- Beitritt
- 15.03.2008
- Beiträge
- 858
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 7
Kassandra
Sie flohen über die Dächer. Das flackernde Licht des brennenden Irrenhauses beleuchtete ihren Weg.
Kassandra lachte. „Da ist der Vogel!“, rief sie und lief dem fliegenden Schatten nach. Emil ließ sie laufen. Es war schön ihre Stimme wieder zu hören. „So haben wir unsere Sprache also wiedergefunden.“ Murmelte er vor sich hin.
Dann drehte er sich um und suchte einen anderen Weg von den Dächern hinunter, um ein neues Leben zu führen.
Kassandra starrt auf die Miniaturwelt. Ihr Bewusstsein kippt auf die Straßen der der unter ihr liegenden Stadt, ihr schwindelt.
>Jetzt ein Schritt und alles was ich tun kann wäre getan<
Regenpartikel flirren durch die Luft, eine Böe zerrt an ihrer Sterblichkeit. >Ich muss den Kreis durchbrechen.< Einen mutigen Schritt nach vorne, dann ein kurzer, brutaler Schmerz und alles wäre vorbei.
Sie stellt sich vor unten auf der Straße zu liegen, mit unnatürlich verrenkten Gliedern wie eine weggeworfene Schaufensterpuppe.
Vor ihrem inneren Auge ziehen die Gesichter ihrer weiblichen Vorfahren vorbei. >Und wenn ich jetzt nicht ausbreche, wird meine Tochter irgendwann vor derselben Wahl stehen und ihre Tochter und immer so fort.<
Sie schliesst die Augen und wagt den Schritt. Den letzten, den, für den sie ihre Kräfte gesammelt hat.
Kassandra fällt dem Boden entgegen, der Bedrohung und Verheißung zugleich ist. Dann ein kurzer Ruck und...
Logout, das Bild verschwindet. Kein Boden mehr, kein Fallen und keine Verheißung.
Kassandra ist in ihrem Bett, halbaufgerichtet keucht sie in die schweigende Nacht. Der Wecker zeigt die zweite Morgenstunde an.
Sie hat wenige Stunden geschlafen und trinkt ein paar Schlucke – die Wasserflasche steht neben dem Bettgestell –, dann dreht sie sich zur Wand und schließt wieder die Augen.
Trotz ihrer inneren Aufgewühltheit fällt sie wieder in einen leichten, oberflächlichen Schlummer.
Login - neue Traumszene.
Sie befindet sich auf einem kalten Steinfußboden. Kassandra kniet mit gebeugtem Rücken vor einer mächtigen Aura. Sie weiß, ohne das sie etwas sehen könnte, dass um sie herum tausende andere Frauen knien, die alle Kassandra sind. Ihre Ahnen, ihre weiblichen Vorfahren.
Ihr Kopf hebt sich wie eine Marionette, deren Spieler eine Strippe zieht. Kassandra blickt einer uralten Frau in die Augen. Sie kennt sie, es ist Kassandra.
Die älteste Kassandra sitzt auf einem schmucklosen Steinthron, ihr Körper und das Gesicht sind mit weiten, grauen Tüchern verdeckt. Nur die Hände mit den knorrigen Fingern sind zu sehen, sie umklammern die Lehnen des Throns.
Zwei glutrote Punkte hinter ihrem Gesichtsschleier verraten, wo zu Lebzeiten ihre Augen waren.
„Du musst den Kreis durchbrechen, Kassandra. Nur du kannst uns alle erlösen.“ Kassandra schüttelt den Kopf.
„Ich will nicht für eure Fehler gerade stehen, mein Leben wird anders werden. Ich bin keine Unglücksbotin.“
Die Alte lacht leise, es klingt, als würde trockenes Laub aneinander reiben.
„Wir wissen es besser.“
Die verhüllte Frau webt mit ihren Fingern ein Loch in die Traumwirklichkeit und lässt die Vergangenheit in Szenen lebendig werden.
Troja, vor dem trojanischen Krieg:
Der Gott Apollon verfluchte Kassandra, die Prinzessin Trojas, weil sie ihm Sex verweigerte. Vorher schenkte er ihr die Gabe der Prophezeiung. Da er ihr diese nicht mehr nehmen konnte, veränderte er sie, ab dann würde niemand ihren Prophezeiungen mehr Glauben schenken.
Sie sagte den Untergang Trojas voraus und erlebte, wie die Griechen die Stadt plünderten. Die Sieger des trojanischen Krieges brandschatzten Gebäude, töteten Männer und vergewaltigten Frauen.
Auch Kassandra war unter den Opfern.
Entgegen anderslautender Überlieferungen wurde Kassandra später nicht getötet, sie floh aus den Ruinen Trojas, sie gebar zu ihrem Sohn noch eine Tochter und versuchte ein verstecktes Leben, in der Hoffnung, der göttlichen Aufmerksamkeit zu entgehen, damit ihre Kinder es einmal besser haben werden.
Doch Apollon versteckte die Gabe tief in ihren Genen. Kassandra vererbte den aktiven Teil an ihre weiblichen Nachkommen. Die männlichen Kinder trugen den passiven Teil in sich. Die Gabe erwies sich als Erbfluch.
Die Kassandren stellten fest, dass sie das Unglück nicht nur vorraussagten, sondern auch anzogen.
Durch die Jahrhunderte spielte sich das gleiche Drama ab, nur die Kulissen änderten sich.
Zwischen den Fingern der Stammmutter Kassandra wechselten sich blutige Szenen in rascher Folge ab: Mongolen, die die Söhne Kassandras niederritten, sterbende Verwandte in allen Variationen der Grausamkeit. Kassandra sah fallende Burgen, brennende Hütten, untergehende Schiffe und schwere Orkane, die alles Leben um die jeweilige Kassandra auslöschten.
Begleitet wurden die Bilder von dem homerischem Lachen des Gottes, der den verletzten Stolz über die Zurückweisung seiner Fleischeslust nie überwinden wollte.
Ihr selbst und ihren Töchtern, jede Kassandra gebar mindestens eine Tochter, geschah dabei nichts. Sie waren das Auge des Sturms, der ihnen böswillig und zäh durch die Jahrtausende folgte.
Die erste Kassandra legte die Hand wieder auf die Lehne, ihre Finger krochen wie Spinnenbeine auf ihre vorherige Position. Die Schreckensbilder verschwanden.
„Du sollst für keinen Fehler gerade stehen, Kassandra, unser dunkles Blut ist nicht Schuld. Sondern Schicksal. Töte dich und erlöse uns von den Jahrtausenden des Wartens und dich von einem Leben im Auge des Sturms.“
Den Ruf nahmen die anderen Kassandras auf: „Töte dich, töte dich.“
Kassandra versuchte den Chor mit einem solitären :„Neeeeeeeeeeiiiinnnn“ nieder zu kämpfen . Über dieser Anstrengung wurde sie wach und...
sah die Morgensonne, die ihre ins Gesicht schien. Sie beeilte sich mit dem anziehen, da sie mittlerweile spät dran war.
Heute war ihr erster Tag an der neuen Schule. Die warnenden Worte ihrer Ahnin lagen noch in ihren Ohren:“Für jede Kassandra gibt es den Moment, in dem sie sich entscheiden kann, ihrem Leben zu entsagen und damit den Fluch des Alten aufzuheben. Für dich wird der Augenblick bald kommen. Du wirst es wissen“
Kassandra schnürte sich die Turnschuhe zu, während die Worte in ihrem Inneren nachhallten. Sie schnaubte.
>du wirst es wissen! Natürlich werde ich es wissen, ich weiß alles, was mir passieren wird.<
Aber Kassandra wusste etwas, dass sie ihrer pathetischen Ahnin voraus hatte, sie hatte noch eine andere Möglichkeit entdeckt, dem Schicksalskreis zu entkommen.
Und heute wird sie diese Chance kennenlernen . Kassandra schultert ihren Schulrucksack und läuft die steile Treppe hinunter.
Sie teilten ihre Tage auf Station in sprachlosem Warten. Es war kein fairer Tausch gewesen.
Aber die Ausgangslage seiner unvermuteten Halbschwester war auch denkbar schlecht. Götter, trojanischer Krieg, Inkarnationsfolge. Sein Kopf schwirrte, wenn er an diese Begriffe dachte, wenn Emil versuchte, die Begrifflichkeiten
in seine rationale Weltsicht zu integrieren.
Er ging den Flur entlang, auf dem sich die Tür zu Kassandras Zimmer befand. Sie saß am Ende des langen Raums an einem kleinen Tisch und schaute durch ein Fenster.
Emil folgte ihrem Blick und sah einen unscheinbaren Vogel, der sich das Gefieder putzte. Sanft nahm er ihre reglose Hand, bevor er Kassandra in die Augen sah.
Kassandra ließ es sich gefallen. Ihre Pupille war fast stumpf, das frühere Leuchten war verschwunden, jedoch - irgendwo in den Tiefen ahnte er ein Flackern ihres Willens. Vielleicht ist es mein Wunsch, sie leben zu sehen, der dort seinen Widerhall findet.
Sie hatte gesagt, dass es länger dauern könnte bis ihre Seele wieder in den Körper zurückkehrte. Er seufzte, setzte sich auf den anderen Stuhl und beobachtete den Vogel, dessen Federkleid von einem kleinen Schauer neuerlich nass wurde. Wieder begann der graue Flieger die Prozedur des Putzens.
Wir haben ja Zeit. Er hob zu sprechen an, doch erinnerte er sich, das die Worte seinen Geist im Moment nicht verlassen konnten. Also beschränkte Emil sich auf ein Lächeln, dass sie mit glanzlosen Augen erwiderte.
Emil seufzte noch einmal, tätschelte geistesabwesend ihre Hand und setzte sich bequem hin. Ihre Zeit würde kommen. Müßig spielte er mit seinem Benzin-Feuerzeug, schwang den Deckel auf und zu. Einmal ließ er die Flamme kurz auflodern, bevor er den Deckel wieder zuschnappen ließ.
Ihre Zeit würde kommen. Hier brauchte er es nicht eilig zu haben.
Kassandra steht vor ihrer neuen Klasse. Der Lehrer stellt sie vor: “Das ist Kassandra Yaris...”
Emil schaltet ab und betrachtet das neue Mädchen.
Sie hat schulterlanges schwarzes Haar und forsche grüne Augen, die herausfordernd in die Welt blicken.
>Yaris... den Namen habe ich schon einmal gehört.< Vor Emils innerem Auge erschien die vage Vorstellung eines alten Fotoalbums, halb Gefühl halb Bild.
Während der Vorstellung schaut Kassandra sich die Gesichter ihrer neuen Klassenkameraden einzeln und langsam an, als würde sie etwas suchen.
>Ungewöhnlich für einen Neuling< geht es Emil durch den Kopf. Sie betrachtet ihn besonders eingehend und neigt den Kopf ein wenig, wie ein Vogel, der neugierig ist.
Nach Unterrichtsschluß ging Emil gedankenverloren nach Hause, ihr Name ließ ihn nicht mehr los.
>Oder hatte ich ihn gelesen?<
Er wirft den Schulrucksack in sein Zimmer und geht auf den alten Dachboden.
Stundenlang durchwühlt er vollgestopfte Truhen, alte Koffer und wurmzerfressene Schränke, der Dachboden ist riesig und es dauert lange bis er findet , was er sucht.
Der Einband des Fotoalbums ist dunkelgrün, abgeschabt und schmutzig. Emil wischt den Staub langer Jahre weg.
Die vage Vorstellung wandelt sich zu einem klaren Bild, dieses Album suchte er, an diese Fotos hatte er gedacht, als er ihren Namen hörte. Emil schlägt die Seiten auf, um herauszufinden, was seine Erinnerung ihm sagen will.
Da sind Bilder von der Jugend seines Vaters. Sein Vater, wie er das Schwimmabzeichen in Gold gemacht hat. Derselbe Mann mit seiner Abschlussklasse und häufig als Begleitung oder im Hintergrund auf den Bildern: eine hübsche junge Frau.
Emil vergißt den Nachmittag, während er durch die Seiten blättert, vor und zurück, ohne ein bestimmtes Muster. Bis ein bestimmtes Bild seine Aufmerksamkeit erregt.
Er hatte dieses Bild schon mehrmals gesehen, doch bisher wohl immer nur flüchtig betrachtet: sein Vater und die junge Frau umarmten sich vor einem alten Gemischtwarenladen. Dicke Käse- und Brotlaibe waren im Schaufenster zu sehen. Über dem Laden hing ein Schild: „Yaris’ Gemischtwaren“.
Emil schaute auf die Wolkendecke, die ihre Abwechslung in verschiedenen Grautönen erschöpfte. Seit Tagen der gleiche Blick, durch vergitterte Fenster, die vor Flucht schützen sollten. Jeden Tag der gleiche Blick, vielleicht seit Wochen.
Sein Zeitgefühl wurde längst von der täglichen Routine verschluckt.
Er hörte eine Glocke zum Mittagessen läuten und ging durch die langen kahlen Flure, um sich in der Schlange seiner Mitpatienten anzustellen. Auf seinem Weg ließ er die verschlossene Stationstür und den stinkenden Aufenthaltsraum hinter sich, ohne sie anzuschauen. Emil kannte die Station, er hätte eine Karte von den Wegen zeichnen oder einen Stundenplan für das magere Programm erstellen können. Vielleicht sollte ich es machen, um wenigstens etwas zu tun. Doch bereits während er das dachte, fühlte er den Willen zur Tat verwehen, wie die Sporen des reifen Löwenzahns in einem Windhauch.
Emil grimassierte unwillkürlich. Das war eine neue Angewohnheit. Seitdem er nicht mehr sprach, suchten die Gedanken andere Kanäle um sich auszudrücken. Immer habe ich gewünscht, dass mir etwas besonderes geschieht.
Er schüttelte den Kopf, zerriss gleichsam die jüngsten Spinnweben und reihte sich bei der Essensausgabe ein.
Heute gibt es Suppe, also ist Mittwoch. Vor ihm standen Frauen und Männer verschiedenen Alters, die aktuelle Belegung der Station.
Ein großer, vollbärtiger Kerl, dessen Kittel mit Essensresten befleckt war, über denen ein schweres, dunkles Holzkreuz hing, knallte seinen Löffel rhythmisch gegen den Tellerboden.
„Wir haben Hunger Hunger Hunger“ Sang er fröhlich. Der Pfleger stand hinter seinem großen Bottich und blickte ihn scheel an, während er die nächste Kelle führte. Kassandra, die gerade an der Reihe war, wurde von einer kleinen Welle Eintopf beschmattert. „Entschuldigung“ Presste der Angestellte heraus, um der Höflichkeit Genüge zu tun.
Sie blickte unschlüssig auf den Fleck, dann auf den Pfleger.
Auf ihrem Gesicht zeichnete sich beginnende Wut ab, doch das frisch geborene Gefühl verhungerte in eine Resignation.
Kassandras Blick schweifte an seinem gebeugten Rücken vorbei zu dem Fenster, das gegenüber der Tür weit offen stand. Sie sah das Tagesgrau und einen kleinen Vogel, der als flirrende Silhoutte vor dem Fenster im Schwebflug verharrte.„Nu is gut, geh mal weiter. Die anderen wollen auch noch was.“ Kassandra folgte seinen Anweisungen und ging.
Emil stand weit hinten in der Schlange. Wie üblich. Er machte sich keine Sorgen wegen der Suppe, es war immer genug für alle da.
In den vergangenen Monaten freundete Emil sich mit Kassandra an.
Er befragte seinen Vater über die Frau, die auf den Fotos zu sehen war: ob es Zufall sei, dass sie auf einem Bild vor einem Geschäft stünden, das „Yaris Gemischtwaren“ hieß?
Das Gesicht seines Vaters verdüsterte sich über der Erinnerung und er wimmelte das Thema mit einer jähen Geste ab.
Emils oberflächliches Interesse erlosch bald wieder. Kassandra nahm seine Aufmerksamkeit mit ihrer aufreizenden Gegenwart so sehr gefangen, dass er sich über ihre Vergangenheit und ihren Hintergrund keine Gedanken mehr machte. Er war ein Werkzeug. Ihre Verbindung beruhte auf seiner Wehrlosigkeit und diente ihren Zielen. Selbst wenn er es gewusst hätte, er konnte ihrer Macht, die in seiner sehnsüchtigen Innenwelt heranwuchs, nichts entgegensetzen.
Es häuften sich die Situationen, in denen sein Blick unweigerlich auf ihren sportlichen Körper fiel oder in ihre blitzenden Augen. Doch das war nur ewiges Vorspiel, sie entzog sich der direkten Körperlichkeit.
Und so verging der Sommer und der Tag rückte näher, an dem Kassandra ihre Chance bekommen sollte.
An diesem Tag machten sie einen Ausflug an einen stillen, tiefen See.
Ein großer Wald umfaßt das kalte Blau und zieht sich bis zum Fuß der Berge, die den Horizont begrenzen.
Beim Anblick dieser Landschaft fühlt Kassandra Unausweichlichkeit.
Die Zeit ist reif, sie spürt, wie sich Emils Seele in Aufruhr befindet, sie hatte den Panzer durchbrochen, den die Menschen normalerweise um ihre Seelen haben. Jetzt war die Möglichkeit gekommen, ihre nackten Seelen verschmelzen zu lassen.
Wenn ihr die Prozedur nicht gelingt, wird sich die Illusion des freien Willens in eine einfache Frage verwandeln:Bejahung oder Verneinung? Tot und Befreiung oder ein Leben unter dem Fluch.
Kassandra fühlt Schicksalskälte, es ist, als würde der Thron der ersten Kassandra seinen Schatten durch die Welten werfen.
Sie läuft mit dem verblüfften Emil durch ein Kiefernwäldchen. Unter ihren nackten Füßen knacken die braunen Nadeln leise.
Schweigend laufen sie durch den sommerlichen Wald.
Auf einer Lichtung steht ein altes Backsteingebäude. Schiefe Grabsteine stehen um den verfallenden Korpus wie die große, ungepflegte Sippe einer armen Arbeiterin.
“Hier liegt meine Mutter” Kassandra zeigt auf einen der neueren Grabsteine. “Sie war eine der letzten, die hier begraben wurden. Kurz bevor das Nonnenstift aufgegeben wurde.” “Deine Mutter war Nonne?” Sie geht zu dem Grabmal und streichelt den Stein gedankenverloren. “Nein, ihr Glaube gehörte zwangsläufig den älteren Göttern, hier suchte sie Ruhe.” „Ältere Götter?, wovon redest du?“
„Wir sind nicht zufällig hier, ich würde sogar so weit gehen, zu sagen, dass es keinen Zufall gibt. Ich will ein Hintertürchen finden, um die Geschichte gut enden zu lassen. Um meine Ahnen zu befreien, ohne dem alten Appollon seinen Willen zu lassen.“ Emil schnaubte.
„Okay, du brauchst deine kleinen Geheimnisse, wie alle Mädchen, aber was du mir hier erzählst ist komplett abgedreht“ „Kassandra lächelt und geht auf ihn zu. „Nein mein lieber Emil, das ist nicht abgedreht. Dieses Wort solltest du dir für das folgende aufheben.“ Sie wird ganz wiegende Hüfte und versprechende Augen, während sie auf ihn zugeht.
Kurz bevor sie ihn küsst, zieht sie ein Fläschchen aus der Tasche und nippt einmal.
Mit ihrer forschenden Zunge schleust sie ihm einen Teil der Lysergsäure in seinen Mund. Die Zeit verliert ihre Bedeutung schon, bevor die Wirkung einsetzt. Emil löst sich auf, zuerst ist es sein Zeitgefühl, dass sich auf den Wegen verliert, die seine Hände auf ihrem Körper machten. Als das LSD zu wirken beginnt, folgt das Bewusstsein seinen Händen und nachdem er ihr in die Augen schaut, verliert er sich endgültig in ihr.
Die Grenzen von Ich und Du verschwimmen. Emil spaziert auf den Grenzlinien der Wirklichkeit und sieht Kassandra auf der anderen Seite, wovon weiss er nicht, stehen und ihn zu sich winken.
Emil folgt ihrem Wink und überschreitet die Grenze.
Kassandra blickt dich prüfend an. Sie scheint die Geheimnisse deiner Seele zu sezieren. Ihre Augen sind Wald, die schlanken Glieder und festen Brüste Landschaften, die um deinen Körper fliessen. Ihr werdet eins, schon als ihr steht und euch küßt. Eure Münder gehen ineinander über, ihr werdet zu einem Wesen, verbunden durch den Schlund und innere Hitze. Ihre Hand ist zwischen deinen Beinen, streichelnd, tastend, formend bis zur Explosion. Dein Blick in ihren Augen, auf Wanderschaft in dem tiefen Wald.
Dunstige Galaxien tanzen um eure verschlungenen Körper. Du verirrst dich in dem Labyrinth ihrer Augen, aufgenommen und verschlungen von ihrem Geschlecht. Dann Vermischung der Moleküle, Seelenberührung und gemeinsame Wanderschaft. Eure grünen Augen werden zu einem Wald, in dem ihr euch wiederfindet.
Kassandra scheint den Weg zu kennen, entschlossen geht sie voran.
Baumstämme, die bis zum Himmel reichen, säumen den Weg. Zwischen den Stämmen ist nichts als Dunkelheit. Eine brütende Dunkelheit, die argwöhnisch eure Schritte belauert.
Knorrige Äste greifen nach dir, Stimmen wie raschelndes Laub wollen dich in die Lichtlosigkeit locken.
Kassandra hält deine Hand fest, zieht dich weiter den Weg entlang. Eure Schritte beschleunigen sich, der keuchende Atem ist das einzige Geräusch, das ihr hört.
Scheinbar endlos jagt ihr den Weg entlang. Du spürst wie Willen und Geist sich schwächen, dein einziger Halt ist Kassandras Hand.
Sie brachten ihn damals hierher, weil Emil zu einer Gefahr für die Allgemeinheit wurde. Nachdem er sein Notizbuch und den Laptop aus dem Fenster warf.
Den von den Nachbarn alarmierten Polizisten bot sich ein groteskes Bild: Emil hatte seine Wände mit Paaren von Smile-Gesichtern bemalt, deren Münder zugenäht waren und die sich an den Händen hielten.
Aufgrund seines hartnäckigen Schweigens nahmen sie ihn mit und informierten seinen Vater.
Als der seine Aussage machte, kam heraus, das Emil seit mehreren Tagen nicht mehr sprach. Gar nichts, kein einziges Wort. Dabei sei er bis dahin zwar ein unauffälliger, aber sozial integrierter Junge gewesen. Ganz normal.
Ein dicker Polizist holte Emil zur Befragung. Warum hatte er all die Sachen aus dem Fenster geworfen?, Emil sagte nichts, sondern schaute den Polizisten nur stumm an, mit einem gequälten Augenausdruck, das dem Dicken ganz bange wurde.
Später sagte er, das er das Gefühl hatte, Emil wäre in seinem Körper eingeschlossen und seine Augen waren wie Schießscharten zu dem Kellerloch, in dem seine Seele hockte.
Alle wunderten sich, was den Dicken zu solch poetischen Beschreibungen getrieben hat, der war sonst nur geistig aktiv wenn es um Donutbeschaffung ging.
Doch die Augen von Emil, der mit seinem verweinten Vater am Tisch saß, brachten ihn aus der Fassung.
Die erste Eingebung, dem Jungen Papier und Stift zu geben, damit er sich auf diese Weise äußern konnte, kann man als gelungen bezeichnen.
Doch als Emil keine Buchstaben zustande brachte, geschweige denn Worte oder gar einen sinnvollen Satz, ließ sich der Polizist von Emils zunehmender Verzweiflung anstecken. Je erregter Emil versuchte, zu sprechen oder zu schreiben - während sein Vater im Hintergrund schluchzte - desto erregter bemühte sich der Polizist, ihn zu neuen Versuchen zu animieren.
Irgendwann hielt es der Junge nicht mehr aus und er nagelte den Stift, der für ihn auf grausame Weise sinnlos war, in die linke Hand des Beamten.
In dem darauffolgenden Tumult - der Polizist schrie, der Vater schrie und weinte, Emil war stumm außer sich - kippte Emil den Tisch um, warf einen Stuhl gegen die Wand und einen anderen Stuhl gegen die Tür, die unglücklicherweise in dem Moment von einer Polizistin aufgemacht wurde.
Der Stuhl traf sie an der Schläfe und sie ging bewußtlos zu Boden. Bald kamen weitere Polizisten, die Emil hart anfaßten und ihm Handschellen anlegten.
Er kam nicht in Haft, sie brachten ihn hierher.
Es scheint, als wäre es Unendlichkeiten her, dass du ein Mensch warst, ein denkendes Wesen. Wie lange ihr beiden durch diesen Wald irrt weißt du nicht. Die dunklen Stämme, die so bedrohlich wirkten, flossen ineinander und bilden nun eine grün schillernde Oberfläche, durch die sich ölige Schlieren ziehen.
Zuerst verschwanden die Bäume, dann verloren sich die Konturen des Weges in der schillernden Wand, die der Wald gewesen war. Zuletzt verschwand die laufende Kassandra in der Abstraktion. Eine Weile spürtest du noch die Bewegungen ihrer Arme und Beine. Du spürst die Vibrationen ihrer Lebenskraft und fühlst die Wärme ihrer Hand.
Doch nun ist dein fernes Bewusstsein, das durch einen grenzenlosen, lichtlosen Raum zu schweben scheint und dessen einziger Halt Kassandras Hand ist, das einzige, was du noch wahrnimmst.
Irgendwann erscheint ein heller Fleck, der sich scheinbar unendlich langsam ausdehnt, wie zähflüssige Farbe, die ausläuft. Nach und nach vergrößert sich die Helligkeit und die Konturen eines klassischen Tempels schälen sich aus der Formlosigkeit.
Vor dem säulengeschmückten Eingang steht ein Mann wie der David von Michelangelo. Ein Helm schützt seinen Kopf, unter dem lange, blond gelockte Haare hervorstehen. Der linke Unterarm ist Schildgeschützt, in der rechten Hand trägt er einen schweren Kriegshammer.
Vor seinem nackten Unterleib hängen der große Penis und die schweren Hoden. Ein schweres Pulsen durchdringt sein Glied, und in dem gleichen Takt blähen sich seine Nasenflügel, als würde er etwas wittern. Außer diesen Bewegungen steht er still wie eine Marmorstatue.
Kassandra zieht zielbewusst wie ein Hai, der Blut gewittert hat, auf die Gestalt des Gottes zu.
Je näher ihr dem Tempel kommt, desto mehr gewinnt euer Körper wieder an Kontur, zuerst fühlst du wieder die Bewegungen, dann beginnt sich Kassandras Silhouette abzuzeichnen, durchscheinend wie Reispapier.
Du verlierst den Faden, der dich an ihren Willen gebunden hat und siehst dafür ihre Hand aus der Gestaltlosigkeit auftauchen, die deine Hand umklammert hält. Du siehst deinen Körper Gestalt annehmen, ausgehend von der Hand, die Kassandra berührt.
Schritt um Schritt werdet ihr begreifbarer, der Avatar nimmt einen tiefen Atemzug - es ist, als würde eure beginnende Realität in ihn hineingesogen - und stößt den Atem schnaubend wie ein wütender Ochse wieder aus.
Langsam dreht er den Kopf in eure Richtung und lacht ein Donnergrollen, nachdem er euch erkennt.
„Kassandra und Emil, die Nachkommen des Fluches. Endlich besucht ihr mich einmal.“
„Wir sind gekommen, den Fluch zu lösen.“ Kassandra keucht die Worte hervor ohne ihren Schritt zu verlangsamen.
Apollon hebt den Hammer und schlägt ihn krachend gegen das Schild.
„Natürlich, was sonst.“ Er lächelt.
„Ihr habt also den Weg der Blutschande gewählt, um zu versuchen, den Blutfluch zu lösen? Nett von mir, euch ein kleines Hintertürchen offenzulassen, nicht?“
Mit einem kraftvollen Sprung überwindet Apollon die Entfernung und schlägt den Hammer nach Kassandras Gesicht. Doch sie, durchscheinend wie Reispapier, weicht dem Schlag nicht aus.
Der Hammer schwingt durch eure Körper, ohne Spuren zu hinterlassen. Die Schmerzen sind jedoch furchtbar, du krümmst dich, als der Hammer eine Bresche durch deinen Geistkörper schlägt. Feuer frei!
Ächzen deine Moleküle und zwingen dich gegen Apollons nächsten Schlag.
Selbst überrascht von deiner Kraft, hältst du seine Schlaghand in der Luft, sein geschwellter Bizeps zittert vor Anstrengung neben deinem aufgerissenem Auge.
Apollon blickt dich zornentbrannt an. Seine Stimme brüllt in dein Ohr.
„Ah, die passive Kraft. Aber warte, lange wirst auch du mich nicht halten, du bist nur ein Teil. Ich bin das Ganze!“
Bei diesen Worten kommt Leben in die geisterhafte Kassandra, sie öffnet den Mund und schlängelt ihre Zunge, die lang und länger wurde, nach dem Hals des alten Gottes und umfasst ihn.
Seine Augen quollen aus den Höhlen, kleine Äderchen in seiner Pupille wurden rot und zerplatzten. Appollon versuchte mit der Schildhand den Würgegriff zu lösen, doch nur eine Hand war zu schwach, er schaffte es nicht.
Du hältst weiterhin die Schlaghand fest, den zitternden Bizeps neben deinem aufgerissenen Auge.
Appollons suchende Hand findet und umgreift die Zunge seiner Tochter und reißt sie entzwei. Kassandra stolpert in seine Richtung, hält sich die Hände vor den Mund und stöhnt.
Der alte Gott fällt mit zitternden Beinen auf die Knie, gierig versucht er durch die verengte Röhre Luft zu holen. Ein pfeifendes Geräusch, als würde Darth Vader durch Konzertlautsprecher atmen, lässt dich unwillkürlich die Hände auf die Ohren legen.
„Bring es zuende.“ Kassandra blickt dich durchdringend an. „Wandel die Schande in einen Sieg, niemand fragt nach der Schuld der Sieger, bring ihn um.“ Du blickst panisch auf die Zunge, die um seinen Hals tobt wie ein abgeschlagener Oktopusarm. „Jetzt“ schreit sie, ihr Mund scheint eine einzige Wunde zu sein.
Ihr Blut spritzt gegen dein Gesicht und weckt dich aus der Erstarrung. Du nimmst die zwei Enden der Zunge, stellst dich hinter Appollon, der immer noch um Atem ringt, und würgst ihn mit aller Kraft.
Appollons Kraft hat schon durch den Kampf nachgelassen, er zuckt noch ein paar mal und erschlafft dann in deinen Armen.
Du hältst noch die Zunge deiner Schwester in der Hand, als du spürst, wie dir etwas entrissen wird.
Appollons Geist fährt aus seinem leblosen Avatar und zieht die Teile eures Erbguts, die über die Jahrhunderte die Rache des alten bedeutet hatten, mit sich. Wieder ein grausamer Schmerz, dann unendliche Erleichterung. Du sinkst neben der Hülle des Avatars zusammen und blickst auf Kassandra, die zu dir geht und deine Hand nimmt, bevor auch sie zusammenbricht.