.“ Das Baby hatte er ganz vergessen. Das ganze Fest würde sich um das Baby drehen. Die Kinder seines Bruders waren ihr früher unwillkommen. Sie sagte, kleine Kinder ruinierten das ganze Fest, ständig müsste man aufpassen und dann das Geschrei. Es sei für die Kinder besser, wenn sie Weihnachten zu Hause mit der Familie feierten, statt sich mit den Erwachsenen zu langweilen. Mit dem Kind ihrer Tochter aus der vorigen Ehe war alles anders.
Aus dem Bad zurück, zog er sich an. Sein Blick fiel auf das alte T-Shirt. Es war etwas verschlissen, keine Frage. Erinnerungen an Sommer, an Sonne, an warmen Wind hingen daran, an eine lange vergangene Zeit. Der letzte Sommer war eine unvermittelt einsetzende kurze Hitzeperiode, in der man froh war, nicht raus zu müssen, gefolgt von 8 Wochen gemischt kaltem Wetter. Der Übergang zum Herbst war nur an den Namen der Monate abzulesen. Dezember, ein Name so kalt und leer wie ihre Seite des Betts nach dem Aufwachen. Er holte sich einen großen Abfallsack und fragte sich dabei, wer die Säcke mit Altkleidern eigentlich alle leerte, und ob der Sack nicht sinnloser Müll wäre, aber fand keine praktische Alternative. Zuerst packte er die T-Shirts ein und ein paar andere Dinge dazu, um sie später in den Container zu entleeren. Die herrlich weichen Sweatshirts, die sie so hasste, und die alten Jeans. Es gab nichts Besseres auf der Welt als alte Jeans. Jeans waren keine Kleidung, sondern ein Gefühl, und der Glaube daran, dass die Welt im Grunde in Ordnung war. Unterhosen und Strümpfe. Es stimmte schon, ein paar Neue wären wohl irgendwann nötig. Sein Herz hing nicht daran. Man brauchte sie halt, aber wozu Neues, bevor sie abgetragen waren? Sie schaute wieder in das Schlafzimmer. „Endlich trennst du dich davon. Ich dachte schon, ich muss selbst heimlich ausmisten. Hast du den Mann der Nachbarin mal gesehen? So ein eleganter neuer Anzug, ich muss mich ja für dich schämen. Auf dem Weg zu den Kindern kannst du noch schnell ein paar Kleinigkeiten einkaufen, hier ist der Zettel. Ich habe den Kindern eine Nachricht geschickt, dass du später kommst.“ Er kramte weiter wortlos im Kleiderschrank. Sie war schon in der Küche verschwunden. Die paar Kleinigkeiten allein hätten eine Familie über die Feiertage gebracht.
Er trank in der Küche, an die Spüle gelehnt, einen Kaffee. „Die Tasse kannst du gleich in die Spülmaschine stellen! Ich habe gerade alles aufgeräumt. Ich will, dass es hier wenigstens zu Weihnachten mal sauber aussieht.“
Er steckte sich die Hundeleine ein. Ihre zwei Säcke mit alter Kleidung auf dem Rücken, klopfte er sich zweimal auf den Oberschenkel und ergriff dann seinen Sack. Der Hund kam wedelnd gelaufen. „Wenn du einkaufst, dann schau auf das Datum. Ich will nicht, dass das alles diese Woche abläuft. Ich fange jetzt mit Kochen für heute abend an. Die Kinder sollen die Windeln nicht vergessen.“ Er öffnete die Tür, sah, wie der Hund freudig zum Auto lief, und zog sie wortlos hinter sich zu. Warum sollten die Kinder die Windeln vergessen? Eigentlich bedeutete es, er sollte sein Interesse bekunden, den stinkenden kleinen Po zu säubern, um seine Rolle als vorbildlicher Stiefopa auszufüllen.
Im Supermarkt arbeitete er die Liste ab und der Einkaufswagen füllte sich. Das Auto wurde die letzten Tage schon mehrfach prall mit Lebensmitteln gefüllt. Hundefutter stand nicht auf der Liste, aber er kaufte dennoch welches. Die Schlange an der Kasse war lang und er fragte sich, wer wirklich im letzten Moment den gesamten Weihnachtseinkauf machte, oder wie er nur den Überfluss noch weiter aufstockte. Die Kassiererin hetzte durch die Waren und er bezahlte mit Karte. Draußen trieb der Wind dunkelgraue Wolken über den grauen Himmel, aber es regnete für einen Moment nur noch nieselnd. Der Hund rutschte genügsam zur Seite, als er das Auto belud. Die Tasche mit dem Fleisch stellte er dennoch vorsichtshalber auf den Rücksitz.
Am Altkleidercontainer war es einsam. Der Sturm ließ etwas nach und der Himmel wurde hellgrau. Er warf ihre zwei Säcke in den Container. Altkleider. Nichts in den Säcken war alt. Vermutlich waren an manchen Stücken noch mit harten durchsichtigen Kunststofffäden Schilder befestigt. Es wäre nicht überraschend, wenn manche Paare von ungetragen ausgemusterten Schuhen doppelt wären. Aber ohne es zu entsorgen, war kein Platz, damit sich seine Frau neuen Verführungen des Outlets hingeben konnte. Eine plötzliche Sturmböe ließ seine Jacke flattern. Kalt. Er ergriff seinen Sack und zögerte. Die Jeans wegzuwerfen, bedeutete keine Ausrede zu haben, nach Weihnachten nicht einen vollen Tag mit der Familie im Shoppingcenter zu verbringen, zwischen Herden von Kunden, die wahlweise mit Gutscheinen einkauften, unschlüssig was man nun kurzentschlossen erwerben könnte, um es glücklich später als das zu präsentieren, was man schon immer haben wollte, und Kunden, die das umtauschten, was sie eigentlich schon immer haben wollten, aber an dem eine Kleinigkeit störte, so dass sie versuchten, es innerhalb von wenigen Tagen kurzentschlossen in das zu verwandeln, was sie noch glücklicher präsentieren konnten.
Es begann wieder zu regnen. Der Hund rutschte im Kofferraum geräuschvoll zurück, nun wo die fehlenden Säcke neuen Platz boten, und schnupperte an den Einkaufstüten. Er schaute ihn an, der Hund hielt inne und schaute ihn ebenfalls an, um danach tief seufzend den Kopf zwischen die Pfoten zu legen. Er schob seinen Sack zurück neben den Hund und die Einkaufstaschen. Es war an der Zeit, über ein paar Dinge zu sprechen. Der letzte Versuch endete beinahe mit einer Scheidung. Vielleicht war Weihnachten im Kreis der Familie, deren Aufmerksamkeit ganz dem Baby ihrer Tochter galt, nicht der ideale Zeitpunkt für klärende Gespräche. Der Sack könnte einfach vorerst im Kofferraum bleiben.
Inzwischen durchweichte der Regen seine Jacke und es wurde im Wind ernsthaft kalt. Der Altkleidercontainer forderte immer noch stumm zur letzten Phase des Konsums auf und wurde Zeuge eines ebenso stummen Widerspruchs. Er zog seine nasse Jacke aus und stieg ein.
Auf dem Weg zu den Kindern stand er auf der linken Spur einer Kreuzung und wartete bei rhythmisch laufenden Scheibenwischern auf das Ende des Gegenverkehrs, um abzubiegen. Der Gegenverkehr endete und er bemerkte es erst, als neuer Gegenverkehr kam. Hinter ihm hupte jemand. Er schaute in den Spiegel, setzte den Blinker und wechselte die Spur nach rechts, um geradeaus weiter zu fahren und nach wenigen Minuten die Autobahn zu erreichen. Der Regen prasselte gegen die Scheibe, der Himmel wurde dunkler und es hätte ebenso bereits später Nachmittag sein können. Der monotone Rhythmus der Autobahn hatte etwas Meditatives an sich. Wann war der ideale Zeitpunkt für ein Gespräch, obwohl bereits alles gesagt wurde? Gab es einen idealen Zeitpunkt für das Gespräch? Es wurde bereits alles ausgesprochen und die Klarheit machte nichts besser. Was es zu beschließen gab, wurde bereits beschlossen, und im gleichen Moment ignoriert, so wie der Regen den Wunsch der Luft, die Windschutzscheibe zu umströmen, ignorierte, und einmal die Sekunde von den Scheibenwischern entfernt wurde. Das Laub vor dem Haus störte den Anblick der heilen Welt, die Präsentation der perfekten Ehefrau und Gastgeberin, den Anlass sie zu bewundern, ihre Schönheit, ihre makellose Inszenierung von Weihnachten, die zu Liebe und Dank verpflichtete. Er schaltete das Handy aus.
Nach zwei Stunden parkte er einsam an der Marina. Der Sturm flaute nun endgültig ab und es war nicht klar, ob es von der Dämmerung oder den Wolken dunkel wurde. Trübe Laternen erhellten die Stege und die See roch feucht, kalt und salzig. Sie besaßen das Boot seit zwei Jahren. Sie erzählte von der Romantik der See, vom Himmel und dem Sonnenuntergang, und meinte damit die Romantik des Hafenrestaurants und gesellige Abende mit anderen Bootsbesitzern an Land. Nach zwei Unterrichtstagen zu den nötigen Zertifikaten wurde es ihr zu technisch. „Das ist nichts für mich, aber es reicht ja, wenn einer das Zertifikat hat.“ An Bord wurde sie nach wenigen Stunden seekrank und genoss das Mitleid, wenn sie von ihrer Leidenschaft für die Romantik der Seefahrt erzählte, die so sehr von ihrer Gesundheit eingeschränkt wurde. Er war immer froh, wenn das Boot wieder ohne Schäden festgemacht war. Es war nicht einfach zu steuern, weil der Wind beim Anlegen eigentlich immer im Weg war, und sie war keine Hilfe. Er hatte schließlich das Zertifikat und Technik war etwas für Männer. An Bord war klar, dass sie mit seinen Entscheidungen nicht einverstanden war, an Land rühmte sie ihren erfahrenen Skipper und Ehemann. Er sah das Boot zuletzt im Frühjahr, weiß und elegant, nachdem sie ein Heidengeld bezahlten, um es polieren zu lassen. Sie seufzte gerne gegenüber jedem, der es nicht hören wollte, über die Kosten, aber das sei halt der Preis der Leidenschaft für die See. Sogar im schwachen Licht des Stegs zeigte sich jetzt das Grün der Algen und die schmutzige Bordwand war ein abstraktes Bild aus den Streifen der Wassernasen. Die Leinen waren steif von Salz und Algen. Er bedeutete dem Hund an Bord zu springen und folgte ihm. Als er die Tür aufschloss, schlug ihm kalte und muffige Luft entgegen. In der Bilge stand etwas Wasser, was bedeutete, dass der Regen immer noch irgendwo herein lief. Die Batterien waren halb voll. Er öffnete das Seewasserventil und startete den Generator, der alle paar Sekunden Wasser aus dem Rumpf spuckte, was sich mit dem Geräusch der Wellen und des Winds zu einem monotonen Hintergrund mischte und nur kurz von der Bilgenpumpe unterbrochen wurde. Er durchsuchte die Schubladen und fand Papier und Stifte. Im Stehen schrieb er die Kündigung des Liegeplatzes und kündigte die Abholung des Autos an. Der Hund hatte sich mit der seltsamen Situation abgefunden und schlief auf seiner Decke, als er kurz von Bord ging. Die Jacke war immer noch feucht und der Wind versuchte vergebens, ihm das Papier zu entreißen, als er es zusammen mit dem Restbetrag der Gebühren in bar, dem Autoschlüssel und den Fahrzeugpapieren, am Hafenbüro in den Briefkasten warf.
Das nasse und vom Regen dunkle Holz des Stegs war glitschig, als er ihn das letzte Mal auf dem Rückweg beschritt, die Einkaufstüten und den Sack mit der Kleidung am Arm. Nachdem er alles verstaut hatte, prüfte er den Wassertank, und stellte erfreut fest, dass der Service der Marina sein Geld wert war, denn der Tank war voll und das Wasser frisch und klar. Wieder an Bord schaltete er sein Handy ein, was ihn mit einer Flut von Nachrichten begrüßte, die er ignorierte. Er eröffnete unter seinem Namen ein Konto bei einer Internetbank, authentifizierte sich mit dem Ausweis und überwies sich die Hälfte des gemeinsamen Kontos. Wie viel mochte auf ihrem Konto sein? Es spielte keine Rolle mehr. Er kündigte seinem Arbeitgeber, der vermutlich nicht böse war, das Gehalt eines erfahrenen Mitarbeiters zu verlieren und die Stelle gerne mit einem billigen Einsteiger besetzen würde, und dachte darüber nach, was er seiner Frau schreiben sollte. Vorerst schaltete er das Handy wieder ab. Das Ablegen gestaltete sich zum ersten Mal erstaunlich einfach. Die Lichter des Hafens wurden kleiner und seine Welt schrumpfte auf die rot glimmenden Instrumente und die Reichweite des Radars. Das erste Mal nachts auf See war beunruhigend, aber er sagte sich, dass er alles gelernt hatte, was dafür nötig war. Mit der Sicherheitsleine verbunden setzte er nur ein Drittel Vorsegel und ein kleines bisschen Hauptsegel. Was bei schönem Wetter ein Kinderspiel war, wurde nachts, allein und bei reichlich Wind und Welle zu einer schweißtreibenden und gefährlichen Arbeit. Endlich fertig, drehte er das Boot in den Wind und schaltete den Motor ab. Die Batterien waren inzwischen voll und er stoppte auch den Generator. Ohne den Motor war er allein mit den Geräuschen von See und Wind, und der knarzenden Antwort des Bootes. Innen sah er sich die Seekarten an. Sie wollte unbedingt einen Satz Karten und Routenbücher an Bord haben, in die sie bei aller falschen Leidenschaft nicht einmal hineingeschaut hatte. Erstaunlicherweise lockte zu dieser Jahreszeit der Weg in die Karibik, eine verheißungsvolle Idee. Ein paar Stunden entfernt gab es eine Bucht, die versprach, ein geschützter Ankerplatz für die Nacht zu sein.
Um Mitternacht erreichte er sie und war das einzige Boot in der Dunkelheit. Den Tag über hatte er keinen Appetit, aber nachdem der Anker hielt, wurde ihm plötzlich schlecht vor Hunger. Der Hund wurde sofort aktiv, als er sich Abendessen machte, und bekam auch sein Futter, als ihm der Generator einfiel. Tatsächlich, es gab warmes Wasser. Nach dem Essen genoss er die heiße Dusche, die er morgens nicht hatte, und ihm wurde im kalten Boot endlich warm. Der Hund schlief zufrieden, als die Wolkendecke aufriss und einen klaren Nachthimmel preisgab. Unter einem endlosen Himmel voller nadelfeiner Sterne schaute er in die Nacht, die nicht so einsam wie das Bett am Morgen war. Er zog den Ehering ab und tastete mit den Fingerspitzen die Stelle ab. Es war ungewohnt. Dann nahm er sich das Handy. „Ich bin mit dem Hund auf dem Boot und komme nicht zurück. Das Auto kannst Du an der Marina abholen. Das Geld ist getrennt, Haus und Auto sind deins. Mir war einfach zu kalt.“ Er schickte die Nachricht ab, schaltete das Handy aus und warf den Ring in die See.
Am nächsten Morgen wachte er mit dem Geräusch der Wellen am Rumpf auf. Er schlug die Augen auf und drehte sich um. Die Koje lag im Halbdunkel der Vorhänge vor den Fenstern. Für einen Moment schloss er die Augen wieder und dachte, ‚Ich kann nicht glauben, dass ich das wirklich getan habe.‘ Dann betrachtete er seine Kabine und lächelte er beim Gedanken an seine weitere Reise. Der Hund lag neben dem Bett, blinzelte, gähnte und wedelte beim Anblick seines Herren ein paar Mal, wobei der Schwanz ein klopfendes Geräusch auf dem Boden verursachte. „Zwei Wochen, dann wird es wärmer. In zwei Monaten sind wir auf den Exumas.“ Der Hund richtete die Ohren auf. „Ich weiß nicht, wie es dann weitergeht. Wir sind frei.“