Katzenjammer
Frau Meissner stand mit einem Weidenkorb in der Hand vor der Pfarrei und klopfte energisch an die hölzerne Tür.
„Da!“ sagte sie, stellte den Korb auf die Türschwelle und blickte den öffnendem, verdutzt und überrascht dreinschauendem Pfarrer Wundschuh, einem etwa fünfzigjährigen kahlköpfigen, leicht nach Tabak riechendem Mann, auffordernd an.
„Was ist das?“ fragte Wundschuh und beugte sich über den geflochtenen Korb.
„Die Brut ihres Hermes“ erwiderte sie.
Der Pfarrer stocherte mit seinen Fingern in dem Korb herum, bis er die durch Tücher und Decken versteckten kleinen Kätzchen freigelegt hatte.
„Gut schauen sie aus. Gesund und munter. So putzig.“ Er schmunzelte.
„Weil sie sich an meiner Antoinette satt gefressen haben. Sie haben sie leergepumpt. Bis aufs Blut. Ganz mager sieht sie aus. Aber damit ist jetzt Schluss.“ Sie wedelte mit ihrem erhobenen Zeigefinger vor des Pfarrers Gesicht, um ihren Worten Nachdruck zu verleihen. „Jetzt können Sie die Racker selber weiterfüttern. Mit Milch, mit Brei oder Mäusen. Die fressen alles die kleinen Bastarde.“
Pfarrer Wundschuh war ein gemütlicher Mann in dessen Zuständigkeitsbereich die Verwaltung der kirchlichen karitativen Fonds fiel, sorgte dafür, das Spendengelder für Bedürftige, für karitative Einrichtung, für Kindergartenprojekte oder andere soziale Einrichtungen korrekt und gerecht verteilt und pünktlich ausgezahlt wurden.
Sein Leben war geordnet und folgte einem einfach aber durchaus wirkungsvollem System. Er wollte mit Einzelheiten nicht konfrontiert und belästigt werden. Einzelheiten bedeutenden Schwierigkeiten. Schwierigkeiten führten unweigerlich zu einer Störung des Tagesablaufes und damit seiner Gemütsruhe. Er wünschte sich, dass diese Frau ihren Korb nähme, nach Hause ginge und ihn in Ruhe ließe mit ihrem Katzennachwuchs. Insgeheim ärgerte er sich bereits, die Tür überhaupt geöffnet zu haben.
Er richtete sich auf und sog den Duft von wohligem warmen Apfelkuchen ein, den diese Frau verströmte. Ein angenehmer Geruch, der vermuten ließ, dass sie etwas vom Backen verstünde. Eine unbescholtene Hausfrau vielleicht.
„Ich verstehe nicht ganz, was sie wollen, gnädige Frau“ sagte er, während er entschuldigend seine Arme mit den Handflächen nach oben ausbreitete. „Wirklich ich begreife kein Wort davon. Ich kann mir nur vorstellen, dass diese kleinen putzigen Kätzchen sicher ihre Mutter vermissen.“
„Ganz bestimmt tun sie das!“ schnalzte Frau Meissner zurück. „Aber ihre Mutter, meine Antoinette, vermisst sie sicher nicht. Zaundürr ist sie bereits. Ihre Zitzen sind geschwollen und blutverkrustet. Ständig saugt einer dieser kleinen Bastarde an ihr herum. Sie findet keinen Schlaf. Und warum das alles. Wegen ihres Hermes!“
„Sie meinen unseren Hermes, den Kater, der Pfarrei?“ fragte der verwirrte Pfarrer.
„Ja!“ tönte sie und es kam Wundschuh so vor, als ob sie ihre Worte mit Zement und Mörtel vor ihm aufmauern würde. So unumstößlich war ihr Auftreten.
„Und unser Hermes hat also... Wundschuh zögerte, um die richtigen Worte zu finden, „ also ist sozusagen...“ eine weitere Pause, „der Vater, dieser entzückenden kleinen Kätzchen.“
„Genau! Und ich muss für diese Brut nun sorgen. Muss meiner Antoinette das dreifache verfüttern und den ganzen Dreck dieser Rasselbande wegmachen. Und wöfür das alles?“
„Ah, ich verstehe“, sagte Pfarrer Wundschuh fast erleichtert. „Sie müssen all das ganz alleine bezahlen. Es geht um Geld.“
„Nein!“ diesmal kam ihre Antwort wie ein tonnenschwerer Eisenanker.
„Nein? Worum dann?“ Wundschuh kannte sich nicht aus und die Hoffnung diese Frau mit ihren Kätzchen durch Geld loszuwerden, wäre für ihn fast eine Erlösung gewesen.
„Es sind Bastarde. Ihr Hermes ist kein reinrassiger Kater und noch dazu entstammen diese Bastarde“, sie wedelte abschätzend ihrem Handrücken, „einer unehelichen Verbindung!“
„Liebe Frau. Es sind Tiere“ antwortete Wundschuh entnervt. War das tatsächlich wahr? Diese Person störte seine wichtige Arbeit wegen ein paar unehelicher Katzenkinder. Seine kostbare Zeit, die er der Kirche, dem Wohl der Menschheit und der karitativen Einrichtungen widmete.
„Tiere?“ ihre Stimme schnellte drei Oktaven höher. „Ihr Hermes mag ein Tier sein. Meine Antoinette ist von fürstlichem Blut.“ Sie warf ihren Kopf in die Höhe. „Eine Siamkatze vom Fürstentum Metternich.“
„Der Sektkellerei Metternich?“ fragte Wundschuh und betete bei sich zu Gott, ermöge Erbarmen mit ihm haben und ihn von dieser Frau erlösen. Er nahm einen tiefen Atemzug und der warme Dunst von Apfelkuchen stieg ihm erneut in die Nase. Es war da einzige positive, was er der Frau abgewinnen konnte, obwohl er als Pfarrer von Nächstenliebe beseelt sein sollte, wünschte er sich nichts mehr, bei dieser Frau eine Ausnahme machen zu dürfen.
„Genau. Dachte ich’s mir doch. Mit Wein und Sekt kennen sich Kirchenmänner aus“ schnarrte sie.
„Vorsicht gute Frau“ hub er an. Seine Stimme nahm den dunklen Ton der Autorität an. „Mit Höflichkeit und Interesse habe ich mich ihrer Sorgen angenommen, habe ein offenes Ohr gehabt. Aber nun“ er nutze die Atempause, um sie fast etwas drohend einzusetzen. „Aber was genug ist genug. Ob nun Katze von höherer Abstammung oder Kater aus niederer Abstammung. Vor Gott, gute Frau“, er setzte eine erneute Pause, um noch wirkungsvoller zu erscheinen. „Vor Gott sind wir und auch diese Katzen letztendlich doch alle gleich!“ Bei seinen letzten Worten verfärbte sich seine Stimme wieder in einen freundlichen, warmen, fast versöhnlichen Ton. Er hoffte sie mit seiner kleinen Predigt überzeugt und zurecht gestutzt zu haben.
„Ach ja?“ feuerte sie zurück. „Vor Gott sind alle gleich. Und was ist mit Beischlaf vor der Ehe? Na, was ist damit. Wie sieht Ihr Hermes das? Was sagt denn der Papst dazu?“ Sie richtete sich plusternd auf.
Pfarrer Wundschuh wusste nichts mehr zu sagen. Die Diskussion steuerte in eine Richtung, die nicht mehr zu kontrollieren war. Uneheliche Katzenkinder. Was kam als nächstes? „Er zwang sich zu einer höflichen Rede. „Ich kann ihnen leider nicht weiterhelfen, außerdem warten auf mich Geschäfte, die ich nicht länger warten lassen kann.“ Er setzte zu einer leichten Kopfverbeugung an, um sich zu verabschieden, als Frau Meissner sich, feuerwerksartig entlud.
„So, da haben wir es! Kirchensteuern eintreiben und sonntags den Klingelbeutel herumreichen. Wasser predigen und Wein saufen.“
Mittlerweile hatten sich, sehr zum Missfallen des Pfarrers, einige Passanten eingefunden, die von Neugier angezogen stehen blieben und näher kamen.
„Und nun zu allem Übel. Meine Antoinette...“ ein kurzes Schluchzen mischte sich, recht überzeugend übrigens, wie Pfarrer Wundschuh meinte, unter ihre Worte. „Meine geliebte Antoinette, von einem Angehörigen dieser Pfarrei geschwängert und sie versuchen sich um die Verantwortung zu drücken. Was soll meine Antoinette denn tun? Die Bälger durchfüttern, sich aufzehren lassen?“ Wundschuh nahm eine Veränderung in dem Duft von Frau Meissners wahr. Der Apfelkuchen roch jetzt leicht säuerlich und verdorben. Oder schlängelte sich der beißende störende Duft etwa aus dem Katzenkorb herauf?
„Gute Frau“ hub Wundschuh noch einmal beschwörerisch an.
„Nichts da!“ schmetterte sie. „Sie kümmern sich um den Nachwuchs und das ist mein letztes Wort.“ Wie Eisenbahngleise lag der letzte Satz zwischen ihnen beiden. Pfarrer Wundschuh nahm die Entrüstung der umstehenden Passanten und Schaulustigen wahr. Aus ihren Augen schossen kleine spitze Pfeile. Es war, als ob sein Ansehen empfindlich verletzt wurde. Noch während er versuchte sein herumstehendendes Publikum mittels religiös freundlichen Blicken einigermaßen zu beruhigen, drehte sich Frau Meissner um und schritt davon, ohne sich einmal umzudrehen.
Im gleichen Augenblick begannen die Katzenkinder, wie auf ein geheimes Kommando hin, alle gemeinsam zu schreien und zu jaulen. Die erschreckende Ähnlichkeit dieses Katzenjammers mit dem Geschrei eines Säuglings, veranlasste Pfarrer Wundschuh dazu, ohne zu zögern, den Korb aufzuheben und ihn hineinzutragen, bevor die zuschauenden Passanten, die nun eher einer Hinrichtungsprozession glichen, ihn mit verdammenden Blicken bedachten oder sogar auf die Idee kamen ihn zu steinigen.
Wundschuh schloss eilig die Tür hinter sich.
Der Katzenjammer steigerte sich. Die kleinen Bastarde, wie Frau Meissner sie genannte hatte, waren hungrig und da er, Pfarrer Wundschuh, Verwalter des karitativen Fonds der katholischen Kirche, sich zwar mit den finanziellen Zuwendungen der Kirche an das örtliche Tierheim auskannte, aber nicht so weit gegangen wäre zu behaupten, sich deswegen mit der Ernährung von Katzenbabys auszukennen, tat das einzig Richtige und brachte den Korb mit den sich nun nachdrücklich beklagenden Katzennachwuchs in die Küche zu Frau Hutscherer, der Köchin und guten Seele der Pfarrei.
Die Köchin, die sich des Pfarrers Geschichte um Frau Meissner, Antoinette, den Pfarrkater Hermes und der kreischenden Katzenjungen mit aufrichtiger Anteilnahme anhörte und dann und wann, wenn der Pfarrer Wundschuh die ein oder andere Stelle seiner Erzählung besonders hervorhob und sich empörte, mitfühlend zu ihm aufschaute, entschied sich schon allein aus ihrer Christenpflicht heraus, die Katzenkinder zu versorgen und, um das mittlerweile sehr aufgewühlte Nervenkostüm des Herrn Pfarrer zu schonen, ihm zu verheimlichen, dass der Kater Hermes schon seit Jahren kastriert war.