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Kalt

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26.08.2002
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Anmerkungen zum Text

Überarbeitet 10 / 2024

Kalt

Noel wacht morgens auf und findet, dass etwas nicht in Ordnung ist. Es ist vier Uhr früh und es ist ungemütlich.
Heute muss er nicht zur Arbeit. Er führt ein ruhiges, sicheres Leben. Angehörige hat er keine, aber Nachbarn. Wenn er im Verkehr aufpasst, wird er über achtzig Jahre alt.
Er geht zur Heizung. Die Heizung läuft auf Hochtouren, trotzdem ist es kalt. Noel wundert sich und geht in die Küche. Kalt.
Draußen ist kein Nebel, und er fragt sich, ob es draußen warm ist. Er versucht, das Fenster zu öffnen, aber es lässt sich nicht öffnen. Nicht in diesem Zimmer und auch nicht in den anderen. Die Fenster sind wie festgeschweißt. Währenddessen wird es immer noch kälter. Seine Finger werden steif. Er zieht eine Jacke an, geht zum Telefon und wählt einige Nummern. Irgendwelche, denn er kennt niemanden. Es geht auch niemand ran.
Dann geht er durch die Tür hinaus und wundert sich, denn es ist still. Und eisig. Kein Auto fährt. Kein Mensch ist auf der Straße. So ist Noel allein mit dem Beton, gerade jetzt, wo er Hilfe braucht. Die Kälte wird zu Reif auf seinen Kleidern, dringt ein. Er sieht auf seine Uhr: elf nach vier. Die Stadtuhr zeigt: Punkt vier.
Sein Atem klirrt. Er läutet bei einem Nachbarn. Keiner öffnet.
Auch um Viertel nach vier zeigt die Stadtuhr vier Uhr an. Noel ruft mehrfach ‹Hallo›, doch niemand antwortet.
Er bewegt sich, um Wärme zu erzeugen. Er hüpft eine Minute auf und ab, dann hört er wieder auf.

Um vier Uhr zwanzig geht er los und erreicht den nächsten Stadtteil um vier Uhr zweiundvierzig. Er sieht sich um, doch nichts bewegt sich und es ist nichts zu hören. Seine Augen tränen, seine Füße sind kalt wie zwei große, gefrorene Steine.

Um fünf Uhr sieht er auf einer Parkbank Menschen sitzen. Sie atmen nicht mehr, aber kalt sind sie nicht.
Die Fahrzeuge auf der Straße bewegen sich nicht. Sie wirken wie stehengelassen. Innen sitzen aber Tote.
Die Kälte wird arg, er weiß nicht mehr, was er tun soll. Er geht in den Park zurück. Kein Wind weht, die Bäume sind still. Seine Schritte werden kürzer. Er hat keine Zeit mehr, er wird erfrieren. Um sieben Uhr weiß er das.

Da steht ein Polizist auf dem Weg, starr, als wäre er im Gehen erfroren, mit erhobenen Armen und einer Miene, die sagt: "Tu es nicht!" Fünf Meter vor ihm ist eine Frau – mit einer kleinen Pistole auf die eigene Schläfe gerichtet. Sie hat geschossen. Die Kugel, noch im erstarrten Mündungsfeuer, hat sich knapp schon in die Haut gebohrt und ist stecken geblieben.
Noel geht durch die Kälte zur Frau, nimmt die Kugel, betrachtet sie kurz und lässt sie zu Boden fallen.

Er weiß nicht, wie spät es ist, und hat begonnen zu erfrieren.
Seine Hände und Füße sind weg.
Auf einer Parkbank sitzt ein Spatz. Noel nimmt ihn. Setzt ihn auf den Boden wie ein Holzspielzeug. Legt sich anschließend auf die Bank, krümmt sich und stirbt.

*
Nach seinem Tod, nur eine zehntel Sekunde danach, wird es ohne Übergang tropisch heiß und innerhalb von Monaten ist Noel verwest. Nach hundert mal hundert Jahren sitzt der Spatz noch an derselben Stelle, aber von Noel sind selbst die Knochen verschwunden.

*
Danach war ein Rauschen zu hören, die Luft war voller Geräusche, der Wind, die Straße, ein Gebell. Der Spatz flog auf, verwirrt.
Ein Mieter des Hauses 34 blieb verschollen. Nichts erklärte sein Verschwinden und er blieb verschwunden. Hatte er das Land verlassen? Er hatte jedenfalls nichts mitgenommen. Nur vier Tage später spielte das bereits keine Rolle mehr.
Bei Schulzes klingelte frühmorgens das Telefon, aber niemand war dran, als Frau Schulze den Hörer abnahm. Frau Wober hörte jemanden mehrmals ‹Hallo!› rufen, entdeckte aber niemanden.
In den Boulevardzeitungen war anderntags von einem Wunder die Rede. Eine Frau hatte, in der Absicht, sich das Leben zu nehmen, eine kleinkalibrige Waffe auf ihre Schläfe abgefeuert. Die Kugel war aber von der Schläfe abgeprallt und auf den Boden gefallen.

 
Zuletzt bearbeitet:

Hi Flic, ich bin fast sprachlos( nur fast , ganz sprachlos werde ich wohl nie sein) denn diese Geschichte hat mir ohne jegliche Vorbehalte richtig gut gefallen.
Du beschreibst mit einem wunderbar sterilen aber dennoch auf eine ironische Weise lebendigen Stil die Annonymität des Einzelnen in der Masse. Die Tatsache , dass die Nachbarn Monate nach dem Vorfall anfangen sich Gedanken zu machen, und dann tratschen beschreibt unsere Klatsch und Tratsch aber nie Tatgesellschaft sehr treffend.
Glückwunsch, du hast es geschaft das Thema Surrealismus mit beißender Gesellschaftskritik zu verbinden, was doppelt gut ist, denn nichts anderes sollte der Surrealismus ja sein.

 

Die Geschichte ist richtig gut. Hat mir sehr gefallen. Ich frage mich, wie es gewesen wäre, wenn Drh am 11. September gestorben wäre...

Mario

 

hey flicflac,
gute, surreale geschichte für mein empfinden. schon die atmosphäre, die situation, die du schilderst wirkt trotz ihrer "normalität" surreal. eine momentaufnahme der gesellschaft, eingefroren.
wie max weigl frage ich mich: inwiefern ist es wichtig, dass drh ein christ ist? hat es eine bedeutung oder soll es eine verstärkung des surrealen effektes sein? gut finde ich max´s auslegung von drh "die rettende hand".

gruß bigmica

 

Hallo FlicFlac,

Drh, ein Christ, wacht auf und findet, dass etwas nicht in Ordnung ist.

... fand ich gut, etwas ähnliches hätte ich mir als Rahmen zum Schluß gewünscht.

Ich fand die Geschichte echt gut. Die Idee und die Umsetzung, dass jemand den Zweck hat eine Person zu retten ... und für diesen Zweck die Welt stillsteht.

Mir persönlich hätte es noch besser gefallen, wenn die Welt gar nichts von Drh mitbekommen hätte, sondern nur er selbst in der Position ist, sich zu wundern, das die Welt stillsteht. Finde ich wirkungsvoller.

Ansonsten - Kompliment, auch wenn sprachliche Elemente fehlen, die den Surrealismus auszeichnen, der Inhalt macht hier vieles wett.

Gruß,
Bella

 

<fand ich gut, etwas ähnliches hätte ich mir als Rahmen zum Schluß gewünscht.>

Ich galube zu verstehen, was du meinst.


<auch wenn sprachliche Elemente fehlen, die den Surrealismus auszeichnen>

Welche fehlen dir am meisten?

Grüße, FlicFlac

 

Ich mag die Geschichte. Auch, wenn ich sie nicht dem Surrealismus, sondern eher der Fiction zuordnen würde - aber ich bin mir nicht sicher, ob man sowas überhaupt fein trennen kann.
So eine aehnliche Story hab ich schonmal in Outer-Limits gesehen. *Fan-sei* :o)

Gruesse
dko

 

"Sind Sie bereit? Bereit für das Unbekannte? Für eine neue Erfahrung, die..."

S.g. FlicFlac

Deine Geschichte hat mir ausgezeichnet gefallen. Die Idee allein ist grandios, und auch wenn diese ursprünglich von OuterLimits motiviert wurde, fand ich die Umsetzung gut.

Doch kann ich leider gar kein surreales Element sehen. Auch wenn viele hier meinen, sie sei surreal, so finde ich, dass sie eher in die Rubrik "Seltsames" bzw. "Gesellschaft" passen würde. Den Surrealismus vermisse ich hier eindeutig.
Bin aber lehrwillig und sollte einer, der obrigen Kritiker einen kurzen Augenblick Zeit haben, so kann er mir gerne erklären, was genau surreal ist.

Liebe Grüße aus Wien, P.H.

 

Hallo!

:waaas:
Nachdem jetzt zweimal von OuterLimits die Rede war, frage ich mich nach dem Grad der Ähnlichkeit. Kann mir jemand die Geschichte kurz abreissen?

Wenigstens bewusst kenne die Folge nicht - obwohl ichs damals gesehen habe (vielleicht habe ich also unbewusst plagiiert). Bin neugierig!

Flic

 

Hallo FlicFlac!

Sehr gut gefällt mir Deine Geschichte - die hat was! :thumbsup:
Einerseits scheint alles klar beschrieben und ergibt eine Handlung, andererseits läßt sie sich sehr gut surreal interpretieren.
Die Version mit dem Schutzengel sehe ich dabei als die realere. So, wie Marot sie interpretiert hat, ist es auch meine surreale Version, sie zu lesen. Und da läßt sich noch so manches andere auch herauslesen.

Ein paar Anmerkungen habe ich noch:

"Die Kälte wird zu Reif auf seinen Kleidern, dringt ein. Die Haut zieht sich zusammen, doch Drh friert." - Ich sehe hier keinen Widerspruch, der ein "doch" begründen würde - es klingt wie "Es ist kalt, doch Drh friert"...

"Er sieht auf seine Uhr: zehn nach sechs. Doch die Stadtuhr zeigt: Punkt sechs." - Auch hier würde ich das "Doch" weglassen. Der Widerspruch offenbart sich dem Leser auch so, aber vor allem kommt es wenige Zeilen danach noch einmal vor.

"6.00 Uhr" - bitte die Uhrzeiten ausschreiben, "sechs Uhr" oder auch "sechs Uhr zwanzig" usw. ist bestimmt nicht zu lang. ;)

"kein Wind geht" - weht wäre schöner...

Alles liebe
Susi :)

 

Hi FlicFlac,

da singe ich gern mit, bei den Lobeshymnen.
Im Verständnis der Geschichte schließe ich mich jedoch nicht vollständig den anderen an. Die beiläufig klingende Erwähnung des Christseins deines Protagonisten gibt in meinen Augen einen ganz wichtigen Ansatz zu einer ganz anderen Interpretation. Der Christ selbst erstarrt nicht in der allgemeinen Kälte zwischenmenschlicher Beziehungen. Niemand redet mit ihm, obwohl er hilfebedürftig ist; trotzdem hilft er, der Christ, der Selbstmörderin. Bezieht klar Stellung gegen Selbstmord. Das Sterben des Protagonisten deutet auf die aussichtslose(?) Perspektive warmer zwischenmenschlicher Beziehungen in der heutigen Zeit, ist gleichzietig negative Erkenntnis des Autors.
Vielleicht liege ich ja völlig daneben, aber nur so macht für mich der "Christ" einen Sinn.

Im Gegensatz zu Peter Hrubi (Freud läßt grüßen: "Bin aber lehrwillig..." statt lernwillig :D ) sehe ich die gesamt Geschichte als surreal, empfinde die skurrile Situation sehr traumähnlich.

Gut geschrieben!
Gruß vom querkopp

 
Zuletzt bearbeitet:

@Susi - Die Haut zieht sich zusammen, doch Drh friert. Dein Einwand ist mir verständlich und ich habe damals darüber nachgedacht (ob ich das ändere), dann aber: das Zusammenzeihen der Haut hat das Ziel, die Wärme gleichsam monadisch im Körper zu halten.

Deshalb ließ ich das. Ohne Selbst-Transzendenz, ohne das Darüber-hinaus bleibt die Kälte, jeder Versuch scheitert.

Die weiteren Einwände sind Fingerfehler meinerseits und ich werde sie verwenden, danke!

@querkopp

Danke für deine Kritik! Vor allem fiel mir auf, dass 'ein Christ' zu spezifisch war; ich habe 'ein gottgläubiger Mensch' daraus gemacht.

Flic

 

Neu gefasst :) nach 20 Jahren ...

Dann nehm ich das doch mal zum Anlass, dich und dein Schreiben kennenzulernen :)

Noel wacht morgens auf und findet, dass etwas nicht in Ordnung ist.

Ich bin zwiegespalten - einerseits mag ich die Einfachheit der Formulierung, so würde man das ja selbst denken, ganz unliterarisch, das passt auch zur Unumstößlichkeit der Sätze, die danach folgen. Andererseits wäre ein "und spürt, dass etwas nicht in Ordnung ist" sprachlich doch schöner. Außerdem gäbe es dann so einen schönen ü-Vierklang. Spürt und früh und ungemütlich und führt ... Aber ich kaufe das auch so.

Er geht zur Heizung. Die Heizung läuft auf Hochtouren, trotzdem ist es kalt.

Ich bin grundsätzlich Fan von Wiederholungen, deshalb bin ich auch hier wieder zwiegespalten, ob man die zweite Heizung nicht doch streichen könnte.

Draußen ist kein Nebel, und er fragt sich, ob es draußen warm ist. Er versucht, das Fenster zu öffnen, aber es lässt sich nicht öffnen.

Hier genauso - aber in der Fülle ist es wohl sehr bewusst so und ja, es hat wieder seine Unumstößlichkeits-Wirkung in der Form und deshalb lasse ich das jetzt auch bleiben mit der Fitzelchen-Kritik und lasse den Text einfach mal wirken.

Die Haut zieht sich zusammen, doch er friert noch mehr.

Nur einer noch - da sehe ich den Widerspruch nicht, der das "doch" rechtfertigt.

Ja, was soll man groß sagen außer: Gerne gelesen :) Rund und zackig und durch die Zackigkeit hört man zwangsläufig schnell auf, alles zu hinterfragen, den ganzen Fantasieüberschuss im Kopf des Autoren, und nimmt es einfach (mit Vergnügen) hin.

Danke für den späten Wachmacher und den kalten Start in den November.

Bas

 

Hallo @FlicFlac!

Coole Idee – schön dass du das nochmal ausgegraben hast!
Hätte ein paar Vorschläge zu Details:

Wenn er im Verkehr aufpasst, wird er wohl über achtzig Jahre alt.
Er geht zur Heizung. Die Heizung läuft auf Hochtouren, trotzdem ist es kalt.
Ohne das wohl (oder Ähnliches) liest es sich wie eine Tatsache.
Er geht zur Heizung, die auf Hochtouren läuft, trotzdem ist es kalt.

Draußen ist kein Nebel, und er fragt sich, ob es draußen warm ist. Er versucht, (kein Komma) das Fenster zu öffnen, aber es lässt sich nicht öffnen.
Er versucht das Fenster zu öffnen, aber es geht nicht.

Währenddessen wird es immer noch kälter.
Währenddessen wird es noch kälter. Oder: Währenddessen wird es immer kälter.

Dann geht er durch die offene Tür hinaus und wundert sich, denn es ist still. Und eisig.
Immer so ein Ding: Muss ja offen sein, sonst wird Rausgehen schwierig. Soll betont werden, dass sie offen steht, ohne dass er sie geöffnet hat, sollte das deutlicher werden.

So ist Noel allein mit dem Beton, gerade jetzt, wo er Hilfe braucht. Die Kälte wird zu Reif auf seinen Kleidern, dringt ein. Die Haut zieht sich zusammen, doch er friert noch mehr.
Warum Beton? Versteh ich nicht – da sind doch sicher etliche andere Materialien.
Kleinlich: die Poren der Haut ziehen sich zusammen ...:hmm:

Sein Atem klirrt.
Wie kann ich mir das vorstellen?

Seine Augen tränen, seine Füße sind kalt wie zwei große, gefrorene Steine.
Kann Stein gefrieren? Finde ich unglücklich. Vielleicht: zu Stein gefroren ...

Sie atmen nicht mehr, aber kalt sind sie nicht.
Die Fahrzeuge auf der Straße bewegen sich nicht. Sie wirken wie stehen gelassen. Innen sitzen aber Tote.
Sie atmen nicht mehr, aber kalt sind sie nicht.
Sie atmen nicht mehr, sind aber warm. (Ich, an seiner Stelle, würde mich sogleich drauf setzen, mich mit ihnen zudecken.)
stehengelassen zusammen, oder?
Innen sitzen aber Tote. Sehr unschöner Satz. Vielleicht: Aber darin sitzen Tote.

Er geht in den Park zurück. Kein Wind geht, die Bäume sind still.
Kein Wind in den Bäumen, alles ist still.

Die Kugel, noch im erstarrten Mündungsfeuer, hat sich knapp zwei Millimeter in die Haut gebohrt und ist stecken geblieben.
Wie kann er das sehen? Befindet sich das Projektil im Mündungsfeuer, ist außer dem Feuer nichts zu erkennen.

Noel geht durch die Kälte zur Frau, nimmt die Kugel, betrachtet sie kurz und lässt sie zu Boden fallen.
Die Kälte ist längst mehr als klar.
Hält sie sich die Pistole an die Schläfe, kann er das Projektil nicht einfach so nehmen ...

Er weiß nicht, wie spät es ist, und hat begonnen, zu erfrieren.
Seine Hände und Füße sind weg.
Auf einer Parkbank sitzt ein Spatz. Noel nimmt ihn.
Etwas eigenartig: Wie beginnt man zu erfrieren? Schon klar, wie du das meinst – finde es dennoch seltsam formuliert.
Und seine Hände sind weg beißt sich doch sehr mit er nimmt den Spatz.

Eine Frau hatte, in der Absicht, sich das Leben zu nehmen, eine kleinkalibrige Waffe auf ihre Schläfe abgefeuert. Die Kugel war aber von der Schläfe abgeprallt und auf den Boden gefallen.
Recht kompliziert: Eine Frau wollte sich erschießen. Die Kugel war aber von der Schläfe abgeprallt und auf den Boden gefallen.

Sehr viel Kleinkram und Detailversessenheit – aber so bin ich nunmal :rotfl:
Vielleicht leuchtet dir etwas davon ein.

Gruß,
Sammis

 

Hallo @FlicFlac

ein interessantes, etwas kafkaeskes Stück. Ich habe mich schon nach den ersten Zeilen gefragt, was wohl passiert ist.

Diese beunruhigende, apokalyptische Stimmung hast du gut eingefangen. Es gibt ja viele solche Szenen in Literatur, Film oder Videospiel. Diese Situation wenn ein Protagonist bemerkt, dass die bisher bekannte Welt nicht mehr vorhanden ist bzw. nicht mehr funktioniert.

Am Ende ist es dann die Auflösung mit dem Ableben. Das ist natürlich nicht neu, aber durch deine clevere Zeitspielerei bekommt es einen erfrischenden Dreh. Habe ich erst kürzlich in einem Comic wieder gelesen. Diesen Gedanken mit der eingefrorenen Zeit.

Ich habe nur einen Punkt anzumerken: Noel bleibt etwas blass. Aber für die Kürze der Geschichte ist es vielleicht auch nicht so wichtig, tiefer zu charakterisieren.

Noch zwei Kleinigkeiten:

Sein Atem klirrt
Ich weiß, was du sagen willst. Klingt für mich trotzdem seltsam. ,,Sein Atem gefriert in der Luft‘‘ vielleicht?

Kein Wind geht
Ich würde ,,weht‘‘ schreiben.

Danke für die Geschichte!

Liebe Grüße
Rainbow Runner

 

Noel wacht morgens auf und findet, dass etwas nicht in Ordnung ist. Es ist vier Uhr früh und es ist ungemütlich.
Lässt sich nicht „morgens“ dank der Uhrzeit einsparen -
und warum zwo Hauptsätze?,

@FlicFlac?

Er versucht, das Fenster zu öffnen, aber es lässt sich nicht öffnen.
Komma weg,
es zerschlägt das Prädikat das Fenster „zu öffnen versuchen“

Kein Auto fährt. Keine Menschen sind auf der Straße.
Warum der Wechsel von [K]ein- auf Mehrzahl für eine Null?

Da steht ein Polizist auf dem Weg, starr, als wäre er im Gehen erfroren, mit erhobenen Armen und einer Miene, die sagt: …
Komma weg!

Dito hier

Er weiß nicht, wie spät es ist, und hat begonnen, zu erfrieren.
(betr. Satzprädikat erfrieren beginnen)

Manchmal lohnen sich Ausgrabungen,
findet der

Friedel

Schönes Wochenende!

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo @Friedrichard, danke dir vielmals, mal wieder und einen schönen Sonntag!@Sammis
Hallo @Sammis und @Bas (ich kenne einige deiner Geschichten schon), auch euch sei gedankt.

Es ist vier Uhr früh und es ist ungemütlich.

Lässt sich nicht „morgens“ dank der Uhrzeit einsparen -
und warum zwo Hauptsätze?,
Natürlich lässt sich das einsparen. Aber dann ist der Rhythmus des Satzes weg. Ich habe das schon an vielen anderen Stellen gesagt, ich schreibe 'phonetisch'; ich höre die Sätze und den Klang, weil ich vom Theater komme, und später viele Lesungen machte. Ich schreibe auch keinen Informationstext, wo das Obige einfach miserabel wäre, wegen der Redundanz.

Nicht, um mich mit Goethe zu vergleichen, sondern um zu veranschaulichen, was ich mit 'Rhythmus' meine, dies:

Fluch sei dem Balsamsaft der Trauben!
Fluch jener höchsten Liebeshuld!
Fluch sei der Hoffnung! Fluch dem Glauben,
Und Fluch vor allen der Geduld!

Goethe (aus Faust)

Warum nicht so:

Fluch sei dem Balsamsaft der Trauben, jener höchsten Liebeshuld, der Hoffnung, dem Glauben und der Geduld!

Fertig. Und man hat sich die vierfache Wiederholung des Worts 'Fluch' gespart.
(Dass Goethe hier reimt, ist mir klar, es geht aber mir in Prosa eben dennoch um Metrum; Thomas Bernhard macht das ähnlich, ohne zu reimen).

Das 'es ist' bestimmt das Metrum.

Ähnlich ist es hier:

Draußen ist kein Nebel, und er fragt sich, ob es draußen warm ist. Er versucht, (kein Komma) das Fenster zu öffnen, aber es lässt sich nicht öffnen.
Er versucht das Fenster zu öffnen, aber es geht nicht.
Deine Lösung ist richtig, aber das Metrum ist dann weg. Die Betonungen liegen auf 'Fenster' und 'lässt':
Er versucht das Fenster zu öffnen, aber es lässt sich nicht öffnen.

Draußen ist kein Nebel, und er fragt sich, ob es draußen warm ist. Er versucht, das Fenster zu öffnen, aber es lässt sich nicht öffnen.
Hier genauso - aber in der Fülle ist es wohl sehr bewusst so und ja, es hat wieder seine Unumstößlichkeits-Wirkung in der Form und deshalb lasse ich das jetzt auch bleiben mit der Fitzelchen-Kritik und lasse den Text einfach mal wirken.
Nun, Fitzelchen-Kritik nenne ich das nicht, ich verstehe sie. Aber was du vermutest, stimmt: Ich schreibe diese Doppelungen rein, weil ich es so lesen würde, dass es 'klingt'.

Wenn er im Verkehr aufpasst, wird er wohl über achtzig Jahre alt.
Er geht zur Heizung. Die Heizung läuft auf Hochtouren, trotzdem ist es kalt.
Ohne das wohl (oder Ähnliches) liest es sich wie eine Tatsache.
Er geht zur Heizung, die auf Hochtouren läuft, trotzdem ist es kalt.
Ähnlich hier. Außerdem verzichte ich stark auf 'echte' Nebensätze. Das mit dem 'wohl' ist inhaltlich richtig, klingt aber nicht lapidar.

Währenddessen wird es immer noch kälter.
Währenddessen wird es noch kälter. Oder: Währenddessen wird es immer kälter.
Natürlich. Aber beim laut Lesen verlieren deine Lösungen die "Dramatikmöglichkeit" im Ausdruck (vor allem die Zweite):
Währenddessen wird es ... immer ... noch kälter.

So ist Noel allein mit dem Beton, gerade jetzt, wo er Hilfe braucht. Die Kälte wird zu Reif auf seinen Kleidern, dringt ein. Die Haut zieht sich zusammen, doch er friert noch mehr.
Warum Beton? Versteh ich nicht – da sind doch sicher etliche andere Materialien.
Kleinlich: die Poren der Haut ziehen sich zusammen
Hier kommt es auf die Härte des Worts Beton an. Auf das, was das Wort macht. Klar bestehen Häuser dann auch noch aus Plastik und anderem Zeugs, sagen wir mal 'pars pro toto'; und ja: die 'Poren der Haut' würden klangmäßig und metrisch ... aber das habe ich schon gesagt.


Noel geht durch die Kälte zur Frau, nimmt die Kugel, betrachtet sie kurz und lässt sie zu Boden fallen.
Die Kälte ist längst mehr als klar.
Ja, könnte man mit deinem Argument steichen. Ich hatte vorher 'flüssige Kälte'. Es geht hier nicht um Kälte, sondern dass er durch die Kälte hinübergeht.
Er weiß nicht, wie spät es ist, und hat begonnen, zu erfrieren.
Seine Hände und Füße sind weg.
Auf einer Parkbank sitzt ein Spatz. Noel nimmt ihn.
Etwas eigenartig: Wie beginnt man zu erfrieren? Schon klar, wie du das meinst – finde es dennoch seltsam formuliert.
Und seine Hände sind weg beißt sich doch sehr mit er nimmt den Spatz.
Alles subjektive Empfindungen. Sozusagen lyrisch. Es darf in diesem Text, es soll sogar seltsam formuliert sein, weil die gesamte Handlung seltsam ist. Der Inhalt korrespondiert mit dem Ausdruck. Das betrifft 'Ich beginne zu erfrieren'. Die verschwundenen Hände sind auch nicht 'in echt' verschwunden, er spürt sie vorhin nicht mehr.


Eine Frau hatte, in der Absicht, sich das Leben zu nehmen, eine kleinkalibrige Waffe auf ihre Schläfe abgefeuert.
Recht kompliziert: Eine Frau wollte sich erschießen.
Das ist der Art und Weise nachempfunden, wie Zeitungsartikel formuliert sind.

Seine Augen tränen, seine Füße sind kalt wie zwei große, gefrorene Steine.
Kann Stein gefrieren? Finde ich unglücklich. Vielleicht: zu Stein gefroren ...
Natürlich können Steine nicht gefrieren. Das ist eine subjektive Empfindung. So was wie: 'Mein Herz verwandelte sich in Stein' -- geht ja auch nicht wirklich.
Mir kommt es wieder auf den Effekt an, auf das, was die Vorstellung eines Eis-steins auslösen kann. Offensichtlich nicht dein Ding ;)


n
Sie atmen nicht mehr, aber kalt sind sie nicht.
Die Fahrzeuge auf der Straße bewegen sich nicht. Sie wirken wie stehen gelassen. Innen sitzen aber Tote.
Sie atmen nicht mehr, aber kalt sind sie nicht.
Sie atmen nicht mehr, sind aber warm. (Ich, an seiner Stelle, würde mich sogleich drauf setzen, mich mit ihnen zudecken.)
stehengelassen zusammen, oder?
Innen sitzen aber Tote. Sehr unschöner Satz. Vielleicht: Aber darin sitzen Tote.
Lege mal den Fokus auf den Unterschied der beiden unteren Sätze:
Sie atmen nicht mehr, aber kalt sind sie nicht und Sie atmen nicht mehr, sind aber warm.

indem du beide laut liest.

Es ist vielleicht auch nicht jedermann/fraus Geschmack, was ich mache. Muss es auch nicht. Keineswegs sage ich, deine Vorschläge wären schlecht oder falsch. Sie passen nur nicht zu dem, was mir vorschwebt.

Beim Satz mit den Toten kommt hinzu, dass die Betonung bei deiner Version leicht anders ist und somit nicht das transportiert, was gemeint ist. Die Reihenfolge der Worte/Silben in einem Satz sind da entscheidend. Bei mir ist es 'sitzen', bei dir 'darin', wo der Schwerpunkt liegt.


Er geht in den Park zurück. Kein Wind geht, die Bäume sind still.
Kein Wind in den Bäumen, alles ist still.
Da finde ich die Doppelung allerdings inzwischen selbst nicht mehr passend, habe ich geändert :)


Da steht ein Polizist auf dem Weg, starr, als wäre er im Gehen erfroren, mit erhobenen Armen und einer Miene, die sagt: …
Komma weg! Dito hier
Er weiß nicht, wie spät es ist, und hat begonnen, zu erfrieren.
(betr. Satzprädikat erfrieren beginnen)
Ja, danke dir, diese Kommasachen ...

Ja, was soll man groß sagen außer: Gerne gelesen
:)
Rund und zackig und durch die Zackigkeit hört man zwangsläufig schnell auf, alles zu hinterfragen, den ganzen Fantasieüberschuss im Kopf des Autoren, und nimmt es einfach (mit Vergnügen) hin. Danke für den späten Wachmacher und den kalten Start in den November.
Danke dir!

Coole Idee – schön dass du das nochmal ausgegraben hast!
Danke!

Kein Auto fährt. Keine Menschen sind auf der Straße.
Warum der Wechsel von [K]ein- auf Mehrzahl für eine Null?
Stimmt. Das ändere ich auf jeden Fall.

Manchmal lohnen sich Ausgrabungen,
findet der Friedel
Auch dir danke!

Gruß von Flac

 

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