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Karnivoren
Was die Sümpfe an Insekten auszubrüten vermochten, kreiste und flatterte um die Lichtfalle über Lorraines Kopf. Sie hatte es aufgegeben, schlafen zu wollen. Stattdessen lehnte sie sich auf das Balkongeländer und sog den Rauch der Zigarette zwischen ihren Fingern ein.
Die Nacht war schwül und windstill. Ein voller Mond hing über den Gewässern, die sich in der Dunkelheit wie ein Abgrund hinter dem Grundstück auftaten. Von irgendwoher vernahm Lorraine das weit entfernte Aufheulen eines Bootsmotors. Die ersten Fischer rückten aus. Nicht mehr lange bis Sonnenaufgang.
Aus dem Schlafzimmer hinter ihr drang ein kurzes Geräusch. Danach vernahm sie wieder das gewohnte, kehlige Schnarchen. Lorraine nahm den letzten Zug ihrer Zigarette und drückte sie auf der Steinplatte aus. Sie ließ den Träger ihres Nachthemdes über die Schulter rutschen und häutete sich aus dem seidenen Kleidungsstück, das geräuschlos zu Boden glitt. Sie hätte es ohnehin demnächst ausziehen müssen.
Lorraine schob die Vorhänge zur Seite und ging zurück ins Schlafzimmer. Unmittelbar neben der Lichtfalle hatte eine Spinne ihr riesiges Netz gesponnen. Kluges, geduldiges Tier.
Umgeben von hohem Schilf, beobachtete Russel Pearce zur selben Zeit, wie mehrere Männer eine Abdeckplane über die Ladefläche seines Pick-ups zogen. Neben dem Wagen stand ein Vorarbeiter und leuchtete ihnen mit einem Handscheinwerfer. Während sie die Verankerungen schlossen und sich die Plane anspannte, erteilte er Befehle in einer Sprache, die Pearce nicht verstand.
Die Arbeiter ließen von dem Wagen ab, rieben sich die Hände und klopften sich den Staub von den Klamotten. Im Halbdunkel bildeten sie eine kleine Gruppe und ließen zur Belohnung für die schwere Arbeit eine Packung Tabak von Hand zu Hand wandern.
Pearce trat ins Scheinwerferlicht seines Wagens und zog ein Bündel Geldscheine aus der Tasche. Der Vorarbeiter kam auf ihn zu.
„Geschafft, Mr. Pearce“, sagte er und entledigte sich seiner Arbeitshandschuhe. „Die Betäubung lässt nach Sonnenaufgang nach.“
Pearce warf einen Blick zum Wagen, streckte dem Mann dann das Geldbündel entgegen. Dieser nahm seinen Strohhut ab und griff danach. Doch Pearce ließ nicht gleich los.
„Männlich?“, fragte er. „Es bestehen keine Zweifel?“
„Nein. Keine Zweifel, Mr. Pearce. Ein Männchen.“
Pearce nickte und übergab sein letztes Bargeld in die von Hornhaut und harter Arbeit gezeichneten Hände. Der Vorarbeiter drückte das Geldbündel mit seinen Fingern zusammen. Die Dicke war ihm Prüfung genug. Er setzte sich seinen Hut wieder auf, zog ihn sich zur Verabschiedung tief ins Gesicht und drehte sich um.
Mit einem Pfiff rief er seine Männer zu sich und ging davon. Ohne dass sie sich noch einmal in Pearce Richtung umsahen, folgten sie dem Mann über einen Trampelpfad durch das hohe Sumpfgras und waren schon bald außer Sichtweite.
Pearce wartete einen Moment, ehe er zu seinem Wagen ging. Er öffnete die oberen Knöpfe seines Hemdes. Der Stoff klebte ihm auf der Haut.
Der Tag war bereits angebrochen, als Pearce den Pick-up über den Asphalt steuerte. Mit der Sonne kam auch die Hitze, die sich von nun an unaufhaltsam ausbreiten würde.
Die Straße, die vom Festland in Richtung der Inseln führte, war gänzlich von Wasser umgeben, in dem sich der noch orangefarbene Morgenhimmel spiegelte. Die ersten Fischerboote kehrten bereits von den frühen Fängen zurück.
Pearce klappte die Sonnenbrille herunter, ließ sich in den Sitz sinken und lauschte dem Fahrtwind, der über den Wagen hinwegfegte. Ein Straßenschild verriet ihm, dass er die Hälfte seines Weges bereits zurückgelegt hatte. Er bog den Rückspiegel zurecht und verschaffte sich einen guten Blick auf die Ladefläche. Der Wind zog an der Abdeckplane und rüttelte an den Verankerungen. Deutlich spürte Pearce das Gewicht seiner Fracht. Er sah wieder nach vorne, ließ den Kopf zurückfallen und drückte das Gaspedal durch.
„Oooooouuuhhjjaaaahhhhh!“
Noch immer stoßend, entlud sich Quinton Harris nach zweistündiger Verausgabung in seine Frau Lorraine, die sich daraufhin mit einem langgezogenen Seufzer bei ihm bedankte.
Harris entspannte sich und ließ seinen massigen Körper noch einige Minuten auf Lorraine ruhen, damit sie auch bis zum letzten Tropfen in den Genuss seines Erbgutes kam.
„Oh, Kleines“, stöhnte Harris, und rollte sich von ihr herunter. „Sag mal, warst du mir vielleicht irgendwas schuldig?“
„Nicht mehr als sonst.“
Harris lachte auf.
„Von wegen. Du hast mich ausgesaugt.“
Lorraine richtete sich auf und strich sich das gelockte, rote Haar hinter die Schultern. Sie griff nach ihrem Handy, tippte ein paar schnelle Zeilen und legte es ebenso zügig wieder zurück.
„Schätze, wir können es einfach immer noch“, sagte sie.
„Wie am ersten Tag, Kleines“, sagte er und zwickte ihren Oberschenkel. „Wie am ersten Tag.“
Harris hievte sich aus dem Bett und strich sich das schüttere Haar quer über die Halbglatze. Der Schweiß stand ihm auf der Stirn.
„Gottverdammte Glut“, knurrte er.
Lorraine erhob sich ebenfalls und zog die Vorhänge auf. Sie lehnte sich gegen den Türrahmen des Balkons und blickte in die Ferne. Die Sonne stand bereits hoch und lähmte das Land. In einer Fata Morgana, weit draußen über den Gewässern, schmolz die Silhouette einer Yacht dahin.
Harris betrat den Kleiderschrank und griff gezielt nach seiner Badehose. Das Schwimmengehen nach dem Sex hatte er über die Jahre zu einer Art Ritual herangezüchtet. Ein persönlicher Trieb, dem er noch mit zwei gebrochenen Armen und Beinen nachgehen würde. Zu sehr genoss er es, wenn die noch immer kribbelnden Lenden in das kalte Wasser eintauchten.
Sekunden jedoch, nachdem Harris sich Schenkel um Schenkel in die Badehose gezwängt hatte, hörte er von unten die Türklingel. Er sah auf seine Armbanduhr.
„Viel zu früh“, knurrte er und verließ die Garderobe. „Lorry, ich brauche die Verträge und die Papiere von den Grundstücken an den unteren Keys. Den ganzen verdammten Kram!“
„In der oberen Schublade“, antwortete sie und beobachtete, wie Harris durchs Zimmer in Richtung Schreibtisch stampfte. „Du hast sie bereits unterschrieben.“
„Sehr schön“, gluckste Harris, öffnete die Schreibtischschublade und zog eine schwarze Ledermappe heraus. Ein triumphierendes Grinsen breitete sich in seinem Gesicht aus.
„Wer ist das?“, fragte Lorraine.
„Das ist Russel Pearce“, sagte er und schlug die Mappe auf. „Gekommen, um es auf die harte Tour zu lernen.“
Harris überflog die Dokumente, blätterte sich durch einen Haufen Kleingeschriebenes, von dem einem schwindelig wurde, wenn man es nicht verstand.
„Ist das auch wirklich alles?“, fragte er.
Lorraine hob die Augenbrauen.
„Wann habe ich dich das letzte Mal enttäuscht?“
Harris zog die Mundwinkel hoch und zwinkerte ihr zu. Er begann mit der Suche nach einem Stift, befreite die Schreibtischoberfläche von Vertragspapieren, schob das Börsenblatt und anderen Kram umher.
„Verflucht!“, schnaubte er.
Doch da war Lorraine bereits neben ihm aufgetaucht und hielt ihm einen silbernen Kugelschreiber mit seinen Initialen vor die Nase – Q.H. Grinsend nahm er ihn entgegen.
„Kleines! Was würde ich nur ohne dich tun?“
„Ausbluten“, antwortete Lorraine und verschränkte die Arme.
Harris lachte, gab ihr einen Klaps auf den nackten Hintern und schnappte sich seinen Morgenmantel.
„Zieh dir was an oder halt dich von den Fenstern fern!“, sagte er, während er zur Treppe eilte. „Und stell für später etwas Passendes zu trinken kalt. Heute wird gefeiert.“
Die letzten Worte rufend, verschwand Harris im Erdgeschoss. Lorraine wartete, bis er außer Hörweite war. Dann drehte sie sich um, verschwand im Badezimmer und schloss die Tür hinter sich ab.
Pearce wollte gerade zum zweiten Mal klingeln, als die Haustür aufgerissen wurde. In offenem Morgenmantel und Badehose füllte Harris den Türrahmen aus und schmiss Pearce zur Begrüßung ein Zähne freilegendes Lächeln zu.
„Guten Morgen“, sagte Pearce.
„Hereinspaziert!“, rief Harris und gab den Weg frei.
Pearce trat ein. In der Auffahrt hinter ihm parkte der Pick-up. Auf der leeren Ladefläche lag, fein säuberlich zusammengefaltet, die Abdeckplane. Harris warf einen flüchtigen Blick auf das rostige Gefährt und warf dann die Tür zu.
Pearce betrat die gänzlich im Kolonialstil errichtete Villa und entledigte sich seiner Sonnenbrille. In seiner Hand hielt er einen billig wirkenden Aktenkoffer. Er sah sich um. Vom Eingangsbereich aus öffnete sich das Haus zu allen Seiten. Die Decken waren hoch, die Räume weit und die antiken Möbelstücke schienen allesamt allein ihres Wertes wegen ausgesucht worden zu sein.
„Was ist passiert?“, fragte Harris und deutete auf einen Kratzer an Pearce rechtem Unterarm.
Die frische Verletzung zog sich vom Handgelenk beinahe bis hoch zum Ellbogen.
„Nichts weiter“, sagte Pearce. „Eine kleine Unachtsamkeit von mir. Das ist alles.“
Harris schnalzte mit der Zunge, näherte sich einem kleinen Tisch und öffnete eine darauf ruhende Zigarrenkiste. Er gewährte seinem Gast einen Blick auf den Inhalt.
„Danke“, sagte Pearce und hob abwehrend die Hand. „Aber die Dinger sind lebensgefährlich.“
„Richtig“, sagte Harris, während er sich selbst eine der Zigarren zwischen die Zähne schob. „Das sind sie.“
Er schloss die Kiste wieder, klemmte sich die Mappe mit den Verträgen unter den Arm und forderte Pearce mit einer Kopfbewegung auf, ihm zu folgen. Pearce nahm seinen Aktenkoffer wieder an sich und ging Harris hinterher.
Sie durchquerten das Wohnzimmer, das Herzstück des Hauses, welches ohne Probleme Platz für eine Herde Rinder geboten hätte. Die Südseite des Raumes bestand zum größten Teil aus Fenstern, die einen weiten Blick über die Sümpfe bis hin zum offenen Meer boten. Neben etlichen Kunstgegenständen fand sich hier auch eine mehrere Regale verschlingende Whiskysammlung, deren Vielfalt eine jahrzehntelange, globale Plünderung zugrunde liegen musste.
Ein anderer Bereich dagegen war dem Tod gewidmet. Jagdtrophäen aller Art schmückten die Wände. Dazu mehrere Fotos, von denen eines, welches Harris beim Posieren mit einem Elefantentöter in irgendeiner gottverlassenen Savanne zeigte, besonders hervorstach.
Harris führte aus dem Haus hinaus ins Freie, auf eine sandsteinfarbene Terrasse. Vor ihnen erstreckte sich ein perfekt getrimmter Rasen, der sich um das Anwesen zog. Ein schmaler Pfad aus Steinplatten wand sich von der Terrasse hinunter zu einem von hellem Holz umrandeten Pool mit dunklem, beinahe schon schwarz wirkendem Wasser. Dahinter erhob sich das Schilf, welches das Grundstück von den Sumpfufern trennte.
„Nicht schlecht“, stellte Pearce fest.
„Das will ich meinen“, antwortete Harris. „Und es klebt nur ganz wenig Blut daran.“
Harris nahm die Zigarre aus dem Mund und begann zu grinsen. Er war einer dieser Menschen, denen ein Lächeln unweigerlich etwas Teuflisches ins Gesicht schnitzte.
„Du kommst früh“, sagte er. „Ich wollte mich eben abkühlen gehen.“
„Es gibt Dinge, die will ein Mann einfach nur hinter sich bringen. Aber bitte, keine Umstände meinetwegen.“
Harris zwinkerte ihm zu und machte sich in Richtung Pool davon.
„Hier entlang.“
Pearce schob sich die Sonnenbrille zurück ins Gesicht und folgte ihm.
Eine große Wolke wanderte über das Anwesen, als sie den Beckenrand erreichten. Unter einem breiten Sonnensegel war in unmittelbarer Nähe eine kleine Bar errichtet worden.
„Whisky?“, fragte Harris und legte die Mappe zur Seite.
„Gerne.“
Harris griff hinter die Bar und holte zwei Gläser und eine Flasche Whisky hervor. Während er einschenkte, warf Pearce einen flüchtigen Blick zurück zum Haus. Die Vorhänge im oberen Stockwerk waren zugezogen. Ein gnädiger Wind kam auf, brachte das umliegende Schilf zum Rascheln und kühlte den Schweiß auf der Haut einen Augenblick lang ab.
„Auf die Geschäfte!“, sagte Harris und hielt eines der großzügig gefüllten Gläser in Pearce Richtung.
Erst jetzt stellte Pearce seinen Aktenkoffer ab und nahm das Getränk entgegen.
„Danke.“
Die beiden Männer hoben die Gläser, prosteten sich zu und tranken. Harris stürzte den Whisky mit nur einem großen Schluck hinunter, seufzte aber wie nach einem Glas kalten Wassers.
Pearce näherte sich derweil dem Pool. Während er hineinsah, köpfte Harris seine Zigarre, zog ein Feuerzeug aus seinem Morgenmantel und entzündete sie.
„Irgendwie unheimlich“, urteilte Pearce mit Blick auf die Wasseroberfläche.
Nicht bis auf den Grund sehen zu können, verlieh dem künstlich angelegten Becken etwas zutiefst Unnatürliches.
„Schwarzer Stein. Ganz neu angelegt“, sagte Harris, während er an seiner Zigarre paffte. „War die Idee meiner Frau. Sie hat ein Auge für solche Dinge.“
„Eindeutig“, erwiderte Pearce und nippte an seinem Glas.
„Na dann“, sagte Harris und klatschte in die Hände. „Bringen wir es zu Ende.“
Er griff nach der Mappe und drückte sie Pearce in die Hand.
„Ich hoffe, du nimmst das alles nicht zu persönlich“, sagte er.
Pearce nahm die Mappe entgegen, stellte seinen Whisky auf der Bar ab und öffnete den ledernen Umschlag. Er schlug die Verträge bis zur letzten Seite um und blickte auf die letzten Absätze über den Feldern für die Unterschriften, die alles besiegeln sollten.
„So, wie es aussieht, besitze ich auch gleich nichts mehr, was ich persönlich nehmen könnte“, sagte Pearce.
„Du weißt, wie das Geschäft läuft“, antwortete Harris und balancierte die Zigarre zwischen seinen Zähnen. „Zumindest hast du das immer behauptet.“
„Bevor ich damals in die Gegend kam, glaubte ich es zu wissen, ja“, entgegnete Pearce knapp.
Harris aschte ab und fuhr sich mit dem Handrücken über die glitzernde Stirn. Seine Augen wurden schmaler, als er sich aus dem Bademantel schälte und ihn mit einem gekonnten Wurf auf den Bartresen beförderte.
„Man nennt so was natürliche Rivalität unter Artgenossen“, sagte Harris und ließ die Finger knacken.
„Ich würde das hier ja eher Betrug nennen“, antwortete Pearce und hob die Mappe hoch.
„Wieder falsch“, schoss Harris zurück und warf Pearce den Kugelschreiber zu. „Es nennt sich Taktik.“
Lorraine ließ den Verschluss ihres zweiten Ohrrings zuschnappen und betrachtete sich im Spiegel. Mit dem Ergebnis durchaus zufrieden, zupfte sie ihre Bluse zurecht und vermied einen zu großzügigen Ausschnitt. Ein kurzer Windstoß blähte die Vorhänge auf und für einen Moment vernahm sie von draußen die Stimmen der beiden Männer.
Sie näherte sich ihrer Kommode unweit des Bettes und öffnete sie. Mit einer Handbewegung strich sie ihre darin befindliche Unterwäsche und die Dessous zur Seite und brachte eine schwarze Ledermappe zum Vorschein. Sie nahm sie heraus, ging damit zu Harris Schreibtisch und legte sie dort in die oberste Schublade.
Lorraine sah sich noch einmal um, glitt dann in ihre Schuhe, nahm ihr Telefon an sich und machte sich nun ebenfalls auf den Weg nach unten.
„Du hast die Investoren bestochen“, sagte Pearce, während Harris sich dicht an ihm vorbei zum Pool bewegte. „Meine Investoren!“
„Ich habe ihnen lediglich ein Angebot unterbreitet, dass sie unter keinen Umständen hätten abschlagen können.“
Harris setzte einen Fuß auf die obere Sprosse der Poolleiter, die unter seinem Gewicht ein ächzendes, metallisches Raunen von sich gab.
„Ich vermute, weil man ihnen sonst etwas abgeschlagen hätte“, sagte Pearce.
Harris warf erneut sein zähnefletschendes Grinsen auf, während sein Unterkörper in das Wasser eintauchte.
„Wie ich schon sagte“, grunzte er und zwinkerte Pearce zu, „Taktik!“
Er ließ die Leiter los, stieß sich vom Beckenrand ab und glitt rücklings in den Pool. Er schloss die Augen, tauchte sein Gesicht in das kühle Nass und strich sich dann die Haare nach hinten. Er gab Pearce ein Zeichen, näherzukommen. Pearce ging die wenigen Meter bis zum Pool und vor dem Wasser in die Hocke.
„Ich verschenke selten etwas“, sagte Harris, während er sich mit kreisenden Armbewegungen an der Oberfläche hielt. „Nie, um genau zu sein. Aber den Rat, den gebe ich dir jetzt umsonst. Ein kleiner Gefallen von Geschäftsmann zu Geschäftsmann sozusagen.“
Pearce legte in Erwartung den Kopf schief. Harris schwamm zu ihm, hob einen Arm aus dem Wasser und legte ihn auf den Beckenrand.
„Sieh es als Lektion, was heute passiert. Du hast jahrelang die Wirtschaftsschule besucht? Kannst gut mit Zahlen jonglieren und kennst den Markt wie deine eigenen Pinkelgewohnheiten? Am Arsch, sag ich dir!“
Harris machte eine kurze Pause, fuhr sich mit der Hand über das nasse Gesicht und blinzelte, um Pearce im gleißenden Licht besser sehen zu können.
„Solltest du dich von deiner Niederlage erholen, was zweifellos sehr lange dauern dürfte, und möchtest das Spiel von vorne beginnen, dann rate ich dir, vergiss in Zukunft den ganzen ethischen Scheiß, den sie dir ins Hirn gesät haben und auf den du andauernd so stolz bist.“
Pearce lächelte, stieß die Luft aus den Nasenlöchern und nahm die Sonnenbrille ab.
„Die unteren Keys 'waren' meine Zukunft, Harris. Das war mein Geschäft. Und du hättest dich nicht einmischen dürfen.“
Harris tauchte seinen Kopf unter, kam wieder zum Vorschein und spuckte einen Schwall Wasser aus.
„Die meisten Sprichwörter sind schön geschriebener Schwachsinn für Leute, die nicht kapieren, wie es läuft“, knurrte Harris. „Aber eines gibt es, das du dir merken solltest.“
Pearce nickte und blickte in die Ferne, wissend, worauf Harris hinauswollte.
„Erst kommt das Fressen. Dann die Moral.“
„Richtig!“, sagte Harris. „Schreib's dir auf die Stirn und schau jeden Morgen in den Spiegel, bevor du das Haus verlässt. Oder aber du wirst verschlungen, wieder ausgeschissen und vertrocknest unter der Sonne, ehe du 'Bankrott' rufen kannst.“
Pearce ließ die Worte sacken, schob sich dann die Sonnenbrille wieder über die Augen und stand auf. Mit zusammengepressten Lippen blickte er auf Harris hinab. Einen Moment lang gab es nur die Hitze, das sich sanft wiegende Gras und das Oratorium der Zikaden um sie herum. Harris Zehen berührten etwas, das weder Stein noch Wasser war. Etwas Fremdes.
„Danke für den Rat“, sagte Pearce und machte einen Schritt zurück. „Ich nehme ihn mir zu Herzen.“
Nicht eine Sekunde später wühlte sich das Wasser hinter Harris auf und entfesselte zwei riesige Kiefer, deren Zähne sich in seine Schulter schlugen und ihn vom Beckenrand fort rissen. Er ruderte mit den Armen und Pearce hob die Hand, um sich die aufspritzende Gischt vom Hals zu halten.
Harris setzte zu einem Schrei an, doch da füllte sich sein Mund bereits mit Wasser. Seine Finger suchten nach irgendeinem Halt, bekamen aber nur den gepanzerten, schuppigen Körper seines Angreifers zu fassen, der ihn weiter in die Tiefe zwang. Die ersten Knochen gaben unter dem anschwellenden Druck der Kiefer nach. Dann wurde es schwarz um Harris.
Pearce fuhr sich durch die Haare und wartete, bis sich die Wogen zu seinen Füßen wieder beruhigten. Dann drehte er sich langsam um und ging zur Bar. Er nahm den Rest seines Whiskys, schwenkte die bernsteinfarbene Flüssigkeit ein paar Mal umher und leerte das Getränk in einem Zug. Er stellte das Glas zurück und kostete den sich ausbreitenden Brand in seiner Kehle aus.
Wie ein unter Wasser losgelassener Korken ploppte Harris zurück an die Oberfläche. Nach Luft ringend, strampelte er panisch in Richtung Leiter. Mit nur einer Hand umklammerte er den Edelstahl und zog sich keuchend daran hoch. Pearce drehte sich um und beobachtete ihn.
Stöhnend hievte Harris sich über den Beckenrand. Sein Bauch war übersät von tiefen Bissspuren, die stoßweise Blut ausschütteten. Der linke Arm hing unnatürlich tief und zwischen Schulterblatt und Steißbein hatte sich eine große Öffnung aufgetan. Verstört wie ein Fisch an Land brach er neben dem Pool zusammen.
Pearce nahm seinen Aktenkoffer an sich und näherte sich dem Becken. Harris spuckte rotes Wasser, als Pearce neben ihm in die Knie ging und seelenruhig den Koffer öffnete. Statt handelsüblicher Papiere jedoch, zog er einen großen, aus Leder und Stahlriemen bestehenden Maulkorb hervor und ließ ihn neben Harris Gesicht zu Boden fallen.
„Wusstest du, dass männliche Alligatoren ihre Artgenossen fressen?“, fragte Pearce. Harris gab einen Laut von sich, der an das Fiepsen eines jungen Hundes erinnerte. Die Dichte des Wassers hatte seinen verletzten Körper zusammengehalten. Doch jetzt begannen die Schwerkraft und sein eigenes Gewicht, auf grausige Weise miteinander zu harmonieren. Sie öffneten die Wunden, dehnten sie aus und legten Harris Fleisch langsam aber sicher in Fetzen.
„Doch nicht einfach irgendwelche Artgenossen“, fuhr Pearce fort. „Nein, Harris. Sie töten und verspeisen nur die, die ihnen unterlegen sind. Kleinere, schwächere Tiere.“
„Was hast … du getan?“, krächzte Harris und lief knallrot an.
„Nichts habe ich getan, Harris. Das warst alles du. Du ganz allein. Vollkommen bedeutungslos, wie grausam und ungerecht dir deine Situation erscheinen mag. Am Ende des Tages bleibt es wohl nichts weiter als ein tragischer Unfall, den du selbst heraufbeschworen hast.“
Pearce hob den Kopf und sah zu dem gut viereinhalb Meter langen Alligator, der gespenstisch ruhig an der Oberfläche des Blutbades trieb.
"Denn sie waren schon hier, bevor wir kamen und in ihrem Gebiet unsere Straßen und Häuser errichteten“, fuhr Pearce fort und beugte sich tiefer zu dem Sterbenden herab. „Und solche Dinge passieren eben, wenn man sich ungefragt in fremden Territorien herumtreibt.“
„Du … du verschissener Hurensohn“, würgte Harris hervor.
Schritte ließen Pearce einen Blick über die Schulter werfen. Es war Lorraine, die ohne erkennbare Eile den Poolbereich betrat. Geschickt wich sie der sich ausbreitenden Blutlache aus und stellte sich neben ihn.
Pearce richtete sich auf und schenkte Lorraine zur Begrüßung ein kurzes, aber aufrichtiges Lächeln.
Harris Hand wanderte zitternd zu den Füßen seiner Frau. Sie drehte den Fuß zur Seite, sodass seine Finger sie um wenige Zentimeter verfehlten.
„Tut mir leid, Quinton“, sagte sie, ohne es so zu meinen. „Aber dein Kleines muss sich allmählich weiterentwickeln.“
Stöhnend zog Harris die Hand zurück.
„Ich danke dir für die Lehrstunde, aber wie du siehst, Harris, habe ich bereits meine eigene Taktik entwickelt. Etwas zeitaufwendig, muss ich gestehen. Doch ich persönlich bevorzuge es, unsichtbar zu bleiben, während ich fremde Gefilde betrete.“
Harris Gesicht hatte sich mittlerweile zu einer zornigen Fratze verzogen und entspannte sich erst wieder, als er seinen Blick ein letztes Mal von Lorraine zu Pearce wandern ließ. Er bleckte die Zähne für sein berühmtes Grinsen. Was er dann noch an Kontrolle über seinen Körper hatte, nutzte er für ein zaghaftes Kopfschütteln.
„Erst das Fressen ...“, keuchte Harris und verlieh seinen letzten Worten an Pearce einen mitleidsvollen Unterton.
Dann aber verließen ihn endgültig die Kräfte und sein Kopf schlug auf dem Beckenrand auf. Lorraine trat einen Schritt vor, verschränkte die Arme vor der Brust und starrte ihren Mann eine Weile an. Pearce beobachtete sie dabei, wartete im Stillen, bis sie schließlich den Kopf hob und ihn ansah. Er nickte, ging um Harris herum, hob den Fuß und drückte ihn gegen den reglosen Körper. Mit einem kaum hörbaren Stöhnen verriet Harris jedoch, dass noch ein Hauch von Leben in ihm steckte.
„Es war mir eine Ehre, mit dir Geschäfte zu machen“, sagte Pearce.
Er bündelte seine Kraft und schob Harris mit einem einzigen Tritt zurück in den Pool.
Harris fiel ins Wasser und trieb einen Augenblick lang an der Oberfläche, ehe er schließlich versank. Der Alligator machte eine kleine Vorwärtsbewegung und glitt durch das Becken. Das Reptil ließ Pearce und Lorraine dabei keine Sekunde lang aus den Augen. Selbst dann nicht, als es geräuschlos unterging, um mit Harris endgültig in der Dunkelheit zu verschwinden.
Die Sonne hatte den höchsten Punkt längst passiert, als Pearce erneut am Steuer seines Wagens saß und zurück in Richtung Stadt fuhr. Er hielt sich an die geltenden Geschwindigkeitsbegrenzungen.
Lorraine saß neben ihm und drehte den Seitenspiegel weiter nach außen, um noch einige Sekunden länger verfolgen zu können, wie die Inseln hinter ihnen kleiner und kleiner wurden, bis sie letztlich in der flirrenden Ferne verschwanden. Auf ihrem Schoß ruhte die Mappe mit den Grundstücksverträgen. Pearce beobachtete sie aus dem Augenwinkel. Sie bemerkte es und schenkte ihm ein verschmitztes Lächeln. Dann widmete sie sich wieder der Aussicht.
Seit sie die Villa verlassen hatten, hatten sie kein Wort mehr miteinander gesprochen. Pearce Aktenkoffer war mitsamt Maulkorb bei voller Fahrt aus dem Auto befördert worden, um von der Strömung ins offene Meer getragen zu werden.
Ein paar Kilometer vor der Stadt verließ Pearce die Straße und brachte den Wagen auf einem kleinen, staubigen Parkplatz nahe dem Wasser zum Stehen. Er und Lorraine stiegen aus und sahen sich um. Wie geplant, war außer ihnen niemand hier. Sie vernahmen das entfernte Geräusch der Wellen und in Ufernähe zerfielen die letzten Reste eines Fischerbootes. Trotz der herrschenden Hitze sog Lorraine die Luft ein.
Am Horizont war mittlerweile eine dunkle Wand aus Wolken entstanden. Aus der Ferne einem riesigen Heuschreckenschwarm ähnelnd, ergoss sich der erste Regen über dem Meer. Auf dem Weg in Richtung Festland.
„Die Putzfrau wird ihn in ungefähr zwei Stunden finden“, sagte Lorraine mit Blick auf die Uhr. „Offiziell habe ich die Nacht und den heutigen Morgen in einem Hotel verbracht.“
„Und ich war seit Tagen nicht in der Gegend“, sagte Pearce.
„Wenn der Anruf kommt, fahre ich zurück und tue, was es zu tun gilt“, beendete Lorraine ihre Geschichte.
Sie ging auf Pearce zu und reichte ihm die Mappe mit den Verträgen. Ihre Finger berührten sich für einen kurzen Moment.
„Willkommen zurück im Geschäft“, sagte sie.
„Ist das alles?“, fragte er und nahm die Verträge entgegen.
Sie hob die Augenbrauen und sah ihn in gespielter Verwunderung an.
„Wann habe ich dich das letzte Mal enttäuscht?“
Pearce lachte auf, schüttelte den Kopf und lehnte sich gegen den Wagen.
„Wie kommst du von hier aus weiter?“
„Das letzte Stück schaffe ich zu Fuß“, antwortete sie.
Pearce blickte in Richtung Meer, von wo aus sich der Sturm näherte.
„Ich kann ganz gut auf mich aufpassen“, kam sie ihm zuvor.
„Und wann sehe ich dich wieder?“, fragte er weiter.
„Gib mir ein bisschen Zeit“, sagte sie nach kurzer Pause. „Es gibt jetzt einiges zu tun. Aber keine Sorge. Das Gras hier wächst nicht nur schnell, sondern auch sehr, sehr hoch.“
Pearce lächelte. Er legte seine Hand um ihren Nacken, zog sie an sich heran und küsste sie. Wind kam auf, rauschte durch die hochgewachsenen Palmen und ließ die Temperatur fallen.
Aus wachen Augen beobachtete Lorraine, wie Pearce sich in der Berührung mit ihr verlor. Und wie er es nur langsam schaffte, sich wieder von ihr zu lösen. Er legte seinen Finger unter ihr Kinn und hob es leicht an.
„Was würde ich nur ohne dich tun?“, flüsterte er.
Die Antwort lag Lorraine auf der Zunge. Doch sie schluckte sie, geduldig, wie sie von Natur aus war, herunter. Ihre Augen aber wurden schmaler, was sie mit einem Lächeln gekonnt zu überspielen wusste.