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Kameras
Meine Füße schmerzten, weil ich schon den ganzen Tag unterwegs war. Der Sommer war ungewöhnlich heiß und ich schwitzte. Eine alte Bekannte stand auf ihren Zehenspitzen und schrie mir ins Ohr.
„Ich arbeite jetzt in einem Kaufhaus. Das Bier hier muss ich ja irgendwie bezahlen...“
Ich versuchte freundlich zu sein und nickte zustimmend. Ich stand zwei Meter entfernt mit dem Rücken zur Theke. Jemand trat mir in die Ferse, um zur Tanzfläche zu gelangen. Ich reagierte nicht und versuchte weiter, freundlich zu sein. Während meine Bekannte weiter schrie, durchsuchte ich die dampfende Menge nach bekannten Gesichtern.
„Das ist doch alles Mist, ich habe da echt keine Lust mehr zu. Irgend so ein Job und der ganze Kram. Verstehst du, was ich meine?“
„Ja“, sagte ich. Ich hatte nicht verstanden, wovon sie gesprochen hatte.
„Soll ich noch was zu trinken holen?“ fragte sie.
„Lass mal, ich mach das schon.“
Als ich mich umdrehte und Augenkontakt zur Thekenbedienung suchte, war meine Bekannte völlig im Lärm hinter mir verschwunden.
„Was bekommst du?“
„Zwei Pils, bitte.“
Wortlos knallte die Bedienung das Bier auf die Theke. Sie hieß Anne und ich kannte sie schon lange. Ich reichte ihr das Geld und gab ihr mit einem Abwinken zu verstehen, daß sie das Restgeld behalten könnte. Sie lächelte flüchtig und schmiss die restlichen Münzen in den Trinkgeldkarton.
"Viel los heute, oder?" fragte ich sie.
"Ja, tierisch viel los. Ich muss auch direkt in den Keller, das Fass wechseln."Sie trcknete sich die Hände mit einem Handtuch und verschwand im Raum hinter der Theke, von wo aus man in den Keller gelangte. Ich drehte mich wieder um, aber meine Bekannte war nicht mehr zu sehen.
„Was machst du denn hier, ich dachte, du bist krank?“
Neben mir lehnte Annes Bruder Sven an der Theke. Er nahm mir eines der Biergläser aus der Hand und trank es sofort halb leer. Dabei schaute er mich mit seinen kindlichen Augen an. Sein Blick wirkte immer etwas leer. Dann bemerkte ich die Schramme über seinem linken Auge. Er hatte sie sich eine Woche zuvor eingefangen, als er aus seiner Stammkneipe rausgeschmissen worden war. Er grinste. „Ich hol noch zwei.“
Er drehte sich zur Theke und schrie durch zwei wartende Gäste seine Bestellung hindurch. Ich hatte mich gerade wieder umgedreht und einem Mädchen zugelächelt, als meine Bekannte wieder neben mir auftauchte. Sie grinste und steckte sich eine Zigarette an. Ich wollte mich gerade zu ihr herunter beugen, um ihr etwas zu sagen, als zwischen unseren Köpfen ein Glas hindurch flog und am Kopf eines schwitzenden Jungen landete.
Der Junge fing sofort an zu bluten. Er sah komisch aus und blickte ungläubig und suchend in meine Richtung. Das Blut lief von seinem rechten Ohr an seinem Hals herunter. Ich drehte mich zur Theke um. Da stand Sven, er grinste genau so wie zuvor und zuckte mit den Schultern. Er trat einen Schritt nach vorne, beugte sich in meine Richtung und kicherte in mein Ohr. „Der Vollidiot hat mir vor fünf Minuten seine Flasche auf den Kopf gehauen. Ziemlich dumm von ihm, würde ich sagen!“
Er grinste wieder zufrieden, stellte sein Glas auf die Theke und ging langsam und stolz mit hängenden Armen in Richtung des Jungen. Ich wollte ihn festhalten, aber er wurde sofort weggezogen und ich konnte ihn in dem dichten Gedränge und dem künstlichen Nebel nur noch wie einen Schatten wahrnehmen. Vom Eingang aus drängten Türsteher zu der Schlägerei und packten sich Sven, einen seiner Freunde und den blutenden Jungen. Er konnte nicht älter als sechzehn sein.
Ich ging hinter die Theke, Anne war nicht mehr da. Ich grüßte den Gläsersammler, der mir entgegenkam, und verschwand in der Küche des Clubs. Zwei lange Neonröhren beleuchteten den Raum und ich musste mich an die Helligkeit gewöhnen. Ich ging an den Kühlschränken, den Herdplatten und der Arbeitsfläche vorbei und öffnete die Tür zur Garderobe. Als ich sie wieder schloss, wurde die Musik leise.
„Das gibt´s ja nicht, was machst du denn hier? Ich dachte du bist krank!“ Der Clubbesitzer lächelte mich an. Dann stand er auf und gab mir die Hand. „Hast du das gerade gesehen? Da hat einer so einem kleinen Kerl ein Glas an den Kopf geworfen. Der war nicht älter als sechzehn. Es wundert mich, dass wir den überhaupt rein gelassen haben.“
Er setzte sich wieder an den Tisch, auf dem ein paar Zeitungen verstreut lagen.
„Die sind so dämlich. Einfach nur dämlich. Seit Monaten hängen hier Kameras. Das muss man doch sehen, oder etwa nicht? Die kriegen alle Hausverbot. Alle!“
Ich setzte mich und er klopfte mir auf die Schulter. „Willst du was trinken? Wein? Oder trinkst du noch immer so viel hochprozentigen Mist aus England?“
„Ein Bier wäre gut.“
„Kriegst du, warte eben. Ich hol mir auch eins.“
Er öffnete die Tür, die Musik wurde wieder lauter. Als er die Tür schloss, war es wieder ruhig und ich sah mich um. Es mussten über fünfhundert Jacken und Mäntel in der Garderobe hängen, obwohl es Sommer war. Die Stangen, an denen die Kleiderbügel hingen, bogen sich durch. Neben mir standen in einem Regal drei Bildschirme, die verschiedene Ecken des Clubs zeigten. Die Bilder waren schwarzweiß aber scharf, und man konnte die Gesichter der Gäste gut erkennen. Auf dem untersten Brett des Regals standen Videorecorder, die das Geschehen wohl aufzeichnen sollten. Ich erkannte vor der Theke meine Bekannte. Sie rauchte.
Ich steckte mir eine Zigarette an und griff nach einer der Zeitungen. Ich schlug den Sportteil auf und las über die missglückte Rückkehr eines Boxers, der vor einer Woche in der sechsten Runde zu Boden gegangen war. Er hatte seit Jahren nicht geboxt und sich ein Jahr lang auf diesen einen Kampf vorbereitet. Die Tür ging auf und es wurde wieder laut. Der Clubbesitzer hielt zwei kleine Gläser Bier in der Hand und schloss die Tür mit einem Tritt nach hinten.
„Das habe ich auch schon gelesen. Dieser Idiot! Einfach nur dämlich. Der hat doch nicht im Ernst gedacht, er könnte gewinnen. Und dann wird er auch noch von der halben Nation dabei begafft. Echt dämlich. Prost!“
„Prost, danke für das Bier.“
Ich trank schnell mein Bier aus. Ich mochte den Besitzer, aber er war unerträglich, wenn man mit ihm alleine an einem Tisch saß. Er sah einem nicht in die Augen, blätterte während des Gesprächs in Zeitungen und Magazinen und wollte seinem Zuhörer alles erklären.
„Ich gehe wieder raus an die Theke, danke noch mal für das Bier.“
„Kein Ding, wir sehen uns. Mach die Tür zu.“
Er gab mir die Hand ohne aufzustehen und las weiter. Ich sah noch einmal kurz auf die schwarzweißen Bildschirme. Als ich die Tür öffnete, wurde es wieder laut. Ich ging den Weg zurück, den ich auf dem Hinweg genommen hatte und als ich die Theke erreichte, sah ich, dass die Thekenbedienung gewechselt hatte. Ich fragte den Gläsersammler danach.
„Anne ist schlecht geworden. Sie ist draußen.“
„Ich sehe mal nach ihr.“
„Warte, nimm was zu trinken mit. Die braucht bestimmt einen Schnaps. Willst du auch einen?“ Er lächelte.
„Gerne, aber was mit Kräutern oder etwas Ähnliches. Keinen Tequila, wenn es geht.“
Er gab mir zwei kleine Fläschchen Lakritzschnaps, zwinkerte mir zu und fing an, Gläser zu spülen. Es war sehr heiß und er schwitzte und Schweißtropfen fielen von seiner Stirn ins Spülbecken. Ich sah nochmals auf die Menge, die jetzt wieder bunt war. Die Bewegungen waren aber die gleichen wie auf den Bildschirmen. Es sah irgendwie lächerlich aus. Ich drehte mich um und ging zur Tür.
Als ich im Freien stand, bemerkte ich, dass es draußen genauso warm war wie im Club. Anne saß auf einer Bierbank unter einem großen roten Schirm. Sie rauchte und sah mich an ohne zu lächeln. Ich setzte mich und hielt ihr einen Lakritzschnaps hin.
„Hier trink, der hilft.“
„Ich glaube nicht, dass der hilft, aber danke.“
Sie biß auf den Schraubverschluss und drehte mit der Hand die Flasche auf. Dann spuckte sie den Deckel auf den Kies, auf dem die Bierbank stand und leerte das Fläschchen.
„Danke. Das war bitter nötig.“
„Was ist denn los? Wegen deinem Bruder?“
„Dieser Spinner. Immer fängt er diese Schlägereien an. Ich kam gerade aus dem Keller, weil ich das Fass wechseln musste. Dann steht dieser dumme Türsteher vor mir. Er sagte, sie hätten durch die Kameras gesehen, dass mein Bruder eine Prügelei angezettelt hätte. Ich glaube, die Polizei kommt gleich. Ich muss mit denen reden. Hausverbot wird Sven hier trotzdem kriegen...“
Anne kümmerte sich um ihren Bruder seit zwei Jahren. Sven wohnte bei ihr, seitdem ihre Eltern bei einem Autounfall ums Leben gekommen waren, als sie auf dem Rückweg von einer Geburtstagsfeier waren. Sie fuhren auf einer Bundesstraße gegen einen Baum. Zwei Monate später bekamen Anne und Sven einen Brief, der an ihren Vater gerichtet war. Darin wurde er aufgefordert, sich bei der Polizei zu melden. Er war am Tag des Unfalls auf der gleichen Straße geblitzt worden. Er fuhr mit dem doppelten Tempo der erlaubten Geschwindigkeit. Das war das letzte Foto, das Anne von ihrem Vater hatte, und sie hatte es mir einmal gezeigt. Die Augen des Vaters waren durch den Blitz weiß und seine Frau war geschwärzt. Das Foto war schwarzweiß, sehr scharf und man konnte die weichen Gesichtszüge von Annes Vater gut erkennen.
„Kann ich noch was für dich tun? Ich gehe nach Hause, “ sagte ich und blickte in den Nachthimmel, der zu bewölkt war, um Sterne zu erkennen.
„Nein, ist schon gut. Mir ist gar nicht schlecht. Das hat dir der Gläsersammler doch gesagt, oder?“
„Ja.“
Anne grinste mich an, nahm mir den zweiten Schnaps aus der Hand und biss auf den Verschluss. Sie kicherte und redete, während sie den Schnaps öffnete. „Die Gläsersammler in diesem Laden hier sind so dämlich. Ich würde sie gerne mal bei der Arbeit filmen und das Ganze dann zusammen schneiden. Vielleicht kann man ein Kunstwerk draus machen.“
Ich lächelte und klopfte ihr auf den Oberschenkel, während ich aufstand. Ich ging zu meinem Auto und fuhr nach Hause. Ich war sehr müde, außerdem wollte ich den Boxkampf nicht verpassen, der gezeigt wurde.