Was ist neu

Katharsis

Seniors
Beitritt
24.08.2003
Beiträge
2.451
Zuletzt bearbeitet:

Katharsis

Katharsis. Nicht die Hölle, aber vielleicht nah dran, jedenfalls genau so warm. Ich brenne.
Die Musik hämmert die Gedanken aus meinem Kopf. Harte, aggressive Bässe reduzieren mich auf meine Grundfunktion. Ich bin ein Schmetterling und fliege durch den Raum. Ich bin ein Regentropfen, der auf den Boden fällt. Ich bin das kitschige Licht, das in Filmen die Rückblende kennzeichnet.
Ich bin aufgelöst, verloren in der Musik und in seinen Augen.

Wir tanzen, zusammen, Berührung, ein Hin und Her in der Musik. Wir sind eins, miteinander, mit den Klängen. Extase. Sünde. Ich werde nicht meine Freiheit aufgeben. Nicht einmal für dich.

Seine Hände streichen im Tanz über mein Gesicht, und obwohl ich mich ihnen entziehen möchte, bin ich gefangen in einem goldenen Käfig aus Alkohol, Musik und Körperlichkeit.
Ich bin ein Sonnenstrahl, der durch die Gitterstäbe schlüpft.
Mein Körper reagiert auf seine Berührung in einer Art und Weise, die mir unangenehm ist und dadurch um so schöner. Ich bin verraten und verkauft, geboren, verloren.

Katharsis. Meine Zurückhaltung bröckelt mit jeder Minute mehr. Bald wird sie ganz verschwunden sein. Als ein Lied kommt, das wir nicht mögen, machen wir eine Pause und stellen uns an den Rand der Tanzfläche. Er legt einen Arm um mich, ich bin nicht mehr ganz sicher auf den Beinen.
„Ich bin betrunken“, warne ich, und er lacht. „Nutz es nicht aus.“
Oh, bitte, bitte, nutz es aus.
Sein Geruch. Nach Schweiß und nach sich selbst. Die Hitze seiner Haut auf meiner. Verbrennen. Ich verbrenne. Schüttle den Kopf, um den Gedanken loszuwerden, vergeblich. Wirres Haar fällt mir in die Stirn. Scheiß-Vernunft.

Ich könnte in dieser Minute sterben. Hier, bei ihm.
„You are the wind beneath my wings“, dröhnt es aus den Boxen. Did you ever know that you're my hero?
Ich liebe ihn. Aber ich will nicht. Ich will nicht. Ich liebe ihn.

Katharsis. Gib mir Flügel aus Papier. Flügel, die nicht zerreißen im Wind. Er ist der Wind unter meinen Schwingen, er trägt mich, ohne ihn bin ich nichts.
Ich lebe nur halb, wenn ich allein bin. Nur er macht mich ganz, wenn ich in seiner Nähe bin. Ich spüre, wie er mich an sich drückt und gebe dem Druck freudig nach. Mein Körper reagiert auf ihn. Ich bin betrunken. Ich will frei sein.
Ich kann sein Herz schlagen hören. Ich liebe. Es tut weh.

Seine Finger pieksen in meine Seite, reißen mich aus meinen Gedanken. Ich höre unser Lieblingslied, ich weiß, wir müssen tanzen. Immer, wenn Lieder dieser Band gespielt werden, sind wir auf der Tanzfläche. Ein Ritual. Als er lächelt, versinke ich in seinen Augen und lasse mich freudig von ihm zur Tanzfläche ziehen.

Ich werde mich immer an diese Nacht erinnern. Seine Finger in meinem Haar, auf meiner Haut, mein Herz in seiner Hand. Und mein Unwillen, köstliches Schaudern, ein Zurückschrecken vor etwas, das vielleicht etwas Unausweichliches ist. Der Verstand gebietet über die Instinkte.

Bis zum Rausch, bis zur totalen Ekstase verliere ich mich im Tanz, seiner Gegenwart stärker bewusst als jemals zuvor. Die Schmetterlinge in meinem Bauch lassen sich vom Hirn nicht zur Ruhe zwingen. Sie fliegen durch die Gegend, nicht einmal die hämmernden Bässe können sie zerschmettern. Sie fliegen durch das Feuer, das in mir lodert.

Ich liebe.

 

:cool::thumbsup::bounce: Also an Liebe gestorben in Zukunft... Oder eine bekiffte Party oder Weltschmerz? Jedenfalls warum muss / soll / wird eine verliebte, besoffene sterben? Kleiner Klärungsbedarf, sonst eine sehr sehr schöne Geschichte von Anmut

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo das A,

vielen Dank für die vielen Smileys. Das ging schnell!
Zum Verständnis des letzten Satzes ist vielleicht das Wissen um das Wesen der Katharsis notwendig:
"Der Begriff Katharsis (griechisch Reinigung) meint nach der aristotelischen Definition der Tragödie in der Poetik die emotionale, körperliche, geistige und auch religiöse Reinigung. Durch das Durchleben von Mitleid und Angst erfährt der Zuschauer der Tragödie als dessen Folge eine Läuterung seiner Seele von diesen Leidenschaften."

Dann wäre da noch die psychologische Variante, bei der es heißt:
"In der Kunstpsychologie bezeichnet die Katharsis den klärenden und erhebenden Einfluss gestalteter konflikthafter Erlebnisprobleme, in der Psychotherapie den meist nur kurzfristig heilsamen Effekt von Affekterledigung durch Abreaktion in Fantasien, Ausdruck und antriebsunmittelbaren Handlungen. Auch Hypnosen können kathartisch durchgeführt werden."

Die Katharsis ist also eine Reinigung, bei der Körper und Geist gereinigt werden, wie die Protagonistin es auf der Party erfährt, bei der ihre Zurückhaltung und ihre Vernunft verbrannt werden.

Ich hoffe, jetzt ist es klarer.

gruß
vita
:bounce:

Edit: Auch nicht autobiografisch. Nur eine Idee, ausgelöst durch das gleichnamige Lied der Band Adversus. ;)

 

Hallo vita,

eine sehr schöne Geschichte, hat mir gut gefallen. Allerdings habe auch ich darin keine Katharsis gesehen, keine Abreaktion von Affekten oder gar eine Reinigung, sondern den Sieg des Gefühls (Liebe, Sehnsucht nach ihrem Rausch) über den Willen oder Verstand ("Ich will frei bleiben"), wie es so vielen so oft passiert ... :shy: Also der Sieg der Dionyse über die Agape. Es ist doch keine Reinigung, wenn ein Teil des Ich (der Verstand) vorübergehend weggebrannt wird, oder? Es ist eine Änderung - hin zum Guten oder Schlechten, je nachdem!

Ich könnte nicht beschwören, dass ich Recht habe, aber der Ausdruck Katharsis käme für mich erst in Frage, wenn deine Prot diese beginnende Liebe auslebt, die Liebe tragisch endet und die Prot dadurch eine Reinigung erfährt.

Deswegen störte mich die "Katharsis" die ganze Zeit in der sonst sehr einfühlsamen Geschichte. Du hast den inneren Kampf gut eingefangen, das Gefühl bekommt mit der Zeit immer mehr Raum, immer stärkere Worte. Wirklich gut gemacht, mit wenig Worten alles ausgedrückt. :thumbsup:

VieleGrüße
Pischa

 

Hallo Pischa,

vielen Dank für das große Lob und den freundlichen Smiley. Ich werde versuchen, die gefühlte "Katharsis" noch stärker einzubinden. Immerhin erfährt die Prot eine Reinigung, wenn auch nur der Art, dass ihre Vernunft ihr zum Opfer fällt. Aber ich erkläre hier schon wieder vor mich hin, dabei soll eine Geschichte doch für sich allein wirken... :shy:

danke fürs Kritisieren!

gruß
vita
:bounce:

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo vita!

Eine schöne Momentaufnahme. Viele von uns haben wohl einmal soetwas erlebt - aber Du hast es in einer wirklich gelungenen Art beschrieben. Wenn man das Wort Katharsis allerdings nicht kennt, wird man es aus dem Text selbst nicht erschließen können. Man kann Deinen Erklärungen zwar folgen, und für Dich mag es auch genau um diesen Begriff und um das Erleben gehen - allerdings kann der Unkundige nichts damit anfangen. Für den ist es ein Fremdwort, das den Text zerreißt.

schöne Grüße
Anne

 

Hi,
wirklich interessante Geschichte. Der leicht abgehakte Schreibstil unterstützt wunderbar die Atmosphäre, man kann die Party fast fühlen, vor allem aber kann man die Handlung gut nachvollziehen, da wie Maus schon gesagt hat, sich wohl mach einer schonmal in so einer Situation befand.

Gruss,
Neph

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Vita,

das Konzept der Katharsis war mir schon soweit klar. Klar wurde hingegen nicht, dass die Protagonistin ein Lied reflektiert. Methodisch könnte man anmerken, dass die Katharsis durch Interaktion einen Konflikt auflöst, der sich selbst verstärkend aufgebaut hat. Sie ist insofern Reinigung etc. (wie Du ja sehr genau beschreibst), aber sie steht immer in Verbindung zur verfahrenen Situation (dem Drama, dessen verworrenen Knoten sie sprengt). deine Geschichte steht hingegen in nichts. Eine Selbst Reflektion als solche Reinigende Auflösung will ich nicht gelten lassen. Jede Selbst Reflektion könnte sich sonst zum Drama ernennen und die Erkenntnis zur Reinigung erheben - eine Erkenntnis kann Teil einer Reinigung sein, ist sie jedoch nicht zwingend.

Meine Frage in sofern bleibt: WARUM muss bei der verliebten, besoffenen etwas sterben? Die Liebe ansich ist für mich noch lange kein Drama. Wo also ist das Drama - diese Frage wirfst Du selbst mit der ständigen Wiederholung des klassischen Drama-Aktes der Katharsis als Schlagwort auf...

War das also nur unüberlegt nur so dahingesagt, weil es sich kunstvoll anhört. Da könntest Du dann auch gleich den Tanz im Sinne einer vorgesehen Verführung als Tychae - Schicksal - betiteln oder "Ich lebe nur halb, wenn ich allein bin" als Sophia (Mensch ist ein Gruppentier, Einsamkeit tut nicht gut) etc., quasi als Alt-Griechin aus dem vollen schöpfen.

 

Hallo Maus,

danke für das Kompliment, freut mich, dass der Text dir gefallen hat. Ja, das Wort... vielleicht ist es ein Fremdwort, aber ich vertraue darauf, dass auch andere Leute die Wikipedia kennen. Es war der Anker, an dem meine Geschichte hing, aus der sie entstanden ist.

Hi Nephelyn,
schön, dass du den Text trotz des (offenbar abschreckenden) Titels gelesen hast ;) Und schön, dass du dich in der Situation wiedergefunden hast. Mehr habe ich ja nicht erreichen wollen, ein kurzer Blick durch ein fremdes Augenpaar, und ich bin zufrieden.

Hallo das A,
Jetzt geht sie los, die Diskussion, die ich doch eigentlich vermieden haben wollte. Die Protagonistin reflektiert nicht das Lied, sondern das Lied war der Funke, der mich zu der Geschichte geführt hat. Die Protagonistin stellt sich durch das Erleben ihrer "Vernunft", was, meiner Planung nach, an der Stelle deutlich werden sollte, wo ihre Aussage und ihre Gedanken radikal aneinander vorbeigehen. Die Vernunft wird besiegt - ist am Ende tot. Und die Prot blickt in die Zukunft.
Ist das wirklich so nebulös? Bin ich betriebsblind? :shy: Wenn ja, hast du vielleicht eine Idee, wie ich es deutlicher machen könnte?

gruß
vita
:bounce:

 
Zuletzt bearbeitet:

Hi Vita,

jedenfalls bestimmt das Lied Deine Geschichte doch sehr stark - vielleicht eben, weil Du es reflektiert hast. Viele Autoren haben diesen Vorzug der Leidenschaft oder zumindest des Gefühls vor der Vernunft durch eine überraschende nicht-rationale Entscheidung verdeutlicht (Herrliches Bsp.: Hans Erich Nossack: Spätestens im November). Hier wird der Leser förmlich geschockt, will verstehen und wird dann ungewollt fühlen. Dem folgt die Katharsis, die schon aus den Konsequenzen einer solchen "undurchdachten" Entscheidung ergeben. Fazit: Ich glaube, dass nichts passiert und es trotzdem dramatisch sein soll ist das Grundproblem Deiner Geschichte. Es wäre besser, wenn der Leser diese innere Entwicklung durch äußere Handlungen begreifen könnte – Du also einen Moment produzierst, in welchem er unbewusst jene Reinigung einfordert. Fraglich ist, ob dies gelingen kann. Denn nicht umsonst ist das Drama und angelehnte Roman in mehrere Abschnitte unterteilt und der griechische Aufbau eine Steigerung bis zur Anspannung, die gelöst werden muss. Vielleicht muss die Kurzgeschichte sich hier einfach auf einen Aspekt beschränken: die Entwicklung des Problems, die Lösung oder die Krise - jedenfalls nicht alles auf einmal. Man sollte bedenken, dass das Lied die Kürze durch das Hinzukommen von Ton als Emotionsmacher und als Hintergrundatmoshäre kompensieren kann. Du musst diese Atmosphäre erst in Worten herstellen...

 

Hallo vita,
bevor der ganze thread nach Philosophie verschoben werden muss ;) ...
Ich fand diese Momentaufnahme klasse. Konnte auch nicht sehen, dass dort ein Lied reflektiert wird...eher wie die Prot. sich verliebt und sich mit dieser Tatsache der Verstand auf unbestimmte Zeit beurlaubt...diese Katharsis kenn ich zu gut und hab ich wohl chronisch :D

Die poetische Sprache im Wechsel mit angetrunkenen Gedanken -
genial. Ein gelungener Spagat :thumbsup:

Liebe Grüsse
Micha

 

Hallo Zimmerpanther,

vielen Dank für die lieben Worte. Ich sitze hier gerade auf einer Netze, fünf Feiglinge später, und mir gehts guuuut... aber mein Verstand ist noch voll dabei... ;)

Hey das A,

ehrlich gesagt habe ich zu so viel Fachwissen keine kompetente Meinung mehr. Sorry :shy:

gruß
vita
:bounce:

 

Ich finde die Stelle <<„Ich bin betrunken“, warne ich, und er lacht. „Nutz es nicht aus.“ Oh, bitte, bitte, nutz es aus.>> z. B. echt gut. Also überhaupt ist der Schreibstil toll d.h. je mehr man sich von dem Wort K... abregt, desto sympathischer wird das Ganze :thumbsup:

 

Hey das A,

danke fürs Loben. Schön, dass du trotz des bösen Wortes der Geschichte doch noch etwas abgewinnen konntest!

gruß
vita
:bounce:

 

Hallo vita,

als ich deinen Text las, dachte ich, ich hätte falsch in Erinnerung, was Katharsis bedeutet. Ich schlug also im Lexikon nach, später sah ich deine Angaben, die sich mit meinen decken.

Doch z.B. hier verstehe ich die Anwendung des Begriffs nicht:

„Katharsis. Heute hat sie mir die Vernunft aus dem Kopf gebrannt. Was wird auf der nächsten Party sterben?“

Die sittliche Läuterung vertreibt die Vernunft? Es ist doch ein Schritt der Vernunft, sich auf das Sittliche zu besinnen.

Ansonsten beschreibst du die Anspannung, den magischen Taumel sich widersprechender Gefühle recht gut, aber so ein richtiger Klimax (gleich ob für den Prot. angenehm oder nicht) würde der Geschichte gut tun.

L G,

tschüß... Woltochinon

 

Hallo Woltochinon,

danke fürs Lesen und Kritisieren - eine Ehre, ich sehe dich sonst immer nur die Goldene Dame kritisieren ;) Es fällt mir schwer, mir für diesen Text einen wirklichen "Klimax" vorzustellen. Dafür ist die eingefangene Zeitspanne m. E. zu kurz. Vorschläge nehme ich allerdings gern entgegen.

Vielleicht wird immer noch nicht wirklich klar, wie der Begriff der "Katharsis" im Text gemeint ist. Ich werde den letzten Satz jetzt umstellen, dann ist es hoffentlich weniger missverständlich. Die Prot verliert durch das Erleben ihrer Emotionen die "falsch verstandene" Vernunft, die ihrem Kopf weismachen will, dass das, was sie erlebt, nicht richtig ist. In dem Kontext sollte eigentlich alles stimmen - oder? :shy:

gruß
vita
:bounce:

 

Öh ja, was soll man da sagen ? :thumbsup:
Hab kurz die Posts überflogen. Mir ist der Name, bzw. die philosophisch, bzw. psychologische vöölig schnurz. Ich fands einfach nur eine schöne, atmosphärische Momentaufnahme. Genau, so wie ich es mag. Für mich, gab es da zumindest keinen Klärungsbedarf, sondern es ist mehr so ein Traumanstoß. Supi:)

Lg

Thomas

 

Hallo Tommy,

huch, da komme ich ja mit dem Kommentare-Zählen gar nicht mehr nach :shy:
Danke für das Kompliment. Das kommt dabei raus, wenn man versucht, seinen Geschichten Hintergrund zu geben. In Zukunft schreib ich nur noch Momentaufnahmen! Da braucht man auch keinen Plot und nie länger als ne halbe Stunde... :D

gruß
vita
:bounce:

 

Klarer Vorteil. Aber bei mir poltert dann immer so ein kleines Männchen im Hintergrund, dass ich das andere auch mal lernen sollte;).

 

mein Herz in seiner Hand

Hi Vita,

obwohl deine Geschichte nicht auf der Linie der Geschichten liegt, die ich lese (oder auch schreibe) - war ich beeindruckt von der Lebendigkeit deiner Sprache; so wars gar kein Problem, deinen Text zu genießen. Die Katharsis erschließt sich mir allerdings ebenfalls nicht. (Ist für mich eine Befreiung übers Durchleben eines Gefühls).
"Die Leidenschaft, die Leiden schafft" -- würd ich rausnehmen, die Sequenz ist abgegriffen und passt somit nicht dazu.
Ansonsten :thumbsup:
Vielleicht schau ich öfter mal rein!

 

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom