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Katharsis
Katharsis. Nicht die Hölle, aber vielleicht nah dran, jedenfalls genau so warm. Ich brenne.
Die Musik hämmert die Gedanken aus meinem Kopf. Harte, aggressive Bässe reduzieren mich auf meine Grundfunktion. Ich bin ein Schmetterling und fliege durch den Raum. Ich bin ein Regentropfen, der auf den Boden fällt. Ich bin das kitschige Licht, das in Filmen die Rückblende kennzeichnet.
Ich bin aufgelöst, verloren in der Musik und in seinen Augen.
Wir tanzen, zusammen, Berührung, ein Hin und Her in der Musik. Wir sind eins, miteinander, mit den Klängen. Extase. Sünde. Ich werde nicht meine Freiheit aufgeben. Nicht einmal für dich.
Seine Hände streichen im Tanz über mein Gesicht, und obwohl ich mich ihnen entziehen möchte, bin ich gefangen in einem goldenen Käfig aus Alkohol, Musik und Körperlichkeit.
Ich bin ein Sonnenstrahl, der durch die Gitterstäbe schlüpft.
Mein Körper reagiert auf seine Berührung in einer Art und Weise, die mir unangenehm ist und dadurch um so schöner. Ich bin verraten und verkauft, geboren, verloren.
Katharsis. Meine Zurückhaltung bröckelt mit jeder Minute mehr. Bald wird sie ganz verschwunden sein. Als ein Lied kommt, das wir nicht mögen, machen wir eine Pause und stellen uns an den Rand der Tanzfläche. Er legt einen Arm um mich, ich bin nicht mehr ganz sicher auf den Beinen.
„Ich bin betrunken“, warne ich, und er lacht. „Nutz es nicht aus.“
Oh, bitte, bitte, nutz es aus.
Sein Geruch. Nach Schweiß und nach sich selbst. Die Hitze seiner Haut auf meiner. Verbrennen. Ich verbrenne. Schüttle den Kopf, um den Gedanken loszuwerden, vergeblich. Wirres Haar fällt mir in die Stirn. Scheiß-Vernunft.
Ich könnte in dieser Minute sterben. Hier, bei ihm.
„You are the wind beneath my wings“, dröhnt es aus den Boxen. Did you ever know that you're my hero?
Ich liebe ihn. Aber ich will nicht. Ich will nicht. Ich liebe ihn.
Katharsis. Gib mir Flügel aus Papier. Flügel, die nicht zerreißen im Wind. Er ist der Wind unter meinen Schwingen, er trägt mich, ohne ihn bin ich nichts.
Ich lebe nur halb, wenn ich allein bin. Nur er macht mich ganz, wenn ich in seiner Nähe bin. Ich spüre, wie er mich an sich drückt und gebe dem Druck freudig nach. Mein Körper reagiert auf ihn. Ich bin betrunken. Ich will frei sein.
Ich kann sein Herz schlagen hören. Ich liebe. Es tut weh.
Seine Finger pieksen in meine Seite, reißen mich aus meinen Gedanken. Ich höre unser Lieblingslied, ich weiß, wir müssen tanzen. Immer, wenn Lieder dieser Band gespielt werden, sind wir auf der Tanzfläche. Ein Ritual. Als er lächelt, versinke ich in seinen Augen und lasse mich freudig von ihm zur Tanzfläche ziehen.
Ich werde mich immer an diese Nacht erinnern. Seine Finger in meinem Haar, auf meiner Haut, mein Herz in seiner Hand. Und mein Unwillen, köstliches Schaudern, ein Zurückschrecken vor etwas, das vielleicht etwas Unausweichliches ist. Der Verstand gebietet über die Instinkte.
Bis zum Rausch, bis zur totalen Ekstase verliere ich mich im Tanz, seiner Gegenwart stärker bewusst als jemals zuvor. Die Schmetterlinge in meinem Bauch lassen sich vom Hirn nicht zur Ruhe zwingen. Sie fliegen durch die Gegend, nicht einmal die hämmernden Bässe können sie zerschmettern. Sie fliegen durch das Feuer, das in mir lodert.
Ich liebe.