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Karma
Karma
Endlich hatte sie einen Platz gefunden. Über eine Stunde hatte sie sich durch die grölenden Menschenmassen gedrängt, bis sie endlich den Garten erreicht hatte. Sie fiel nicht auf in ihrem alten Parka. Niemand fiel hier auf, weil alle betrunken waren. Jetzt saß sie endlich am Tisch und packte ihren Rucksack aus, den sie sich auf einer ihrer vielen Sinnreisen nach Indien aus Hanf selbst gestickt hatte. Sie legte einen kleinen Malblock und ihr Federmäppchen auf den Tisch. Das Mäppchen bestand aus zwei zu einem Rohr zusammengeklebten, gebrauchten Klorollen. Die Enden hatte sie mit Plastikdeckeln versehen, die sie im Gemeinschaftsmüll gefunden hatte. Langsam kam sie in Stimmung. Sie malte einen Baum, wie sie es immer tat. Auch diesmal hatte der Baum nur noch ein Blatt, das einsam an einem der oberen Äste hing. Traurig ließ sie es auch diesmal alleine.
Aus den Lautsprechern hörte man das Gegröle aus dem Zelt und an ihrem Tisch wurde gerade eine neue Runde bestellt. Irgendjemand wollte für sie mitbestellen, doch sie schüttelte nur den Kopf. Dann schraubte sie den Verschluss von ihrer hellgrünen Thermoskanne ab, schloss für einen Moment die Augen und inhalierte den Inhalt, der sie an die grenzenlose Freiheit erinnerte, die sie sonst nur von der Gummimatte im Yogakurs oder aus Peters Wohnung kannte. Peter war der klassische Aussteiger. Mit 19 war er zusammen mit ihr, Birgit, auf einer Demo gewesen, auf der sie Leute vom Karma hatten reden hören. Sie erkundigten sich nach Karma und buchten schnell einen Flug nach Indien. Zwei Wochen liefen sie am Strand entlang, kauften überteuerten Schmuck und lauschten nachts dem Surren des Ventilators. Sie redeten nicht viel während der ganzen Zeit, doch als sie sich nach der Ankunft in München ein Taxi nach hause nahmen, kamen sie wieder ins Gespräch.
-Hast du`s eigentlich gesehen?
-Was, Peter?
-Das Ding, das...
-Karma?
-Genau.
-Ich hatte manchmal so ein Gefühl, wenn wir nachts im Bett lagen, und...
-...der Ventilator?
-Ja, ich glaub da war was?
-Ja, dieses Geräusch, das hat sich ständig verändert und das Ganze hat irgendwie,
naja...
-...Schwingungen erzeugt?
-Genau!
-Jetzt weiß ich auch, was die damals auf der Demo gemeint haben mit positiver
Energie.
-Ja. Das war unser Augenblick. Das war der Moment, dieser eine Moment von dem
alle immer sprachen. Schau uns doch jetzt an. Wir sind doch irgendwie...
-...beschwingt?
-Genau.
Peter kaufte ein paar Tage später zentnerweise Sand, trug alles den vierten Stock hoch und verteilte es in seiner Wohnung. An der Wand hängte er ein idyllisches Bild von einer Südseebucht, das er bei einer Tombola auf einer wohltätigen Veranstaltung der Stiftung für alle gewonnen hatte. So hatte er auch kein schlechtes Gewissen. Das Poster war nämlich nicht aus Recyclingpapier. Und natürlich kaufte er sich auch einen klapprigen Ventilator beim Flohmarkt, um die nötigen Schwingungen zu erzeugen. Wenn Birgit ihn besuchen kam, lagen sie oft stundenlang da, lauschten dem gähnenden Drehen des Ventilators und waren total entspannt. Wenn Birgit sich abgelenkt fühlte, Anstalten machte aufzustehen, oder einfach keine Lust mehr hatte, sagte Peter einfach mit einer tranceähnlichen Stimme:
K a r m a. B i r g i t ! K a r m a ! ! !
Jetzt öffnete sie die Augen wieder und schüttete sich von ihrem dampfenden Gemisch in die Tasse. Seit einer Woche holte sie jeden morgen ein kleines Einmachglas vor Peters Haustür ab und stellte ihm ihres hin. Manchmal gab sie etwas Zucker dazu, aber es kam bei der Sache ja eigentlich nicht auf den Geschmack an, wie Peter ihr erklärt hatte. Wichtig war dass sie eine spirituelle Verbindung hatten, auch wenn sie sich nicht im selben Raum befanden, erklärte er ihr.
Sie setzte den Becher ab und plötzlich kam ihr ein schlimmer Gedanke. Langsam hob sie ihre Hand nach oben und berührte ihre Stirn. Nichts. Sie wurde hektisch, nahm die andere Hand dazu und grapschte sich wild im Gesicht herum. Ihr Punkt. Sie hatte ihren Energiepunkt heute Morgen im Bad vergessen, als sie das Einmachglas zugeschraubt hatte. Ihr wurde ein wenig übel und sie drohte zur Seite zu kippen. Dann atmete sie plötzlich auf. Der Punkt war wahrscheinlich ins Glas gefallen und jetzt bei, nein, in Peter, der sich wahrscheinlich schon wunderte, dass er ihre Anwesenheit heute so stark spürte. Sie kicherte. Dann sah sie sich um. Es musste trotzdem Ersatz gefunden werden. Sie brauchte den Energiepunkt, denn heute hatte sie sich vorgenommen, neue Leute kennen zu lernen und ihnen bei einer Tasse Selbstgemachten vom Karma zu erzählen. Vielleicht traf sie sogar ein Pärchen, das Lust hatte, sich mal mit an Peters Strand dazuzulegen. Doch ohne den Punkt würde es nicht funktionieren. Es wäre einfach nicht dasselbe. Da! Ein Junge war gerade an ihrem Tisch vorbeigelaufen und hatte seinen Kaugummi auf den Boden gespuckt. Sein Gesicht war blutüberströmt und er lief Richtung Toiletten. Birgit machte sich ganz klein und krabbelte unter den Tisch. Am Boden lag nichts. Dann schaute sie auf die Schuhe der Männer und, Hier! An einer behaarten Wade hing er, der Punkt. Ganz rot durchtränkt war er, ein bisschen größer natürlich, aber das war egal. Hauptsache, der Energiepunkt war da und sie konnte ihn tragen. Vorsichtig griff sie mit den Fingern um den Kaugummi, dann zog sie fest an. Der Punkt, sie hatte ihn. Der Bayer schrie vor Schmerzen und trat seinem Gegenüber mit einem heftigen Tritt gegen dessen Schienbein. Als Birgit unter dem Tisch hervorgekrochen kam, schaute der Mann sie mit schmerzverzerrtem Gesicht an. Als er den Punkt sah, erstarrte sein Blick. Vom Kaugummi lief Blut in Birgits Gesicht herunter. Der Mann atmete schwer und schluckte. Sie beschloss einen Anfang zu machen. Karma, flüsterte sie ihm ins Ohr. K a r m a !!! War er der Auserwählte, den sie zu Peter an den Strand mitbringen würde? Birgit schob ihm den Becher zu.
Hier, probieren sie!
Der Bayer fing sich wieder. Er nahm den Becher, betrachtete kurz den Inhalt. Als er darin keinen wesentlichen Unterschied zu dem kleinen gelblichen Rest in seinem Bierkrug feststellen konnte, sprach er ein Prosit aus und leerte den Becher. Birgit war überglücklich. Sanft strich sie über den Energiepunkt, griff in ihren Rucksack und vergrub ihre Hand im Sand, den sie darin hatte. Im nächsten Moment drehte sich der Bayer zu ihr. Die Augen weit geöffnet spuckte er ihr alles ins Gesicht.
Der Punkt, denkt Birgit. Ich darf den Punkt nicht verlieren.
Am Abend liegt sie an Peters Playa.
-Du, Peter?
-Ja. Birgit.
-Das hat heute alles nicht so geklappt mit dem...
-...Karma?
-Genau.
-Was ist denn passiert?
-Es lief eigentlich ganz gut. Anfangs musste ich ein bisschen improvisieren, aber dann hatte ich eigentlich schon den Richtigen. Aber ich glaub es lag an der...
-...Pisse?
-Genau.
