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Karamba, Karacho, ein Gin
Der Mucker ist so etwas wie das Paralleluniversum der guten Musik
(frei nach Heinz Strunk - "Fleisch ist mein Gemüse")
Es begann vollkommen harmlos und unspektakulär, wie es harmloser und unspektakulärer nicht beginnen konnte, mit einem Telefonanruf. Meine Oma Klara, uneingeschränkte Matriarchin unserer Familie, deren Tradition angeblich bis weit hinter die ersten Invasionen seitens der Russen zurückreichte, wollte ihren Geburtstag mit einem großen Festbankett feiern und ich wäre aufs Herzlichste eingeladen.
"Ja, Oma, das ist ja wahnsinnig lieb von dir, echt. Ich meine, du weißt, wie sehr ich diese großen Familienfeiern liebe mit viel Essen und freien Getränken bei netter Gesellschaft. Ich würde auch wahnsinnig gerne kommen und mit euch zusammen speisen, trinken und zu guter Musik ausgelassen feiern, aber an diesem Wochenende is ganz schlecht, denn da hab ich schon Windpocken und dann ist da ja noch diese Scheidung, zu der ich muß, wobei man in diesen unruhigen Zeiten sowieso nicht soviel feiern sollte und außerdem habe ich doch diese Allergie gegen den Schaumstoff, mit dem die bei der Bahn immer ihre Sitze polstern und eigentlich bin ich mir auch gar nicht so sicher, mit euch verwandt zu sein und überhaupt..."
Als ich den großen Festsaal betrat, der für die nächsten schätzungsweise acht Stunden und vier Millionen Jahre mein Zuhause sein sollte, war der Mucker schon da. Mit seinem roten Seidenhemd, das verheißungsvoll im Licht der beiden Richtscheinwerfer glänzte, den lustigen Koteletten und der coolen Sonnenbrille sah er ein wenig aus, wie eine Mischung aus Gunter Gabriel und dem King, als der noch dick war. Kein Zweifel, das hier war keiner dieser x-beliebigen Festmusiker, die den Abend mit einem lustigen Potpourrie aus guter Laune und dem Ententanz bestreiten - das hier war zweifelsohne der Meister der Heimorgel. Mister Bontempi persönlich.
Begleitet werden sollte sein musikalisches Treiben von der besten Gaby Baginski - Imitatorin, die für ein Butterbrot und drei Scheiben Mettwurst aufzutreiben war und der es folgerichtig auch an allem fehlte, was Gaby Baginski so auszeichnet. Gut, das muß natürlich nicht unbedingt etwas Schlechtes sein, war es in diesem speziellen Fall aber doch. Hätte ich zu Beginn der Feier schon geahnt, welchen Schwall guter Laune und ausgelassener Stimmung die beiden später noch verströmen würden, hätte ich den Sekt, den Oma Klara jedem von uns zur Begrüßung in die Hand drückte, vermutlich schon jetzt getrunken. So aber blieb ich nüchtern.
Vorerst.
Da ich die dumme Angewohnheit habe, immer und zu jedem noch so unbeliebten Ereignis pünktlich auf die Minute zu erscheinen, alle anderen Menschen auf dieser Welt diese Eigenschaft jedoch nicht teilen, war ich einer der ersten Gäste und hatte freie Platzwahl. Ich setzte mich an einen Tisch hinten in der Ecke - warum weiß ich selbst nicht mehr. Vermutlich war es der natürliche Selbsterhaltungstrieb, denn der Mucker konnte mich dort hinten nicht sehen.
Nach und nach füllte sich der Saal mit allerlei Typen, an denen wirklich rein gar nichts besonders war, sah man einmal von der Tatsache ab, daß sie alle irgendwie mit mir verwandt zu sein schienen oder es zumindest behaupteten. Da dieser Abend der erste war, an dem meine sorgsam ausgetüftelte Ausredensammlung keine Chance gegen die Überredungskunst meiner Oma gehabt hatte, war dies auch meine erste Familienfeier dieser Größe und die meisten Leute mir beruhigend unbekannt. Hände wurden geschüttelt, Namen samt Verwandschaftsverhältnissen ausgetauscht und sofort wieder vergessen und jedes Mal aufs Neue wieder herzhaft gelacht, wenn der Witz aufkam, man hätte sich doch ruhig Namensschilder basteln können.
Irgendwann beschloss dann der Mucker, es wäre an der Zeit, auf das Wohl meiner - unser aller - Oma anzustoßen. Nach dem dritten Sie lebe hoch mitsamt unnachahmlich improvisiertem Tusch aus der Bontempi-Orgel kam ich zum ersten Mal an diesem Abend in Kontakt mit Alkohol. Mein aufgesparter Begrüßungssekt war zwar inzwischen auf die erquickliche Zimmertemperatur aufgewärmt, hatte aber nichts an seiner prickelnden Fruchtigkeit verloren. Immerhin.
Dann gab es Salat. Angereichert mit allerlei Grünzeug und als Croutons getarntem Rollsplit vom letzten Winter schmeckten die Babytomaten gar nicht mal so übel. Der leckere Rotwein tat sein Übriges dazu, daß der erste Gang in erfreulicher Appetitlichkeit vonstatten ging. Am Nebentisch schnappte ich ein angeregte Gespräch über die Krampfadern meiner Großtante Frieda auf und ignorierte es.
Nach einer kurzen Pause, die musikalisch mit einer gewagten Interpretation des Radetzkymarsches, gefolgt von einer Improvisationspolka und einer Abart des Lambada untermalt wurde, ging es dann auch recht fix weiter mit dem zweiten Gang. Tütensuppe in die irgendjemand wieder diesen leckeren Rollsplitt gekippt hatte. Ob sich tatsächlich ein junger Aushilfskochazubi daran gemacht und die Croutons aus den übriggebliebenen Salatschalen herausgepuhlt hatte, konnte ich am Geschmack nicht erkennen und es war mir auch egal. Die Krampfadern meiner Großtante wurden trotz der vom Arzt verschriebenen Salben und kalten Umschläge anscheinend nicht besser und ein mir nicht näher bekannter Mann bestellte sein fünftes Bier. Ich glaube, er war der Gatte meiner Tante dritten Grade mütterlicherseits oder so. Sein Name war Herbert und er spuckte beim Reden. Also, noch nicht, aber später würde er es sicher tun.
Sieben Fässer Wein später, dargebracht von der begabten Gaby Baginski - Imitatorin auf Trompete, wurde dann der Hauptgang aufgetischt. Fleisch mit Kartoffeln und Gemüse. Sehr lecker alles in allem. Mein Rotwein war inzwischen zu einem weißen geworden und ich ließ mich in einem schwachen Moment dazu hinreißen, mit meiner gleichaltrigen Cousine eine verhängnisvolle Wette abzuschließen, deren Wetteinsatz darin bestand, im Bikini das Auto des anderen zu waschen. Währenddessen beschwerte Tante Frieda sich über das marode Gesundheitssystem und daß früher, als ihr Heinz, Gott habe ihn selig, seinen gefürchteten Spazierstock noch hatte schwingen können, es so etwas sicher nicht gegeben hätte.
Das Dessert bestand aus Eis mit Sahne und war nicht wirklich außergewöhnlich. Danach ging es dann über in den gemütlichen Teil des Abends.
Irgendjemand mußte dem Mucker gesagt haben, daß Familienfeiern nur dann richtig toll werden, wenn sie Nonstop von Stimmungsschlagern untermalt werden und ihm als Dreingabe den Lautstärkeregler seiner Heimorgel geklaut haben. Ein Prosit der Gemütlichkeit war der Auftakt zu einem nicht enden wollenden Medley aus allen möglichen Klassikern moderner deutscher Unterhaltungskultur, die man am liebsten vergessen und irgendwo im Keller verbuddelt hätte.
Ich genehmigte mir noch ein Glas Wein - die Farbe habe ich inzwischen vergessen - und machte mich daran, längst verschollen geglaubte Zweige des Familienstammbaums abzustauben. Herbert, der bereits erwähnte Cousin meiner Tante dritten Grades, saß an seinem siebten Pils und philosophierte über den Sinngehalt dieses Abends und ob es nicht viel besser wäre, so etwas demnächst auf dem Sportplatz abzuhalten. Man könne ja eine Art Familienolympiade veranstalten und ich das Ganze organisieren, weil ich als toller Kerl das sicher am Besten könnte.
Ungeachtet der Tatsache, daß ich diesen Mann noch nie in meinem Leben zuvor gesehen hatte, hatte er es erstaunlich schnell geschafft, sich meine Sympathie zu erarbeiten. Auf einer Papierserviette entwarfen wir die Rahmenbedingungen der geplanten Veranstaltung. Zehn Disziplinen sollten es sein und wir einigten uns schnell auf Skat, Billard (natürlich Neunerball), Dart, Eier abschrecken, Huckepack, Kegeln (nach original Hamburger Straßenregeln), Wattwandern, Domino um die Wette, Pullover aufribbeln und Flaschendrehen.
Karamba, Karacho, ein Gin sang der Mucker und die Tanzfläche leerte sich. Nicht, daß sie vorher gefüllt gewesen wäre, aber in diesem Moment erreichte die Stimmung einen negativen Hochpunkt der frustrierenden Art. Schnell improvisierte der Künstler mit drei meiner Cousinen, vielleicht waren es auch die Kinder des Schwippschwagers von meiner Tante ihrem Sohn, eine besondere Tanzdarbietung des Ketchup Songs - warum auch immer. Animiert von dem hektischen Treiben auf der Tanzfläche verließen mein neuer bester Freund Herbert und ich unsere Plätze, verschoben unsere Pläne auf später und gesellten uns zu der lustigen Runde. Rhythmisches Händeklatschen begleitete die drei Mädels, die diesem längst vergessenen Lied tatsächlich für einen Moment lang neues Leben einhauchten. Einen kurzen Moment.
Dann rezitierte eine entfernte Bekannte meiner Oma ein kurzes, aber nicht minder ergreifendes Gedicht, bei dem es inhaltlich um Engel und Fachchirurgen ging, und der Mucker übernahm wieder das Kommando. Passend zum Thema gab es eine interessante Variation von Westerland, die schließlich den endgültigen musikalischen Tiefpunkt des Abends darstellte. Eigentlich mag ich dieses Lied. Nein, ich mochte es. Bis ich es an diesem Abend das erste Mal auf Trompete gehört habe.
Den Rest des Abend verbrachte ich damit, mit kleinen Zuckerpäckchen zu dealen, die Kellnerin anzubaggern (beides ohne Erfolg), mich zu erinnern, wie genau ich eigentlich mit diesem Herbert verwandt war, die Krampfadergespräche meiner Tante Frieda mit einer lustigen Anekdote über meinen letzten Helgolandurlaub zu versüßen und dabei den Tanzaufforderungen übermütiger Tanten auszuweichen.
Dann trank ich noch ein Bier und ging nach Hause. Wenn man, und das ist bei einer solchen Feier überlebenswichtig, die Ansprüche auf ein Minimum absenkt, war der Abend gar nicht mal so übel verlaufen - immerhin lebte ich noch.
Blöd nur, daß ich die Wette verloren habe. Hoffentlich passe ich noch in den alten Bikini...